Für Gefühle wie Wut oder Liebe hat die deutsche Sprache allerlei Inventar. Wir können zornig sein, empört, aufgebracht, eifersüchtig, zärtlich oder leidenschaftlich. Doch bei einem der hartnäckigsten Gefühle bleiben wir stumm: der Scham. Jeder Mensch weiß, wie sie sich anfühlt. Doch so leicht wir auch beschämt werden können, so schwer ist es, Scham „mit Worten wieder aus uns rauszusprechen“, schreibt der Journalist Matthias Kreienbrink in seinem Sachbuchdebüt Scham. Sprechen wir nämlich über sie, fallen uns zunächst Situationen ein, die uns unangenehm waren – wir erzählen dann eine Geschichte, die den Blick der anderen miteinbezieht. Denn Scham entsteht im Miteinander, aber auch durch verinnerlichte Normen. Sie ist eine soziale Emotion.
Comeback eines uraltes Gefühls: Scham
Matthias Kreienbrink allerdings vermag es, dieses uralte Gefühl – und dessen moderne Spielarten in unserer digitalisierten Welt – sprachlich einzufangen. Alles begann mit einem Essay in der Zeit. Darin analysiert er, dass die Scham durch das Internet gegenwärtig ein seltsames Comeback erlebe. Früher, in der Steinzeit half sie, Normverstöße zu vermeiden und Gruppen zusammenzuhalten. In späteren Gesellschaften festigte sie Macht und Privilegien höherer Schichten. Später hatten die Menschen die Normen und Sitten langsam satt. Schamgrenzen verschoben sich. Heute können wir, schreibt Kreienbrink, in Jogginghose ins Opernhaus gehen. Heute postet ein Sexualtherapeut auf TikTok Videos über Selbstbefriedigung und die Auswirkungen von Pornokonsum.
Shitstorms, Bloßstellungsvideos, belehrende Kommentare
Dennoch beobachtet Kreienbrink eine neue, mächtige Form der Scham. In einem Kapitel seines Buches erklärt er: Im Social Web kann jeder Mensch jeden beschämen – durch Shitstorms, Bloßstellungsvideos, belehrende Kommentare.
Scham ist diffuser geworden. Um das zu verdeutlichen, erstellt Kreienbrink ein „Abc der Beschämung“, in dem er polemische Begriffe wie Sprachpolizei, Boomer oder Umweltsau erklärt. Diese Stichwörter steuern digitale gesellschaftliche Debatten und spielen Gruppen gegeneinander aus. Kreienbrink nennt dieses Phänomen „Mikrobeschämung“. Dadurch werden Menschen immer wieder verurteilt (#woke, #Flugscham), ohne dass ein wirklicher Austausch stattfindet.
Gespräche über Scham
Der Autor macht das Gegenteil und spricht mit vielen Personen über die Scham, darunter ein Psychiater, eine Philosophin, ein Therapeut, ein Politiker und einige Betroffene. Er führt die Leserinnen und Leser anhand dieser Geschichten durch verschiedene Bereiche, in denen Scham entsteht: Kindheit, Schule, Körper, Arbeit, Krise und Internet, und zeigt schließlich im Schlusskapitel heilsame Auswege aus unseren Schamerlebnissen, etwa Widersprüche aushalten, Protest als Gegengift, Humor und Nähe und – ganz wichtig: Nachsicht.
Mit seiner sachkundigen, ruhigen Sprache und großem journalistischem Erzähltalent schafft Kreienbrink, dass das Lesepublikum der Scham ins Gesicht schauen kann, ohne sich dabei schlecht zu fühlen.
Matthias Kreienbrink: Scham. Wie ein machtvolles Gefühl unser Leben neu prägt. Kösel 2025, 224 S., € 22,–