Fröhlich nähert sich die Kellnerin dem Gast, den sie nur von hinten sieht, und flötet: „Wünschen Sie sonst noch etwas, Sir, ich meine Madam, ich bitte um Verzeihung, Sir.“ Das Beispiel stammt aus einer Ausgabe des Life-Magazins von 1927, und auch ein Jahrhundert später spüren wir geradezu körperlich die Peinlichkeit der Situation.
Awkward nennt man im Englischen solche Momente, und „peinlich“ ist dafür eine unzureichende Übersetzung. Es sind Situationen, die unangenehm berühren und betreten machen. Sie signalisieren, dass eine Schamgrenze überschritten, eine Regel verletzt wurde. Doch sie haben auch ihr Gutes: Wir können sie als „diagnostisches Werkzeug“ nutzen, schreibt die Philosophin Alexandra Plakias in ihrem Buch Awkwardness. Was lehrt uns das Unbehagen?
1 Vom Gefühl zum Skript
Awkwardness umfasst ein Gefühl, das aber untrennbar mit einer sozialen Konstellation verbunden ist. Das unangenehme Empfinden stellt sich immer dann ein, wenn wir uns unserer Rolle unsicher sind. Das betrifft oft ambivalente Situationen, in denen uns die dafür vorgesehenen sozialen Drehbücher im Stich lassen, so Plakias, „entweder weil sie nicht existieren oder weil wir nicht fähig sind, auf sie zuzugreifen oder sie anzuwenden“.
Oder weil sich die Drehbücher der Beteiligten widersprechen, wie in diesem Beispiel: Zwei alte Bekannte, nicht allzu eng befreundet, treffen sich nach vielen Jahren der Funkstille plötzlich auf der Straße. Eine dieser beiden Personen – Drehbuch „Freundschaft“ – macht Anstalten zu einer überschwänglichen Umarmung, während die andere – Drehbuch „Bekanntschaft“ – den Arm zum förmlichen Handschlag ausstreckt. Verlegenheit. Einige Verrenkungen später endet die Szene mit einem halbherzigen Schulterklopfen.
2 Die Anklage fallenlassen
Awkwardness ist ein Warnsignal. Sie zeigt uns an, dass wir versehentlich Spielregeln verletzt haben. Wir haben uns „danebenbenommen“ und laufen Gefahr, ausgeschlossen zu werden. Unser Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit ist bedroht. Das Ergebnis ist eine Art Lähmung: Die Beschämung schüchtert uns ein, bringt uns zum Schweigen. „Awkwardness entfremdet uns von uns selbst“, schreibt Plakias.
Dieselbe Wirkung hat es, andere Menschen als awkward zu titulieren, also als unbeholfen, ungehobelt, peinlich, „zum Fremdschämen“. Wir erklären sie damit zu Außenseitern. Wir entziehen ihnen implizit – auch wenn das nicht in unserer Absicht liegen mag – Wertschätzung, Vertrauen und andere soziale Güter.
Alexandra Plakias schlägt vor, achtsamer zu sein gegenüber solchen unwillkürlichen Bewertungen. Sobald uns bei einem eigenen oder beobachteten Fauxpas das peinliche Unbehagen packt, steht es uns frei, den Bezugsrahmen zu wechseln. N
ehmen wir die erwähnte Kellnerin. Natürlich ist es – für beide – peinlich, dass sie dem Gast nicht auf Anhieb das passende Geschlecht zuordnen kann. Aber wie harmlos wäre die Situation, wenn das gängige soziale Drehbuch nicht genau diese passgenaue Unterscheidung von männlich und weiblich einfordern würde!
3 Ein Drehbuch suchen
Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Doktorand an einer Universität. Zu Ihrer Überraschung lädt sie eines Tages die berühmte Wissenschaftlerin, die gerade einen Gastvortrag gehalten hat, zu einem Essen ein, weil sie von Ihrem Forschungsprojekt gehört hat und mehr darüber erfahren will. Welch eine Ehre! Im Restaurant erzählen Sie also begeistert von Ihrer Arbeit, und da fliegt Ihnen im Übereifer ein Bröckchen Pasta aus dem Mund und landet auf der Bluse der Professorin. Hat sie es bemerkt? Sie möchten vor Scham im Boden versinken, aber Sie trauen sich nicht, Ihr Missgeschick anzusprechen, und führen die Konversation stockend und betreten fort.
Rückzug ins Schneckenhaus ist unsere natürliche Reaktion in beschämenden Situationen. Riskanter, aber meist ertragreicher ist es laut Plakias, das Gefühl auszuhalten und ihm den Stachel zu ziehen, indem man sich die unbehagliche Situation „zu eigen macht“ und ihr ein Skript gibt, das man mit der anderen Person teilt. Wie macht man das? „Es klingt simpel (es ist nicht simpel): Wir machen den ersten Schritt und hoffen, dass das Gegenüber folgt“, schreibt Plakias. Dieser erste Schritt könnte schlicht darin bestehen, die Situation zu benennen: „Ui, das ist peinlich!“ Wenn die andere Person – zum Beispiel die genannte Professorin – darauf einsteigt, kann man sich nun an ein gemeinsames Drehbuch halten: Aha, peinliche Situation, unangenehm, aber immerhin vertrautes Terrain.
Gemeinsam zu lachen ist dann und überhaupt immer hilfreich, so Plakias. Humor baut Spannung ab, schafft eine persönliche Ebene, vermittelt Vertrautheit und Verbundenheit, denn immerhin hat man ganz offensichtlich einen ähnlichen Sinn für Komik.
4 Das Drehbuch umschreiben
In Bewerbungsgesprächen haben laut Plakias in jüngster Zeit viele akademische Institutionen bewusst das Drehbuch geändert. Bislang hatten die Interviewerinnen und Interviewer während einer ersten Auswahlrunde viele Freiheiten: Smalltalk wechselte mit gezielten Fragen, und bei Bedarf wurde nachgefasst und auf den Zahn gefühlt.
Doch um das Verfahren transparenter, vergleichbarer und fairer zu gestalten, ist man nun dazu übergegangen, allen Eingeladenen exakt die gleichen Fragen zu stellen. Zwar empfinden das diejenigen, die die Interviews führen, meist als einschränkend, unpersönlich, künstlich, doch die Philosophin gibt zu bedenken: Irgendjemand fühlt sich in den Jobinterviews immer awkward. Die Frage ist also: Wessen Unbehaglichkeit will ich zulasten der anderen Seite mildern? Ihre Antwort: „Diejenigen mit der meisten Macht und Reputation, also dem größeren sozialen Kapital können es sich am ehesten leisten.“
Für Plakias zeigt das Beispiel, wie awkwardlastige soziale Drehbücher bewusst und gezielt umgeschrieben werden können. Was als angemessen und schicklich gilt, unterliegt einem steten Wandel.
5 Mit dem Unbehagen leben
Bei allem Schaden, den peinliche Beschämung anrichten kann: Awkwardness gänzlich zu eliminieren kann nicht das Ziel sein, meint Plakias. Das Unbehagen lässt uns innehalten, macht uns unsicher – und bewahrt uns damit vor Größenwahn und moralischer Anmaßung. Ein Leben voller Eindeutigkeit und Selbstgewissheit wäre kaum wünschenswert.
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Quelle
Alexandra Plakias: Awkwardness. A Theory. Oxford University Press 2024