„Wie komme ich hier heil wieder raus?“

Alltäglich rettet er Leben, aber fürchtet sich um sein eigenes. Ein Rettungssanitäter aus Rheinhessen über seine Erfahrungen mit Gewalt im Beruf

Ein Notfallsanitäter in Arbeitskleidung
Im Einsatz sind Rettungssanitäter für schwer kranke oder verletzte Personen zuständig. Und sehen sich dabei oft auch Gewalt ausgesetzt. © Luisa Stömer für Psychologie Heute

Ich bin auf einer Landstraße mitten im Wald. Es ist Nacht, stockdunkel bis auf die Scheinwerfer des Rettungswagens. Ich knie in dem auslaufenden Öl eines Motorrads und versuche, den Fahrer wiederzubeleben. Um mich herum zehn schreiende Menschen, stark tätowiert, Rockermilieu. Mein Kollege und ich sind allein mit ihnen. Die Polizei verspätet sich, der Notarzt auch. Als mir klarwird, dass wir den Fahrer nicht retten können, packt mich die Angst. Was werden die Rocker tun, wenn sie sehen, dass ihr Freund tot ist? Ich fürchte um mein Leben.

Vor 30 Jahren habe ich als Zivi im Rettungsdienst angefangen, heute bin ich Notfallsanitäter und leite eine Rettungswache. Der Beruf bleibt spannend. Ich mag die Arbeit mit Menschen. Immer noch. Trotz allem.

Vom Patient bewusstlos geschlagen

Wir kommen, um zu helfen, aber immer wieder geraten wir selbst in Gefahr. Patientinnen und Patienten greifen uns an, beleidigen, schlagen, stoßen uns. In den Medien wird viel über gezielte Gewalt gegen Rettungskräfte berichtet. Etwa an Silvester in Berlin. Das kommt zwar vor, aber meiner Erfahrung nach sind andere Ursachen häufiger.

Wenn mich Menschen angegriffen haben, lag es an ihrer Erkrankung. Das heißt zum Beispiel an einer psychischen Krankheit, Drogen- oder Alkoholkonsum oder einer Mischung aus allem. Ein typischer Fall sieht so aus: Eine mehrfach abhängige Person wählt im Rausch die 112. Wenn der Rettungsdienst eintrifft, ist sie überfordert und wird gewalttätig. Ein Kollege von mir ist seit drei Wochen krankgeschrieben, weil ihn ein Patient so hart geschlagen hat, dass er bewusstlos wurde. Auch dieser Patient war mehrfach abhängig.

„Passiert mir das jetzt auch?“

Ich selbst bin das erste Mal bei einem Rockkonzert körperlich angegriffen worden. Ein junger Mann hatte unter Drogeneinfluss eine Psychose, kämpfte mit einem eingebildeten Schwert gegen einen eingebildeten Drachen. Als wir ihn zum Rettungswagen bringen wollten, entwickelte sich ein Gerangel zwischen ihm, seinem Bruder und mir. Ich ging zu Boden und fragte mich: „Wie komme ich da heil wieder raus?“ Es gelang mir nur, weil ich größer und schwerer war als die anderen.

Ein anderes Mal öffnete ich die hintere Tür des Rettungswagens, als mir ein Patient entgegensprang und mich umwarf. Da lag ich nachts um drei vor der Tür einer Kneipe, eine Traube von Menschen bildete sich um uns, alle waren alkoholisiert und brüllten durcheinander. Und mir schoss durch den Kopf: „Ich war schon mal hier.“ Der letzte Einsatz bei dieser Kneipe war eine Wiederbelebung nach einer Messerstecherei. Für den Betroffenen ging es nicht gut aus. Ich dachte: „Passiert mir das jetzt auch?“ Zum Glück war ich auch dieses Mal der Stärkere und konnte mich befreien.

Wir kommen dem Tod so nah

Ich kann verstehen, warum sich Menschen zum Beispiel unter Drogen oder in Wahnzuständen aggressiv verhalten, aber für mich ändert das nichts an der Belastung. Wahrscheinlich hängt es auch damit zusammen, dass wir im Rettungsdienst dem Tod so nah kommen. Häufig sind wir dabei, wenn ein Mensch stirbt. Ich weiß, wie schnell ein Leben enden kann.

Wenn dann jemand mir gegenüber gewalttätig wird, ziehe ich innerlich die Verbindung: Hier will jemand an mein Leben. Das macht das Gefühl der Gefahr, macht die Angst so existenziell. Wenn ich vor derselben Kneipe zu Boden gehe, vor der jemand erstochen wurde, rechne ich mit dem Schlimmsten. Ich weiß, dass es pathetisch klingt, aber mehrmals habe ich schon gedacht: „Ist das vielleicht der eine Einsatz, von dem ich nicht mehr zurückkomme?“

Ich muss gar nicht selbst betroffen sein, auch andere Ereignisse können das Gefühl von Bedrohung auslösen oder verstärken. Während der Coronapandemie wurde an einer Tankstelle ein junger Mann erschossen. Er hatte den Täter zum Tragen einer Maske aufgefordert. Die Tankstelle kenne ich gut und im Rettungsdienst habe ich häufig selbst erlebt, dass Hilfsbedürftige oder Angehörige keine FFP2-Maske tragen wollten. Ich dachte: „Der Mörder hätte einer unserer Patienten sein können. Es hätte auch einen von uns treffen können. Was wäre, wenn bei uns jemand eine Waffe zückt?“

Es ist nicht so, dass ich jede Nacht schlecht schlafe oder mit Angst zur Arbeit gehe. Den meisten Situationen fühle ich mich gewachsen. Aber ich erlebe eben immer wieder, dass eine Situation eskaliert, die normal begonnen hat. Das wirkt sich auf meine Psyche aus. Ich bin vorsichtiger, beobachte die Umgebung, beobachte die Menschen. Ich stelle mir vor, was alles passieren könnte. Darum habe ich bei der Motorradgruppe gleich mit einem Angriff gerechnet.

Hilfe für die Lebensretter

Wenn ich mich bedroht fühle, packt mich Angst um mein Leben. Sie verfolgt mich, selbst wenn nichts passiert ist. Denn tatsächlich hat uns auf der Landstraße im Wald niemand angegriffen. Trotzdem blitzte die Situation in den Tagen danach immer wieder vor meinen Augen auf. Mir stockte der Atem. Ich fühlte, wie die Angst über mich schwappte.

Zum Glück haben wir Unterstützung. Unser Rettungsdienst wird von einem Psychotherapeuten begleitet, bei dem wir kurzfristig Termine bekommen. Fünf Stunden pro Jahr stehen jeder und jedem zu. Das reicht nicht, um alle Vorfälle aufzuarbeiten, aber es ist ein Anfang. Außerdem haben wir kollegiale Ansprechpersonen, an die wir uns wenden können.

Wenn ich an meine 30 Jahre im Beruf zurückdenke, hätte ich mir schon viel früher Hilfe gewünscht. Lange hat man versucht, Probleme mit einer Kiste Bier zu lösen. Es hieß: „Wir sind harte Männer. Wir stecken das weg.“ Frauen gab es ja damals kaum im Rettungsdienst.

Wenn einmal etwas passieren sollte: Patientenverfügung, Testament – das habe ich, da möchte ich vorbereitet sein. Aber sonst? Ich habe so viele Leben zu Ende gehen sehen, ich müsste viel bewusster leben. Intensiver. Achtsamer. Jeden Tag genießen. Manchmal flackert dieses Gefühl kurz in mir auf, dann schluckt es der Alltag. Morgens um fünf springe ich aus dem Bett, gehe zum Dienst und falle abends wieder ins Bett. Da bin ich wie die meisten: ein Hamster in seinem Rad.

Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Dann lesen Sie auch gerne, was Psychologin Anne Herr über Folgen und Schutzmaßnahmen bei Gewalt im Rettungsdienst verrät in Gewalt im Beruf.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2024: Glückliche Stunde gesucht
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