Im Fokus: Das Mindset der Polizei

Wenn Einsatzkräfte auf psychisch belastete Menschen treffen: Eine Polizeipsychologin über die innere Haltung, um der Herausforderung gerecht zu werden

Eine Polizistin legt bei einer Frau Handschellen an
Ruhe bewahren ist wichtig, wenn bei einem Einsatz Menschen in Ausnahmesituationen beteiligt sind. © picture allilance/dpa | Julian Stratenschulte

Frau Sticher, laut Studien trifft die Polizei bei etwa einem Drittel aller Einsätze auf Menschen in psychischen Ausnahmesituationen. Was heißt das konkret?

Polizistinnen und Polizisten, die das ganze Jahr rund um die Uhr verfügbar sind, treffen bei ihren Einsätzen auf einen Querschnitt der Bevölkerung. Es geht bei den Einsätzen häufig um eskalierte Konflikte im privaten oder öffentlichen Bereich. Die Einsatzkräfte treffen auch auf Personen, die sich bizarr verhalten, etwa wenn jemand Sachen aus dem Fenster…

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Die Einsatzkräfte treffen auch auf Personen, die sich bizarr verhalten, etwa wenn jemand Sachen aus dem Fenster wirft, verwirrt herumirrt, vielleicht dement, alkoholisiert ist oder unter Drogen steht. Sie müssen damit umgehen, weil sie oft die Ersten sind, die auf den Hilferuf reagieren. Auch bei allgemeinen Verkehrskontrollen rasten Leute aus, können ihre Emotionen nicht kontrollieren. Insgesamt müssen sich Beamtinnen erstaunlich oft Menschen in psychischen Ausnahmezuständen stellen.

Sie sprechen bewusst von Ausnahmezuständen, nicht von Krankheiten. Warum?

Polizisten haben nicht die Aufgabe, psychische Krankheiten zu diagnostizieren, sondern Lagen einzuschätzen und Verhalten in konkreten Situationen beurteilen zu können. Sie benötigen Wissen darüber, was sie tun können, wenn Menschen sich bizarr, unverständlich, selbstverletzend oder gegenüber anderen aggressiv verhalten. Wenn die Einsatzkräfte auf diese Menschen treffen, sind sie Teil der psychischen Ausnahmesituation und tragen zum Verlauf des Geschehens bei.

Wie werden Einsatzkräfte für diese Situationen geschult?

In der Ausbildung und auch im Studium wird den zukünftigen Einsatzkräften vermittelt, dass Kommunikation die wichtigste „Dienstwaffe“ ist. Polizisten müssen verstehen, dass sie mit der eigenen Haltung und ihren Verhaltensweisen die Gefahrenlage beeinflussen, sie also verstärken oder abschwächen. Zu verstehen, wie etwas beim anderen ankommt, den richtigen Ton zu treffen und etwas passend auszudrücken ist aber keine Selbstverständlichkeit. Selbst Psychologinnen und Psychologen müssen das lange trainieren, Polizisten eben auch, vor allem für die Kommunikation im Einsatz. In Gefahrensituationen geht alles oft sehr schnell. Um angemessen zu reagieren und kommunikative Fähigkeiten auch im Notfall noch abrufen zu können, muss man regelmäßig üben und vergangene Einsatzlagen analysieren.

Sehen Polizistinnen und Polizisten das auch so?

Jedenfalls zeigen die Studierenden des gehobenen Polizeivollzugsdienstes großes Interesse an psychologischen Themen. Die Mehrheit der Anwärterinnen und Anwärter hat hohe Ideale, sie wollen hilfreich und für die Bürger da sein. Aber die zentrale Aufgabe der Polizei ist, Gefahren abzuwehren. Hierfür sind die Polizistinnen und Polizisten mit dem staatlichen Gewaltmonopol ausgestattet. Wenn Situationen eskalieren, müssen sie darauf vorbereitet sein, auch Zwang einzusetzen, allerdings muss dieser Gewalteinsatz immer verhältnismäßig sein. Zugleich müssen sie aber auch auf ihre eigene Sicherheit und die der Kolleginnen und Kollegen achten, um die Situationen unverletzt zu bewältigen. In Ausbildung und Studium liegt der Schwerpunkt verständlicherweise auf diesen Themen.

Helfen auf der einen Seite, Zwang auf der anderen – das klingt nach beinahe unvereinbaren Aufgaben.

Genau das ist die Herausforderung. In der Polizeiforschung wird zwischen zwei verschiedenen Mindsets von Polizisten unterschieden: Das eine ist ein Beschützer-Mindset, also die innere Haltung, für Bürgerinnen ansprechbar zu sein und ihnen zu helfen. Man beobachtet oft, wie freundlich Beamte sind, wenn sie zum Beispiel auf verwirrte alte Menschen treffen.

Sobald aber eine Gefahrensituation eintritt oder vermutet wird, wechseln sie abrupt in eine andere Haltung: das Krieger-Mindset. Hier geht es um die Durchsetzung von Maßnahmen. Klarheit und auch Stärke sind dann gefragt, und es wird oft nicht mehr ausreichend darüber nachgedacht, was in einer Situation das Beste sein könnte, man geht nicht mehr sensibel auf das Gegenüber ein. Sobald das Krieger-Mindset aktiviert ist, laufen Einsätze routiniert nach einem Schema ab, das im Verhaltenstraining unzählige Male geübt wurde. Beide Denkweisen, Beschützer und Krieger, sind wichtig, um den Beruf auszuüben. Dadurch, dass beide Haltungen aber diametral entgegengesetzt zu sein scheinen, gibt es auch Schwierigkeiten.

Das müssen Sie erklären.

Das Krieger-Mindset und das Beschützer-Mindset stehen oft unverbunden nebeneinander. Es gibt für Polizisten häufig nur ein Entweder-oder, kein Sowohl-als-auch, das wissen wir aus Studien. Sobald eine Gefahrenlage entsteht, wollen sie diese schnell lösen. Man redet in dem Zusammenhang von Lösungswut. Es wird dann nicht mehr wahrgenommen, was rechts und links los ist, ob es angebracht sein könnte, geduldig zu bleiben, noch mal einen Schritt zurückzutreten. Nur noch das Krieger-Mindset ist aktiv. Und wenn dann die Einsatzroutine allzu schnell abgespult wird, eskalieren Situationen manchmal unverhältnismäßig. Es wäre sehr wichtig, dass Beamtinnen und Beamte lernen, beide Denkweisen miteinander zu verbinden, damit ein angemessenes Verhalten je nach Situation gelingt.

Warum ist das so wichtig?

Weil die Gemengelage, auf die Polizistinnen und Polizisten bei einem Einsatz treffen, oft unübersichtlich und vielschichtig ist. Wenn eine Person eindeutig verwirrt ist oder wenn ein gefährlicher Attentäter sofort gestoppt werden muss, wird oft adäquat gehandelt. Doch besonders bei den Einsätzen, an denen Menschen mit psychischen Ausnahmezuständen beteiligt sind, treffen Polizisten oft auf uneindeutige Lagen, die für sie selbst auch angstbesetzt sind.

Vielleicht fuchtelt jemand mit einem Gegenstand herum, der eine Waffe sein könnte. Man weiß aber nicht, ob es wirklich eine ist. Vielleicht schreit jemand, man kann aber nicht einschätzen, warum. Es gibt jährlich in Deutschland zwischen 20 und 40 Todesfälle, die auf einen Schusswaffengebrauch bei Polizeieinsätzen zurückgehen. In etwa die Hälfte dieser Fälle sind Menschen in psychischen Ausnahmezuständen verwickelt. Der Kriminologe Thomas Feltes hat solche Fälle untersucht und kommt zu dem Schluss, dass der tödliche Ausgang in den meisten Fällen vermeidbar gewesen wäre. Eine niederschmetternde Bilanz.

Durch die Medien gingen einige Fälle, etwa der Tod des jungen Senegalesen Mouhamed Dramé, der 2022 von der Polizei erschossen wurde. Später stellte sich heraus, dass er suizidal war.

Es gibt darüber eine sehenswerte ZDF-Dokumentation. Bevor man sich solchen Fällen im Detail zuwendet, ist es wichtig, dass nicht Schuldzuweisungen im Vordergrund stehen, sondern eine differenzierte Aufarbeitung des Geschehens. Man muss sich vor Augen halten, dass auch Situationen, in denen man mit Kommunikation etwas hätte erreichen können, teilweise gefährlich sind oder von den Einsatzkräften als bedrohlich erlebt werden. Die Polizei muss solche Einsätze wie den, der mit dem Tod von Mouhamed Dramé endete, genau analysieren.

Was ist hier passiert? Wie kam es zu der Lagebeurteilung? Was hätte man anders machen können? Es geht um eine Fehlerkultur, um die ehrliche Auseinandersetzung mit dem, was abgelaufen ist. Auch ist die Frage elementar, welches Denken und damit verbundene Handlungslogik das gesamte Team aufruft. Wird von Anfang an nur das Krieger-Mindset aktiviert? Oder kommt ebenfalls das Beschützer-Mindset zum Zuge, indem man zum Beispiel überlegt, wer die betreffende Person wie ansprechen könnte, und dadurch Zeit gewinnt, um einen besseren Überblick über Handlungsoptionen zu gewinnen.

Können Sie ein Beispiel geben?

Der Fall von Oisín O. ging ebenfalls durch die Presse. In der nachträglichen Analyse des Einsatzes erkennt man Ansatzpunkte für Kommunikation und Deeskalation. Gleichzeitig bekommt man auch ein Gefühl dafür, wie schwierig es für die Polizei vor Ort manchmal ist, sich ein klares Bild zu machen. Es fing damit an, dass eine Frau sich beim Notruf meldete, die schlecht zu verstehen war. Dem Gespräch konnte entnommen werden, dass sie mit ihrem Neugeborenen zu Hause war und sich von ihrem Ehemann bedroht fühlte.

Es fiel das Wort knife, also Messer. Ein Messer, das muss man wissen, löst bei Polizisten höchste Alarmbereitschaft aus und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass ein Team komplett ins Krieger-Mindset schaltet. Vor Ort kamen die Beamtinnen dann bereits zu zehnt an. Sie fanden die Wohnung verdunkelt vor. Die Polizei brach die Tür auf. Es bot sich ein bizarres und bedrohliches Bild. Gegenstände und Möbel waren verrückt, im Dunkeln stand Herr O. mit einem Kochtopf auf dem Kopf, nur mit Boxershorts bekleidet, mit einem Gegenstand in der Hand, der eine Waffe hätte sein können. Später stellte sich heraus, dass es ein Pfannenwender war. Herr O. lief ins Obergeschoss und die Polizei machte eine laute Ansage, er solle runterkommen, sonst werde sie aktiv. Im Obergeschoss eskalierte die Situation, die Polizei setzte Pfefferspray ein, das nicht die erhoffte Wirkung hatte. Dann wurde Herr O. mit fünf Schüssen getötet. Im Nachhinein verdichteten sich die Hinweise, dass Herr O. psychisch erkrankt war und sich nach der Geburt des Kindes verfolgt fühlte.

Eine schwierige Situation. Wie hätte man hier deeskalieren können?

Das laute Rufen, wie es die Polizei im Einsatztraining lernt, kann Menschen in einem psychischen Ausnahmezustand erschrecken und so noch mehr aufbringen. Vielleicht hätte hier eine ruhige Ansage wie „Wir wollen Ihnen helfen, bitte reden Sie mit uns“ eine andere Wirkung gehabt. Man hätte im Einsatzteam auch die Rollen verteilen können, so dass einige Polizisten im Hintergrund bleiben, derweil ein unbewaffneter Polizist die Rolle des Kommunikators übernimmt. Dieser hätte dann versuchen können, einen Kontakt zu Herrn O. herzustellen. Wäre etwas Ruhe eingekehrt, hätte man vielleicht deutlicher erkennen können, was mit Herrn O. los war.

Es wäre gut gewesen, durch ruhiges Reden Zeit zu gewinnen, um eine Expertin oder einen Experten vom Krisendienst hinzuziehen zu können. Aber in solchen Situationen sind manchmal fünf Minuten wie eine Ewigkeit. In einer Großstadt wie Berlin brauchen diese Fachleute etwa 30 Minuten, um zum Einsatzort zu kommen. Aus diesem Grund werden in anderen Ländern gemeinsame Einsatzteams von psychologisch und psychiatrisch geschulten Fachleuten und Polizeikräften erprobt. All das sind Ansatzpunkte, ein Patentrezept ist das nicht. Keiner kann mit Sicherheit sagen, wie sich Lagen entwickeln. Hier ist noch viel Forschung notwendig.

Und muss es der tödliche Schuss sein? Kann man im Gefahrenfall nicht auf die Beine schießen?

Wenn man eine Situation als hochgefährlich einstuft, ist es wichtig, den Angreifer handlungsunfähig zu machen. Das geschieht mit einem Schuss in das sogenannte vitale Dreieck, den Bereich von Kopf, Brust und Bauch. Umso wichtiger ist, dass es zu so einer Maßnahme möglichst selten kommt. Man sollte versuchen, bereits von Anfang an den direkten Kontakt mit einem Menschen in einer psychischen Ausnahmesituation kompetent zu gestalten, um den Einsatz von Zwang möglichst zu verhindern. All das halte ich für wichtig. Es entlastet auch die Beamten, die in eine solche Situation verwickelt sind. Glauben Sie mir, niemand will einen Menschen erschießen. Das ist auch für die Einsatzkräfte eine sehr belastende Erfahrung.

Sie plädieren dafür, dass Polizistinnen und Polizisten lernen, zu eigenen psychischen Krisen und Symptomen zu stehen. Warum?

Mir ist wichtig, dass wir unsere Annahme hinterfragen, Menschen seien entweder psychisch gesund oder gestört. Seelische Krisen gehören zu jedem Leben. Nehmen wir die Lebensphase, in der sich die Studierenden befinden, mit denen ich an der Hochschule zu tun habe. In ihr sind schwierige Aufgaben zu bewältigen, wie etwa die Loslösung vom Elternhaus, der Aufbau neuer Beziehungen und die Beantwortung der Frage, wer man sein will und wofür man steht. Wenn man dann depressiv reagiert oder Ängste entwickelt, heißt das nicht, dass man psychisch krank ist. Es bedeutet aber schon, dass man noch weitere Fähigkeiten erwerben muss.

Gerade für angehende Polizisten finde ich es wichtig, dass sie nicht immer nur sagen: „Ich bin stark“, „Ich bin stabil“, „Ich manage alle Lagen, die andere nicht bewältigen“, sondern dass sie auch wahrnehmen können, dass sie manchmal Angst haben, sich überfordert fühlen, emotional betroffen sind. So entwickeln sie ein Selbstbild, das Stärken und Schwächen gleichermaßen zulässt. Sie werden sensibler und können sich mehr in andere einfühlen, die in psychischen Notlagen sind.

Wird es so auch leichter, das Krieger- und Beschützerdenken gleichzeitig präsent zu haben?

Sicher. Man macht dann selbst die Erfahrung, dass es keine strikte Trennung zwischen Gesund und Krank, Gut und Böse, Stark und Schwach gibt. Als Polizistin oder Polizist muss man zwar in Einsatzsituationen eine professionelle Rolle einnehmen, aber damit das gelingt, gibt es eine Phase vor und nach dem Einsatz, in der man eigene Unsicherheiten wahrnehmen und aussprechen kann. All das erhöht die Wahrscheinlichkeit, sich persönlich weiterzuentwickeln und den Menschen in psychischen Ausnahmezuständen besser gerecht zu werden.

Bei der Polizei teilen nicht alle diese Sicht. Manche kritisieren, dass es die Sicherheit der Gemeinschaft bedrohen könne, wenn Beamte zu ihren psychischen Krisen stehen.

Was stimmt: Nicht jeder ist für den Polizeiberuf geeignet. Checks der psychischen Grundverfassung sind im Vorfeld wichtig. Eine Person, die nicht zur Empathie bereit ist, kommt ebenso wenig für den Beruf infrage wie eine Person, die sich gar nicht vorstellen kann, Zwang anzuwenden. Aber nicht jeder muss alles gleich gut können. So gibt es im Team jemanden, dessen besondere Stärke ist, zu kommunizieren, Ruhe in die Situation zu bringen, Geduld zu haben.

Eine andere Person ist vielleicht besser geeignet, eine Zwangsmaßnahme durchzuführen. Aber beides ist notwendig für die Ausübung des Polizeiberufs und beides wird in unserer Gesellschaft gebraucht. Menschen haben Angst vor Attentaten und verlassen sich auf das schnelle Handeln der Polizei, auch auf den Einsatz von Gewalt. Aber Einsatzkräfte brauchen Augenmaß. Sie müssen gut ausgebildet sein, damit sie im Spannungsfeld von Kommunikation und Zwang sicher agieren können.

Birgitta Sticher ist Professorin für Psychologie und Führungswissenschaft an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin sowie Direktorin des Forschungsinstituts für öffentliche und private Sicherheit.

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Quellen

Sticher, B., & Ohder, C. (2025). Diskriminierungsrisiken im polizeilichen Handeln – Teil 3: Menschen mit psychischen Auffälligkeiten. Die Kriminalpolizei, 2/2025, 22–25

Marisa Przyrembel, Birgitta Sticher: Psychische Störungen – ein blinder Fleck von Diversität? In: Mario S. Staller, Swen Koerner (Hg.): Diversität und Polizei. Perspektiven auf eine Polizei der Vielfalt – konkrete Handlungsoptionen und neue Reflexionsmöglichkeiten. Springer Gabler 2024, 239 bis 262

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2025: Die geheimen Muster meiner Familie