„Das Risiko für Mobbing steigt immer da, wo ich anders bin“

Was können Eltern tun, wenn ihr Kind gemobbt wird? Entwicklungspsychologe Prof. Dr. Michael Kaess und Marek Fink geben Antworten.

Ein Mädchen schaut unglücklich und fühlt sich ausgeschlossen, weil Klassenkameradinnen in der Schule hinter ihrem Rücken über sie reden.
Mobbing oder ein "normaler" Streit unter Kindern? Das kann man anhand von drei Kriterien feststellen. © zoranm/GettyImages

Jedes sechste Schulkind leidet laut einer Umfrage der Techniker-Krankenkasse unter Mobbing. Vermehrt geschieht das auch im Internet: Mehr als die Hälfte der 14- bis 17-Jährigen haben Erfahrung mit Cyberbullying, 16 Prozent als Opfer. Expertinnen und Experten warnen vor den Folgen für die Psyche – Betroffene entwickeln Schulprobleme, Ängste, Schlafstörungen oder Depressionen.

Über Mobbing bei Kindern und Jugendlichen sprach Psychologie Heute-Chefredakteurin Dorothea Siegle mit Professor Dr. med. Michael…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

Jedes sechste Schulkind leidet laut einer Umfrage der Techniker-Krankenkasse unter Mobbing. Vermehrt geschieht das auch im Internet: Mehr als die Hälfte der 14- bis 17-Jährigen haben Erfahrung mit Cyberbullying, 16 Prozent als Opfer. Expertinnen und Experten warnen vor den Folgen für die Psyche – Betroffene entwickeln Schulprobleme, Ängste, Schlafstörungen oder Depressionen.

Über Mobbing bei Kindern und Jugendlichen sprach Psychologie Heute-Chefredakteurin Dorothea Siegle mit Professor Dr. med. Michael Kaess, Direktor und Chefarzt der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der UPD Bern, und Marek Fink, dem Gründer des Vereins Zeichen gegen Mobbing e. V. In dem 90-minütigen Live-Talk konnten nicht alle Fragen der Zuschauerinnen und Zuschauer beantwortet werden. Wir haben die häufigsten Chat-Fragen zusammengefasst und sie den beiden Experten im Nachgang gestellt – hier sind ihre Antworten.

Definition und Abgrenzung: Was ist Mobbing?

Herr Kaess, können Sie für unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer noch einmal kurz zusammenfassen, wie man „normale“ Streitigkeiten unter Kindern und Jugendlichen von Mobbing unterscheiden kann?

Kaess: Man kann Mobbing anhand von drei Kriterien feststellen: Bei Mobbing muss zunächst eine absichtliche, beziehungsweise zielgerichtete Aggression vorliegen, im Gegensatz zu unbeabsichtigten körperlichen und seelischen Verletzungen. Das zweite Kriterium ist ein häufiges Auftreten und zeitliches Überdauern der Konfliktsituation. Demgegenüber stünde zum Beispiel eine einmalige Rauferei im Streit – das ist nicht gut, aber kein Mobbing. Und drittens gibt es beim Mobbing ein Ungleichgewicht der Kräfte. Wenn sich gleich starke oder „mächtige“ Kinder oder Cliquen regelmäßig streiten, wäre das kein Mobbing. Erst wenn alle drei Aspekte gegeben sind, sprechen wir von Mobbing.

Mobbing erkennen: Tipps für Eltern, Lehrkräfte und Kinder

Herr Fink, mit Ihrem Verein „Zeichen gegen Mobbing e. V.“ sensibilisieren Sie an Schulen zum Thema Mobbing. Wie können Lehrerinnen, Eltern und Kinder Mobbing frühzeitig erkennen und entsprechend handeln?

Fink: Lehrkräfte können die Gruppendynamik der Klasse im Blick behalten und sollten auf wiederholte Ausgrenzung sowie abwertendes Verhalten immer reagieren. Hier wünsche ich mir von den Lehrern einen regelmäßigen Austausch mit den Schülerinnen und Schülern und dem Kollegium. Denn es gibt Lehrkräfte, die können ausgrenzendes Verhalten leichter beobachten als andere, zum Beispiel im Sportunterricht.

Eltern sollten auf Verhaltensänderungen ihres Kindes achten. Es kann zum Beispiel sein, dass das Kind sich zurückzieht, Schlafstörungen hat, in verschiedenen Situationen eine ungewohnt aggressive Reaktion zeigt, die es vorher nicht gab, oder sich die Schulleistungen merklich verschlechtern. Wenn sie ihr Kind aufmerksam beobachten, haben Eltern einen Anlass, das Gespräch zu suchen.

Zu Kindern würde ich sagen, dass sie ihre eigenen Gefühle ernst nehmen dürfen und bei Unwohlsein mit Vertrauenspersonen sprechen sollen. Und ich würde ihnen deutlich machen, dass sie auf jeden Fall eingreifen dürfen, wenn sie beobachten, dass Mitschüler seelische oder körperliche Gewalt erfahren.

Mobbing schon in der Grundschule

Eine Teilnehmerin berichtete, dass ihr Sohn in der Grundschule drei Jahre lang gemobbt wurde. Die Klassenlehrerin vertrat die Meinung, dass es Mobbing in der Grundschule nicht gebe, sondern erst ab der weiterführenden Schule. Was würden Sie der Lehrerin sagen?

Fink: Dass sie falsch liegt! Es gibt Studien, die ganz klar zeigen, dass Mobbing auch in Grundschulen stattfindet. Und abgesehen von der Schulart: Zu behaupten, dass es kein Mobbing an der eigenen Schule oder in der eigenen Klasse gibt, heißt immer, dass man die Augen vor einem Problem verschließt, das nun einmal existiert, und zwar Tag für Tag für die Betroffenen.

Was können Eltern in einem solchen Fall tun?

Fink: Generell empfehle ich, eine externe Beratungsstelle einzubeziehen, mit der man gemeinsam bespricht, was sinnvolle nächste Schritte sind, um eine Lösung herbeizuführen.

Täter und Betroffene: Warum mobbt mein Kind andere? Warum wird mein Kind gemobbt?

In welchem Alter fängt Mobbing auf Täterseite an?

Kaess: Da es ab dem Grundschulalter Mobbing-Opfer gibt, muss es ab diesem Alter auch Täter beziehungsweise Mobbende geben. Mobbing ist ein Gruppenphänomen und es gibt keine Opfer ohne Täter – und umgekehrt. Eine Sache fällt aber auf: Opferzahlen nehmen bei Mobbing mit zunehmendem Alter eher ab, während die Anzahl der Täter stabil bleibt.

Ist es ein Stück weit Zufall, warum ein Kind zum Mobbenden wird, oder kennen Sie ein „Muster“?

Fink: Zufall ist vielleicht das falsche Wort. Denn es gibt auf jeden Fall Dinge, die Einfluss darauf haben, ob ein Kind gemobbt wird oder ob es zum Täter oder zur Täterin wird. Viele Mobbende beobachten Verhaltensmuster in ihrer Umgebung, zum Beispiel in der Familie, im Freundeskreis oder in Medien, und setzen diese anschließend selbst ein. Noch häufiger ist es so, dass Kinder eigene Unsicherheiten und ein geringes Selbstwertgefühl kompensieren, indem sie andere abwerten. Aus Einzelgesprächen mit Lehrkräften weiß ich, dass es Mobbenden oft an Empathie fehlt und es ihnen schwerfällt, eine andere Perspektive einzunehmen.

Welches Ziel verfolgt ein mobbendes Kind mit seinen Taten, beziehungsweise was ist seine Motivation?

Kaess: Wir unterscheiden verschiedene Funktionen von Mobbing: Zunächst hat es eine soziale Funktion. Mobbing dient der Identifikation einer Gruppe durch Ausgrenzung von Personen und kann den Gruppenzusammenhalt stärken – den Spruch „ein gemeinsamer Feind verbindet“ haben viele sicher schon einmal gehört.

Weiterhin steckt hinter Mobbing eine Normierungsfunktion, die ursprünglich aus dem Tierreich stammt. Bei Tieren ist das Ziel, andere Mitglieder der Herde dazu zu bewegen, dass sie sich herdenkonform verhalten oder sie alternativ abzustoßen. Diese Neigung ist in der menschlichen Natur in Teilen erhalten.

Außerdem steigert die Ausübung von Mobbing die Macht eines Individuums in der Gruppe. Die mobbende Person bekommt oftmals Zustimmung der eigenen Gruppe, Anerkennung oder gar Applaus, wodurch sie sich gut und wichtig fühlt.

Herr Fink, kennen Sie die Hintergründe und Beweggründe Ihrer Täter von damals?

Fink: Der eine hatte ein sehr strenges Elternhaus und in der Schule sehr viel mehr Freiräume. Diese hat er genutzt, um sich seine Position in der Schule zu erarbeiten und Macht auszuüben, was er zuhause nicht konnte. Der andere hatte ein geringes Selbstwertgefühl und empfand es als leichter, mich fertig zu machen, als selbst fertiggemacht zu werden.

Sie wollen noch mehr Informationen und Hintergünde zum Thema Mobbing? Im Psychologie Heute Live-Talk spricht Marek Fink auch über seine persönliche Mobbing-Erfahrung als Kind. Die Video-Aufzeichnung der 90-minütigen digitalen Veranstaltung finden Sie hier.

Wann oder wodurch ist ein Kind besonders anfällig dafür, gemobbt zu werden?

Kaess: Es geht immer um eine Abweichung von der Norm. „Es kann jeden treffen“ stimmt insofern, als dass sich die Normen und Einstellungen zu einer Eigenschaft in der Gesellschaft oder innerhalb einer bestimmten Gruppe immer verändern können. Das Risiko für Mobbing steigt immer da, wo ich anders und außerhalb der aktuell gerade gültigen Norm bin, und es besteht für jede und jeden, aber umso mehr, je deutlicher oder häufiger die Abweichung von der Norm ist.

Zum Beispiel, wenn ich Person of Color bin in einer weiß dominierten Gesellschaft. Ein weiteres großes Thema sind LGBTIQ+-Jugendliche und konkret zum Beispiel junge Menschen, die ihre Homosexualität offen leben. In unserer Gesellschaft gilt die heterosexuelle Norm immer noch als die häufigste Variante der Sexualität. Gerade bei Jugendlichen ist man mit einer anderen Sexualität nicht mehr normativ und wir wissen, dass diese Jugendlichen oft sehr stark gemobbt werden. Mobbing ist übrigens ein wichtiger Grund, warum LGBTIQ+-Personen statistisch häufiger psychisch erkranken.

Es ist interessant, sich einmal anzuschauen, wie sich die Gesellschaft entwickelt hat: Über zwei Jahrzehnte meiner beruflichen Laufbahn durfte ich viele Diversitätsbemühungen erleben, doch in den letzten zwei oder drei Jahren bin ich sehr überrascht, wie aus Diversität „Wokeness“ wurde. Da habe ich auf jeden Fall Sorge beim Thema Mobbing und was das mit dem Sozialgefüge unserer westlichen Gesellschaften macht. Ich versuche, das als Wissenschaftler möglichst nicht zu bewerten, aber je mehr man in einer Gesellschaft Normierung betreibt, desto mehr wird man einen Nährboden für Mobbing säen.

Umgang mit Täterinnen und Tätern

Als Lehrkraft oder Elternteil ist man oft nicht dabei, wenn gemobbt wird, vor allem, wenn die Täter geschickt vorgehen. Wie sollte man mit der Rechtfertigung von Täterinnen à la „Der hat aber angefangen“ oder „Der provoziert uns“ umgehen?

Fink: Man sollte generell auf Schuldzuweisungen verzichten und seinen Blick auf die Zukunft und auf eine Lösung richten. Wir müssen verstehen, warum Kinder andere Kinder mobben, aber in einer einzelnen Situation muss man nicht jegliches Motiv kennen oder jede Schilderung der betroffenen Person im Einzelnen prüfen. Besonders als Elternteil will man natürlich handeln, wenn das eigene Kind gemobbt wird, aber anstatt den Blick zu stark in die Vergangenheit zu richten, sollte die Zukunft im Fokus sein.

Hört Mobbing auf, wenn man den (Haupt-)Tätern die Machtposition „wegnimmt“, weil die Mitläuferinnen und Mitläufer dann nicht mehr so bereitwillig mitmachen?

Fink: Mobbing entsteht häufig aus ungesunden Gruppendynamiken heraus. Die Rolle der mobbenden Person oder Personen allein zu thematisieren, reicht aus meiner Erfahrung nicht, um eine Mobbingsituation zu lösen. Dazu braucht es auch diejenigen, die mitmachen oder still beobachten. Dennoch kann es einen Einfluss auf die Gruppendynamik haben, wenn sich die Zusammensetzung der Gruppe ändert. Ich würde die Frage deswegen nicht klar verneinen, aber sehe eine langfristige, nachhaltige Strategie eher darin, mit der Klasse oder einem Teil der Klasse an einer Lösung zu arbeiten.

Was Schulen gegen Mobbing tun können

Welche Handhabe haben Eltern, wenn die Schule ihre Kinder nicht schützt – und stattdessen Tipps gibt, wie „Schicken Sie Ihr Kind in einen Selbstverteidigungskurs, damit es sich besser behauptet“ oder Victim Blaming betreibt und sagt „Wenn ihr Kind nicht da ist, ist das eine total harmonische Klasse“?

Fink: Dass Schulen nicht adäquat handeln, erleben wir leider immer wieder. Der erste Schritt wäre trotzdem, das direkte Gespräch mit der Lehrkraft zu suchen, danach mit der Schulleitung und, wenn vorhanden, mit der Schulsozialarbeit. Eltern sollten versuchen, das Problem sachlich zu schildern. Dabei können gewaltfreie Kommunikation und Ich-Botschaften hilfreich sein. Ich empfehle, erst die eigene Wahrnehmung zu spiegeln und dann konkrete Maßnahmen zu fordern, denn die Schule ist in der Verantwortung. Eine schriftliche Dokumentation von Vorfällen kann hilfreich sein. Wenn das alles nichts hilft, ist die nächste Instanz die jeweilige Schulaufsichtsbehörde. Die Prozesse laufen dort allerdings oftmals zäh ab. Deswegen lautet mein Appell an alle betroffenen Eltern, eine Beratungsstelle aufzusuchen, um eine schnellere Lösung zu finden, als den formalen – und langen – Weg zu gehen.

Eine Lehrerin möchte ein Mobbing-Präventionsprogramm an ihrer Schule einführen. Wie kann sie vorgehen?

Fink: Ich empfehle Lehrerinnen und Lehrern, mit einer Bedarfsanalyse zu starten. Dabei können sie sich fragen: „Welche Hinweise auf Mobbing-Situationen an unserer Schule gibt es?“ Wenn man etwas feststellt, weiß man, dass es definitiv Handlungsbedarf gibt. Und wenn man zu dem Ergebnis kommt: Hier gibt es kein Mobbing, kann man sich sicher sein, dass man etwas übersieht. Im Anschluss würde ich mit anderen Schulen in der Umgebung in Kontakt treten und mich mit diesen darüber austauschen, wie diese mit Mobbing-Prävention umgehen und welche Programme und Tools sie nutzen.

Bei der Auswahl eines Präventionsprogramms sollte man darauf achten, dass es wissenschaftlich fundiert ist und praxisnahe Ansätze verfolgt. Gute Einblicke geben Wirkungsberichte, die seriöse Anbieter auf ihrer Website veröffentlichen. Bevor man ein Programm für zwanzig Klassen bucht, empfehle ich, ein oder auch zwei Programme erstmal mit einer Klasse zu testen. Mobbing-Prävention wird nicht funktionieren, wenn ich für einen Tag einen externen Anbieter in die Klassen hole, sondern nur wenn die erarbeiteten Strukturen in den Alltag integriert werden.

Herr Kaess, welche wichtigen Stellschrauben sehen Sie beim Thema Mobbingprävention neben dem, was die Schulen tun können?

Kaess: Wir reden viel davon, was Eltern und natürlich auch Schule und Lehrkräfte tun können. Aber Prävention, vor allem von schweren sozialen Risikofaktoren, braucht Verantwortung auf politischer Ebene. Wir reden so viel über die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen – spätestens seit der Covid19-Pandemie – und wie sie sich verschlechtert hat. Wir reden darüber, wie wir die Kinder- und Jugendpsychiatrie immer mehr ausbauen. Aber wenn es um das Thema Prävention geht, wird zwar geredet, aber Geld gibt es dafür nicht. Stattdessenn verlassen wir uns auf die individuelle Motivation und Fähigkeiten von Einzelinitiativen.

Was mir fehlt und ich mir sehr wünsche, ist eine politische, ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema, und politischer Wille drückt sich durch Finanzflüsse aus. Sonst sind die Bemühungen von mir und Herrn Fink zwar schön, aber es gibt keine Verankerung des Themas in irgendeiner Leitlinie, einem Finanztopf oder einem System. Stellen Sie sich mal vor, das wäre mit einer anderen körperlichen Erkrankung so. Dabei ist die Wirksamkeit von Mobbingprävention längst nachgewiesen, genauso wie der langfristige sozioökonomische Nutzen.

Bei Klassenfahrten ist die folgende Situation ein Klassiker: Es stellt sich die Frage nach der Aufteilung auf die Zimmer und wer bei wem schläft. Kindergruppen finden sich, es wird abgestimmt. Das Ergebnis: Ein Kind darf nicht mit aufs Zimmer. An ähnliche Situationen erinnern sich viele aus dem Sportunterricht, wenn Teams gewählt werden und das eine Kind immer übrigbleibt. Sollten Lehrkräfte solche Situationen gar nicht erst entstehen lassen?

Fink: Wenn sich diese Dynamik entwickelt hat, gibt es nicht das eine Rundum-Schutz-Programm. Wenn eine Lehrkraft so etwas beobachtet, muss sie danach handeln. Das heißt konkret: Wenn die Sportlehrerin oder -lehrer beobachtet, dass ein Kind bei Wahlen immer übrig bleibt, kann sie zum einen die Information an die Klassenleitung weitergeben – denn daraus lässt sich etwas für das Klassenklima ableiten. Als Sportlehrerin kann ich außerdem konkrete, einfache Maßnahmen direkt umsetzen und zum Beispiel das Kind, das sonst beim Wählen der Teams immer zurückbleibt, als erstes wählen lassen. Aber bitte nur, wenn sich die Person damit wohlfühlt.

Schulwechsel wegen Mobbing

Das Thema Schulwechsel bei Mobbing wurde im PH Live-Talk häufig nachgefragt. Können Sie Ihre Sichtweise dazu einmal zusammenfassen?

Fink: Ein Klassen- oder Schulwechsel ist bei Mobbingfällen oft die erste Reaktion von Eltern, aber das halte ich für ein Problem. Es kann ein Weg sein, aber aus meiner Sicht nur der allerletzte. Schulwechsel heißt nämlich, dass ich den Betroffenen die Erfahrung wegnehme, die Situation lösen zu können. Und eins muss klar sein: Die Auffälligkeit, wegen der ich gemobbt wurde, verschwindet nicht, weil ich die Klasse wechsle.

Hinzu kommt, dass ein Schulwechsel meist nicht von heute auf morgen geht. In der Zeit zwischen den zwei Schulen leidet der Selbstwert des Kindes weiter. Nach dem Schulwechsel ist es wieder der oder die Neue in der Klasse und das ist ohnehin schon schwer, auch wenn keine Mobbingerfahrung vorausgegangen ist. Insofern besteht ein nicht zu vernachlässigendes Risiko dafür, wieder gemobbt zu werden. Aus meiner Praxis sehe ich den schnelleren und sichereren Lösungsweg in der Umsetzung von Interventionsansätzen in der jeweiligen Klasse. Diese Ansätze sind nicht immer schon in der Schule bekannt. Aber das lässt sich ändern – zum Beispiel mit der Unterstützung unseres Vereins.

Kaess: Insgesamt habe ich bei dem Thema Schulwechsel eine etwas andere Meinung als Herr Fink, was daran liegen kann, dass ich Mobbing vor allem durch die Brille der bereits dadurch psychisch Erkrankten sehe. Meine Realität als Direktor einer großen Kinder- und Jugendpsychiatrie ist eine andere als seine: Da sind bereits schwer psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche, die teilweise über Jahre in ihrer Schule oder Klasse schwer gemobbt wurden und wo sämtliche Versuche, eine Unterstützung der Schule zu erhalten, gescheitert sind. Bei weitem nicht jede Schule hat das Thema Mobbing auf der Agenda. Völlig entgegen jeglicher Statistik habe ich Aussagen von Schulleitern gehört, die sagen: „Sowas wie Mobbing gibt es bei uns nicht!“ Aber es gibt keine mobbingfreie Schule, das ist aus meiner Sicht unmöglich.

Wenn mein Kind aufgrund von andauerndem schwerem Mobbing psychisch erkrankt wäre und ich bereits Versuche unternommen hätte, das Ganze an der Schule zu beenden, und es wäre gescheitert, würde ich mein Kind von der Schule nehmen und es wechseln lassen. Wenn die Schule des Kindes schon Mobbingprävention betreibt, würde ich sagen, dass das Kind nicht unbedingt die Schule wechseln muss, weil man sich dort immerhin schon mit dem Thema auseinandersetzt und versucht, das Richtige zu tun.

Ich kenne viele Fälle, wo Kinder die Schule gewechselt haben, und das Mobbing war vorbei und es hat nicht wieder angefangen, weil sie von der alten Dynamik befreit waren. Meine Empfehlung für Eltern lautet, den Schulerhalt zu versuchen, aber wenn sie nicht weiterkommen, das Kind die Schule wechseln zu lassen.

Was empfehlen Sie Eltern, wenn das vom Mobbing betroffene Kind darüber nicht reden, aber die Schule wechseln möchte?

Kaess: Ich würde von meinem Kind erwarten, dass es mir zumindest plausibel erklärt, warum es die Schule wechseln möchte. Wenn es das macht, rate ich Eltern, die Grenzen des Kindes zu respektieren und es nicht zu verpflichten, von jedem einzelnen Vorfall zu erzählen. Aber ich würde schon verstehen wollen, woher der Wunsch kommt. Das kann man seinem Kind so erklären, dass es die Erziehungsberechtigten zumindest so viel teilhaben lassen muss, dass diese seine Intensionen und Wünsche verstehen können. Was ich aber ganz deutlich sagen möchte: Ich würde mein Kind nicht in einen Klärungs- und Lösungsprozess in der aktuellen Schule zwingen, wenn es das nicht will.

Kann ein Kinderpsychologe oder eine Tagesklinik dabei helfen, das Kind zum Sprechen zu bewegen?

Kaess: Nein, und das ist die völlig falsche Herangehensweise. Diese Instanzen sind für die Behandlung psychischer Erkrankungen da und nicht für das Reden über Mobbing. Wenn das Kind psychisch krank ist, muss es in Behandlung, und wenn Mobbing im Rahmen der Behandlung Thema wird, ist das gut. Aber wir können nicht anfangen, Kinder in Kliniken einzuweisen, damit sie über Mobbing sprechen. Der Grund der Zuweisung zu medizinischen Fachpersonen ist ganz klar das psychische Krankheitssymptom, zum Beispiel eine Depression oder Angststörung.

Herr Fink, Sie haben im PH Live-Talk berichtet, dass Ihre Mobbingerfahrungen mit einem Schulwechsel endeten – auch wenn der Grund für den Schulwechsel ein anderer war. Sie erzählten von einem Schlüsselerlebnis im Sportunterricht an der neuen Schule und einem Lehrer, der sehr sensibel und motivierend mit Ihnen umging. Haben Sie Tipps für Lehrkräfte, wie sie bewusst dafür sorgen können, dass ein Kind, das nach Mobbing an ihre Schule kommt, dort gut aufgenommen und nicht wieder gemobbt wird?

Fink: An meiner neuen Schule wusste damals niemand, dass ich in der Vergangenheit gemobbt worden war, und ich habe das nie erzählt. Es gab natürlich einige Indizien, die darauf schließen ließen, zum Beispiel, dass ich kaum geredet habe, wenn ich angesprochen wurde, und allgemein sehr unsicher aufgetreten bin.

Wenn die Lehrerin oder der Lehrer wissen, dass das Kind eine Mobbing-Vergangenheit hat, kann es sinnvoll sein, ein Gespräch mit der ehemals betroffenen Person zu führen. Hier geht es vor allem darum, ein Signal zu senden und eine gute Atmosphäre zu schaffen: „Ich kenne deine Situation, ich bin für dich da und werde einen besonderen Blick auf dich haben. Du kannst jederzeit zu mir kommen.“

Ansonsten kann die entsprechende Klassenleitung das Kind freundlich und ohne zu großes Aufsehen in die Klasse einführen. Bei mir gab es damals eine Art Buddy-Prinzip, was mir sehr geholfen hat. Das heißt, dass ich einen Mitschüler als Ansprechperson hatte, der mich unterstützen sollte und Verantwortung übernehmen konnte. Das war in meinem Fall nicht der empathischste Mitschüler, sondern der, der am meisten Randale in der Klasse gemacht hat. Aber es hat mir und ihm offensichtlich gutgetan und wir sind bis heute befreundet. Bei der Frage, ob solche Buddy-Systeme sinnvoll sind, gehen übrigens die Sichtweisen auseinander.

Ansonsten können regelmäßige Check-ins mit dem Kind sinnvoll sein, bei denen man erfragen kann, wie es ihm bisher ergangen ist. Daneben können Lehrerinnen und Lehrer bewusst gemeinsame Aktivitäten der Klasse fördern, um den Zusammenhalt zu stärken, und die Eltern einbeziehen, um negative Entwicklungen frühzeitig zu erkennen, falls sie entstehen.

Eine Teilnehmerin arbeitet als Erwachsenentherapeutin und berichtet, dass sie es in ihrem Arbeitsalltag oft erlebt, dass Patienten berichten, in Kindheit und Jugend nach und trotz Schulwechsel erneut gemobbt worden zu sein. Das hätte ihren Selbstwert noch mehr erschüttert, nach dem Motto: „Das kann ja kein Zufall sein. Mit mir stimmt wohl wirklich etwas nicht!“ Wie geht man mit diesem Risiko um?

Kaess: Das Risiko hat man. Man kann nicht jedes Risiko vollkommen von der Hand weisen. Es ist eine Denkfalle, wenn man lieber keinen neuen Versuch machen will, weil es wieder scheitern könnte. Wenn man so risikoaversiv ist, dass man lieber nichts gegen ein Problem unternimmt und es nicht an einer anderen Schule probieren will, weil man meint, dass es noch schlimmer wird, wenn man dort erneut scheitert, steckt man eigentlich schon in der Pathologie, das heißt in einer krankhaften Verhaltens- oder Denkweise.

Was kann man im Fall eines Schulwechsels vorsorglich tun, damit an der neuen Schule mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit kein Mobbing passiert?

Kaess: Man kann sich natürlich über die verschiedenen Optionen und Schulen informieren und bewusst überlegen, auf welche Schule man sein Kind wechseln lassen sollte. Zum Beispiel können Eltern sich bewusst erkundigen, ob eine Schule ein Mobbing-Präventions-Konzept hat oder welche Bestrebungen es für ein gutes Schulklima gibt. Ich würde schauen, dass mein Kind auf eine Schule kommt, auf der zumindest die Chancen relativ groß sind, dass man dort gut mobbingpräventiv arbeitet. Man kann das Thema natürlich im Vorfeld offen bei der Schulleitung ansprechen und in den Dialog gehen.

Tipps für Eltern: Was können Eltern tun, wenn ihr Kind gemobbt wird?

Wenn Eltern gerade erfahren haben, dass ihr Kind gemobbt wird und sich fragen „Was kann ich tun?“ – was ist aus Ihrer Sicht die richtige Vorgehensweise?

Fink: Wenn die Eltern wissen, dass das Kind gemobbt wird, ist die schwierigste Hürde schon geschafft. Dann gilt es, Ruhe zu bewahren, zuzuhören, Empathie auszudrücken und die Probleme des Kindes ernst zu nehmen. Eltern sollten ehrlich abwägen, wie viel Wissen sie über mögliche und sinnvolle nächste Schritte bei Mobbing haben und ob sie damit allein bleiben oder sich Hilfe holen wollen bei schulischen oder außerschulischen Beratungsstellen, um sich die nächsten Schritte aufzeigen zu lassen und an einer Lösung in der Schule zu arbeiten.

Natürlich kann ich viele Dinge nennen, die ansonsten immer wichtig sind: die Stärken des Kindes fördern, ein positives Umfeld schaffen und sein Selbstbewusstsein stärken. Aber die Lösung des Mobbing-Problems ist in diesem Moment am wichtigsten. Wenn ich feststelle oder allein vermute, dass mein Kind gemobbt wurde, sollte ich sofort handeln.

Kaess: Erstmal sollten Eltern ihren Kindern zuhören und signalisieren, dass sie verstehen wollen. Der Fehler, den die meisten Erwachsenen machen, ist, dass sie sofort handeln wollen und in die Lösungsfindung gehen. Das fühlt sich für die Kinder oft fürchterlich herabwertend an. Aus der Sicht der Kinder ist es nämlich so: Sie packen nach langem Leidensweg aus, was alles passiert ist, und von den Erwachsenen kommt nur ein aus Kindersicht subjektiv empfundener, lapidarer Lösungsvorschlag. Da ist es wenig verwunderlich, wenn viele Kinder sich denken: „Denen erzähle ich nie wieder was, die verstehen mich ja gar nicht!“ Deswegen sollten Eltern Vertrauen aufbauen, und wenn beim Kind angekommen ist, dass die Eltern wirklich wissen wollen, wie es ihm geht und was da los ist, erst dann sollte ein gemeinsamer Lösungsvorschlag erarbeitet werden. Und zwar wirklich gemeinsam und nicht so, dass die Erwachsenen beschließen, was gemacht wird.

Was ich gerade beschrieben habe, kann für viele Eltern sehr herausfordernd sein, denn wenn das eigene Kind bedroht ist, löst das eine Art Handlungsimpuls aus, und diesen Impuls zu kontrollieren, fällt den meisten Eltern schwer.

Wenn wir einmal den umgekehrten Fall annehmen und Eltern feststellen müssen, dass ihr Kind andere Kinder mobbt – haben Sie da Handlungsempfehlungen?

Fink: Auch solche Fälle haben wir in unserer Beratung. Die Vorgehensweise unterscheidet sich gar nicht so sehr von der auf Betroffenenseite, denn bei Mobbenden stecken ähnliche Bedürfnisse hinter deren Handlungen, wie sie sich bei Betroffenen aus der Situation heraus entwickeln können. Eltern sollten dem Kind zuhören, Vorwürfe und impulsive Reaktionen vermeiden und versuchen, ein offenes Gespräch zu führen. Dabei ist es wichtig, die Bedürfnisse des Kindes herauszufinden und die Lösung darauf abzustimmen. Natürlich sollten Eltern ganz klar Stellung beziehen, die Auswirkungen des Handelns erklären und dem Kind helfen zu verstehen, wie sein Verhalten andere verletzt. Helfen können dabei Beispiele aus der eigenen Schulzeit oder der Schulzeit der Eltern. Letztendlich ist es die Aufgabe der Eltern, Verantwortung von ihrem Kind einzufordern, damit klar wird, dass Mobbing inakzeptabel ist.

Aber auch ein mobbendes Kind braucht Hilfe und Unterstützung: Es braucht emotionale Begleitung und Raum, um über eigene Unsicherheiten, Ängste oder Frustrationen zu sprechen, die hinter dem Mobbingverhalten stehen könnten. Gezielte Gespräche mit Eltern oder Vertrauenspersonen fördern die Selbstreflexion. Eltern und Fachkräfte sollten mobbenden Kindern auch zeigen, wie sie Kontrolle oder Anerkennung durch konstruktive Aktivitäten wie Sport, Musik oder andere Hobbys statt durch Mobbinghandlungen erreichen können. Ein mobbendes Kind braucht also klare Orientierung, emotionale Unterstützung und gezielte Förderung, um langfristig respektvolle und empathische Verhaltensweisen zu entwickeln.

Herr Fink, im Chat des PH Live-Talk bewunderte eine Teilnehmerin, wie sie die Zeiten des Mobbings überstanden haben. Was hat Ihnen als Kind geholfen?

Fink: Ich habe in einem sehr kleinen Dorf gelebt und es gab damals noch keine Handys. Niemand aus meinem Dorf war auf meiner Schule, also gab es einerseits mein Leben auf dem Dorf und auf der anderen Seite das Leben in der Schule, wo ich gemobbt wurde. Ich hatte also im Dorf einige Freunde, die mit mir gespielt haben und mich wertgeschätzt haben und außerdem Stabilität zuhause. All das hat mir geholfen, die Momente vom Vormittag anders zu verarbeiten, als wenn ich gewusst hätte, dass es nachmittags oder abends genauso weitergeht.

Der Begriff der Scham („Ich bin in einer unguten Situation, hoffentlich fällt das keinem auf“) ist einer Teilnehmerin aus Ihren Schilderungen im PH Live-Talk besonders in Erinnerung geblieben. Sie empfand diesen Aspekt vor allem für Jugendliche in der Pubertät, wo Scham ohnehin eine große Rolle spielt, als sehr zentral und fragte: Wie kann man besonders Jugendlichen helfen, die gemobbt werden und sich dafür schämen?

Fink: Man kann ihnen Diskretion anbieten und versprechen, dass ein Gespräch vertraulich bleiben würde. Und wenn sie erzählen wollen, sollte man auch hier wieder zuhören, ohne zu verurteilen. So ein Gespräch müssen die Jugendlichen nicht zwingend mit einem Elternteil führen. Eltern können auf neutrale Anlaufstellen verweisen oder auf andere Vertrauenspersonen, zum Beispiel ältere Geschwister, Lehrkräfte oder die Großeltern, bei denen es oftmals leichter fällt, ein bedrückendes Thema anzusprechen als bei den Eltern. Eine andere Option sind Chat-Beratungsstellen im Internet, wo Jugendliche online anonym Hilfe und ein offenes Ohr finden.

Präventiv können Eltern darauf achten, Gefühle jeglicher Art zu normalisieren und klarzumachen, dass es total normal sein kann, sich in diesem Alter beschämt zu fühlen. Es kann hilfreich sein, von ähnlichen Situationen zu erzählen, die man selbst als Jugendlicher erlebt hat, um zu zeigen, dass es anfangs Überwindung braucht, sich zu öffnen, aber es immer lohnenswert ist.

Die Tochter einer Teilnehmerin im Grundschulalter leidet unter ständigen Beleidigungen, Ausschluss und Auslachen in einer vermeintlichen Freundschaft. Die „Täterin“ nennt sie Freundin und will weiterhin mit ihr zusammen sein. Ist es womöglich gar nicht so schlimm oder handelt es sich schon um Mobbing und es sollte stärker eingegriffen werden?

Fink: Mobbing kann auch aus einer Freundschaft heraus entstehen. Im Endeffekt müssen die drei anfangs genannten Kriterien für Mobbing gegeben sein. Wenn die Tochter erzählt, dass sie unter dem Verhalten der vermeintlichen Freundinnen leidet, sollte die Mutter das auf jeden Fall ernst nehmen und klar machen, dass das sehr verletzend klingt. Ich würde nicht sagen, dass kein Handlungsbedarf entsteht, nur weil vorher eine Freundschaft dahintersteckte. Und unabhängig davon, ob das jetzt laut Definition Mobbing ist oder nicht, würde ich sagen, dass das Mädchen auf jeden Fall Unterstützung bekommen sollte. Ich würde wirklich fragen: „Wie lange bezeichne ich Freundinnen als Freundinnen? Und ist es noch eine gesunde Freundschaft, wenn solche Dinge ablaufen?“

Kaess: Mobbing hängt stark vom subjektiven Empfinden ab. Wenn eine betroffene Person – mit Hilfe der drei Kriterien – zu dem Schluss kommt, dass sie sich gemobbt fühlt, dann ist das relevant und man sollte es bearbeiten. Wenn in einem Gespräch mit der Lehrerin und der genannten Freundin herauskommt, dass es sich um ein Missverständnis handelt und niemand dem anderen etwas Böses wollte, ist das Problem vielleicht schon gelöst.

Anders ist es, wenn die Mutter sagen würde: „Nein, du irrst dich, die wollen dir doch nichts Böses.“ Es gilt immer das, was das Kind empfindet und nicht das, was die Mutter oder eine andere externe Person einschätzen. Wir sprechen von Mobbing, wenn es von der betroffenen Person als Mobbing empfunden wird.

Psychische Störungen als Folge von Mobbing

In wie vielen Fällen sind psychische Erkrankungen Folge von Mobbing? Können Sie Zahlen nennen?

Kaess: Man geht von gut der Hälfte der Betroffenen aus, die im Verlauf eine psychische Erkrankung entwickeln. Das Spektrum der möglichen psychischen Erkrankungen und die Schwere der Erkrankungen sind breit. Aber nicht die gesamten 50 Prozent werden schwer psychisch krank, es können auch leichte Formen sein. Gemeint sind aber in allen Fällen klinisch diagnostizierbare Folgen.

In welchen konkreten psychischen Störungen äußert sich das?

Kaess: Am häufigsten sind depressive Erkrankungen und Angsterkrankungen, gefolgt von Selbstverletzung und Suizidalität im Rahmen der depressiven Erkrankungen. Aber es gibt auch viele andere Störungsbilder. Es gibt Menschen, die werden so stark gemobbt, dass sie eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Vor allem bei Kindern steht Mobbing häufig im Zusammenhang mit psychosomatischen Erkrankungen, wie zum Beispiel dauerhaft chronischen Kopfschmerzen oder Bauchschmerzen. Klagt ein Kind plötzlich dauerhaft über Kopf- oder Bauchschmerzen, liegt dem oft eine psychische Problematik zugrunde, und auch häufig Mobbing.

Eine Teilnehmerin berichtet von verschiedenen Fällen, die sie beobachtet hat, dass Kinder nach Mobbingerfahrungen in anderen Kontexten Probleme mit Regeln haben oder wenig Kritik annehmen können. Sind das typische Spätfolgen?

Kaess: Persönlichkeitsveränderungen bis -störungen können eine weitere Folge von langem Mobbing sein. Menschen, die über längere Zeit Opfer von Mobbing sind, bekommen irgendwann eine Eigenschaft, die wir Rejection Sensitivity oder Threat Sensitivity (Anmerkung der Redaktion: Zurückweisungsempfindlichkeit) nennen. Sie reagieren dann sehr sensitiv auf empfundene Bedrohung oder Ausgrenzung. Was sie oft erlebt haben, unterstellen sie irgendwann einfach als gegeben. Ein Jugendlicher, der immer ausgegrenzt wurde, geht schneller davon aus, dass er wieder ausgegrenzt wird, wenn er einen neuen Menschen trifft und der ihm – womöglich unabsichtlich – den Rücken zudreht. Diese Hypersensitivität kann dazu führen, dass Menschen, die gemobbt wurden, sehr schnell in den Angriff übergehen, wenn sie sich bedroht fühlen oder kritisiert werden.

Mobbing erhöht das Suizidrisiko

Man hört immer mal wieder von Suizidversuchen von Kindern im Kontext von Mobbing. Können Sie aus wissenschaftlicher Sicht Wahrscheinlichkeiten und andere Zahlen nennen?

Kaess: Es gibt viele Studien zu diesem Thema, die immer wieder zur klaren Einschätzung kommen, dass Suizidversuche im Kontext von Mobbing deutlich erhöht sind. Eine verlässliche Zahl zu nennen ist nicht ganz einfach, ich will es anhand einiger konkreter Studien trotzdem versuchen:

Es gibt eine Metaanalyse zum Thema Suizid und Mobbing aus dem Jahr 2015, die zeigt, dass Mobbing die Wahrscheinlichkeit von Suizidversuchen um eine ganze Standardabweichung verändert – das ist wirklich ein starker Effekt. In einer eigenen Studie mit etwa 6000 Jugendlichen, die während meiner Zeit am Universitätsklinikum Heidelberg durchgeführt wurde, waren unter den nicht-gemobbten Jugendlichen weniger als ein Prozent von einem Suizidversuch betroffen, während die Zahl bei den gemobbten Jugendlichen bei sechs Prozent lag. Noch dramatischer sehen eigene Daten zum Cybermobbing aus: Aus unserem älteren Mobbing-Präventionsprogramm „Olweus“ haben wir entsprechende Daten veröffentlicht. Da sehen wir bei Jugendlichen ohne Cybermobbing fünf Prozent Suizidversuche im letzten Jahr, im Vergleich zu 23 Prozent Suizidversuchen im letzten Jahr bei Jugendlichen, die Cybermobbing erlebt haben.

Je nach Alter der Studie unterscheiden sich die Zahlen, aber es ist ja kein Geheimnis, dass Suizidalität bei Jugendlichen insgesamt zugenommen hat. Alle Studien stimmen auf jeden Fall darin überein, dass das Suizidrisiko bei Kindern und Jugendlichen, die gemobbt werden, um ein Vielfaches höher ist als bei Kindern, die nicht gemobbt werden.

Kreisen Ihre Gedanken um Suizid? Sprechen Sie darüber! Die Telefonseelsorge hilft anonym und kostenlos unter 0800-1110111, 0800-1110222 oder 116123 und telefonseelsorge.de

Wie sollte eine Aufarbeitung durch Lehrerinnen und Lehrer mit der Klasse aussehen, wenn es an einer Schule einen versuchten Suizid aufgrund von Mobbing gab?

Kaess: Zunächst einmal ist es ganz wichtig, die Aufarbeitung von Mobbing von der Aufarbeitung eines Suizidversuchs zu entkoppeln. Auf keinen Fall sollte man eine 1:1-Kausalität aufstellen, das heißt man sollte nicht einfach davon ausgehen, dass das vorangegangene Mobbing die Ursache für den Suizidversuch war. Damit erzeugt man bei einer Gruppe oder einer ganzen Klasse kollektiv ein Schuldgefühl. Ein erhöhtes Risiko für Suizidversuche bei Menschen, die von Mobbing betroffen sind, ist klar belegt und wir kennen die Studiendaten, aber dürfen nie auf Kausalität im Einzelfall schließen. Suizid ist meist multifaktoriell, also durch mehrere Aspekte ausgelöst. Die Botschaft an die Klasse muss sein: „Niemand ist schuld, weder die oder der Betroffene selbst noch jemand anders.“

Fink: Die Aufarbeitung eines versuchten Suizids erfordert ein hohes Maß an Sensibilität, Professionalität und Zusammenarbeit zwischen Lehr- und Fachkräften. Wichtig ist dabei ein offener Austausch über die Situation ohne Vorwürfe. Im ersten Schritt würde ich empfehlen, die Bereiche Schulpsychologie, Schulsozialarbeit und externe Beratungsstellen einzubeziehen. Im zweiten Schritt sollte eine schulische Aufarbeitung folgen, in der zuerst das Klassenklima analysiert und die Gruppenstruktur untersucht wird. Anschließend kann man passende Maßnahmen einleiten oder Programme einführen, die Empathie und ein respektvolles Verhalten stärken. Sinnvoll können darüber hinaus Einzelgespräche mit allen Beteiligten sein und dass die generelle Mobbing-Situation gelöst wird. Wobei Letzteres in der Praxis erst einmal schwierig werden kann, wenn man ohne das betroffene Kind arbeiten muss, weil es sich wahrscheinlich in Therapie oder in einer Klinik befindet.

Was tun bei Cybermobbing?

Tritt Cybermobbing häufig in Kombination mit Mobbing in der „echten“ Welt auf?

Kaess: Ja, es tritt häufig in Kombination auf. In älteren Studien sahen wir Cybermobbing fast ausschließlich in Kombination mit schulbasiertem Mobbing. In unseren neueren Studien aus dem letzten Jahrzehnt hat sich das etwas geändert, und es gibt auch einen Anteil an rein cybergemobbten Kindern. Was wir bedenken müssen ist, dass beide Mobbingformen einen additiven Effekt auf die psychische Gesundheit haben. Diejenigen, die Cybermobbing und schulbasiertes Mobbing erleben, haben ein deutlich höheres Risiko, psychisch zu erkranken und auch schwerer zu erkranken, als die, die nur in einem Setting unter Mobbing leiden.

Unter Cybermobbing (oder auch Cyberbullying) versteht man die Beleidigung, Bedrohung, Bloßstellung oder Belästigung von Personen mithilfe von Kommunikationsmedien. Dazu zählen zum Beispiel Soziale Netzwerke oder Smartphones.

Wie kann man Eltern für Cybermobbing sensibilisieren, wenn sie eigentlich nicht so sehr in der „Online-Welt“ unterwegs sind?

Kaess: Durch solche Formate, wie Sie sie bei Psychologie Heute machen, und generell: durch Aufklärungsarbeit. Ich gehöre zu der Bevölkerungsgruppe, die in der Transition zwischen Industriezeitalter und digitalem Zeitalter steckt. Ich habe nach heutigen Maßstäben eine fast noch analoge Kindheit ohne Handy und richtigen Computer erlebt. Und ich glaube, für diese Generationen ist es ein fast unlösbares Problem, weil es nie ganz vermittelbar sein wird, welchen Stellenwert die virtuelle Welt und das Internet für die junge Generation haben. Aber gleichzeitig bin ich optimistisch und denke, dass sich dieses Problem irgendwann von selbst erledigen wird. Wer heute als Digital Native aufwächst, wird ganz genau wissen, was bei den Kindern mit Internet und Smartphone abgeht, wenn er oder sie irgendwann selbst in der Elternrolle sein wird.

Cybermobbing bedeutet ja, dass das Mobbing nicht auf das Schulgebäude begrenzt bleibt, sondern Tag und Nacht stattfinden kann und es keinen sicheren Ort mehr gibt. Eine Teilnehmerin erzählt von einem Fall, in dem der Familie nichts anderes übrigblieb, als umzuziehen. Ist das eine sinnvolle Lösung?

Fink: Ich kann den Umzug verstehen, er kann kurzfristig Erleichterung bringen, aber ich halte ihn – ähnlich zu den geschilderten Problemstellungen eines Schulwechsels – nicht automatisch für eine nachhaltige Lösung. Die größere Herausforderung ist doch, dass die Kinder heutzutage so gut vernetzt sind, dass nach einem Umzug möglicherweise die Cybermobbing-Handlungen nicht enden. Wenn es eine Verknüpfung zwischen analogem Mobbing in der Schule und Cybermobbing gab, kann es dazu führen, dass es aufhört, da die Mobbenden das Resultat ihrer Taten nicht mehr tagtäglich sehen können. Wenn es sich um reines Cybermobbing handelt, würde ein Umzug ja ohnehin nichts bringen.

Mobbing-Intervention mit dem No Blame Approach

Herr Fink, im PH Live-Talk berichteten Sie vom No Blame Approach, einer klar strukturierten Methode zur Lösung von Mobbing-Fällen, die eine Erfolgsrate von 90 Prozent vorweisen soll. Wie bekannt ist diese Methode an deutschen Schulen?

Fink: Der No Blame Approach ist die in Deutschland am weitesten verbreitete Methode, um Mobbing mit einer bewussten Intervention zu beenden. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich im Falle einer Mobbingsituation eine ausgebildete Person an der Schule finde, die diese Methode umsetzen kann. Hier braucht es noch viel Aufklärungsarbeit. Ich kann Eltern empfehlen, einmal ganz konkret nachzufragen, ob die Schule des Kindes Kenntnis vom No Blame Approach hat.

Der No Blame Approach ist eine klar strukturierte Interventions-Methode bei Mobbing. Sie besteht aus drei zeitlich aufeinander folgenden Schritten. Der erste Schritt ist immer ein Gespräch mit dem von Mobbing betroffenen Schüler beziehungsweise der Schülerin mit dem Ziel, das Vertrauen für die geplante Vorgehensweise zu gewinnen und Zuversicht zu vermitteln, dass sich die schwierige Situation beenden lässt. Der zweite Schritt ist ein Gespräch mit der Unterstützungsgruppe und zuletzt im dritten Schritt sind (einzelne) Nachgespräche Teil der Methode. Mehr zum No Blame Approach können Sie hier nachlesen.

Eine Lehrerin schildert folgenden Fall: An ihrer Schule gab es ein Mädchen, dessen Mutter sich weigerte, dass die Schulsozialarbeiterin mit dem Kind sprechen durfte. Beim No Blame Approach ist ja zuerst ein Gespräch mit dem betroffenen Kind vorgesehen. Welche Möglichkeiten gibt es in so einer Situation, dem Kind zu helfen?

Fink: Mir ist keine Grundlage dafür bekannt, dass Eltern verbieten dürfen, dass in der Schule Gespräche mit dem Kind geführt werden. Ich würde mich fragen, wie intensiv ich die Eltern einbinden muss, um die Methode einzuführen. Ansonsten sollte die Lehrerin herausfinden, was hinter der Ablehnung der Eltern steckt. Und am Ende ist die Schule in der Verantwortung, dass es dem Kind dort gut geht. Zu wissen, dass Mobbing stattfindet, und nichts zu unternehmen, weil die Mutter es so wünscht, ist unverantwortlich.

Mehr über die Experten:

Literatur und Website-Tipps der Experten zum Thema Mobbing

Bücher:

Dan Olweus: Gewalt in der Schule, Was Lehrer und Eltern wissen sollten - und tun können, Hogrefe 2006.

Für Kinder (an Grundschulen inkl. eines kostenfreien Theaterkonzepts):

Heike Becker: Leon sagt NEIN! Ein Stark-mach-Buch für Grundschulkinder, Institut für sprachliche Bildung 2021.

Für Jugendliche:

Eloy Moreno: Unsichtbar, FISCHER Sauerländer 2023.

Für Eltern:

Mechthild Schäfer, Gabriela Herpell: Du Opfer! Wenn Kinder Kinder fertigmachen: Der Mobbingreport, Rowohlt 2010.

Für Schulen:

Nicole Gerlach, Jutta Sengpiel: Mobbing-Interventions-Teams in der Schule: Praxishandbuch für nachhaltige Prävention und Intervention, Carl Link 2017.

Heike Blum, Detlef Beck: No Blame Approach: Mobbing-Intervention in der Schule. Köln: fairaend 2023.

Websites:

Das Präventionsprogramm für Schulen „Mobbing und Du – Schau hin und nicht zu“:

www.mobbing-und-du.de

Der Verein „Zeichen gegen Mobbing e. V.“: www.zeichen-gegen-mobbing.de

Darunter u.a.: Tipps und Beratung für Angehörige von betroffenen Schüler:innen: zeichen-gegen-mobbing.de/eltern

Kostenlose Materialien für den Unterricht und viele relevante Informationen zum Thema „Sicherheit im Internet“: www.klicksafe.de