Oktoberfest: Masse, Rausch und Ritual

Das Münchner Oktoberfest: Ein dankbarer Ort für Feldstudien über die Gesetze der Masse, die Macht von Ritualen und die Psychologie des Rauschs.

Ein Mann mit Schnurrbart und bayrischer Tracht torkelt betrunken herum, verliert dabei seinen Hut und seinen Schuh und verschüttet dabei sein Bier
Oktoberfest: Ein Rausch aus Ritual, Verbundenheit sowie Glücksgefühlen - und Bier. © Martin Krusche für Psychologie Heute

Seid mir gegrüßt, ihr Wiesnpilger,

Ihr Sechsmillionen-Maß-Vertilger!

Ich muss an bierverklebten Tischen

Mich wieder fröhlich mit euch mischen,

Muss mit euch jauchzen im Verein:

„Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“

Gedicht von Eugen Roth

Die Historie

Seit 213 Jahren strömen die Menschen jedes Jahr auf die Theresienwiese in München, um das Oktoberfest zu feiern. Das Oktoberfest war schon immer ein Massenereignis, ein Fest der Superlative. Es begann mit der Hochzeit des bayerischen Kronprinzen Ludwig…

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mit der Hochzeit des bayerischen Kronprinzen Ludwig I. mit Therese von Sachsen-Hildburghausen am 12. Oktober 1810. Aus diesem Anlass sollte ein „klassisch-schönes und gleichzeitig vernünftig-nützliches Fest“ gefeiert werden, eine sinnstiftende zentrale Veranstaltung sollte es sein, auch um die – durch die napoleonischen Kriege zerstrittenen – Bayern zu vereinen. In diesem Sinne war das erste Oktoberfest durchaus politisch motiviert.

Zur königlichen Hochzeit wurden am Tag darauf die höheren Stände in den Wirtshäusern und die „herbeygeströmten Volkshaufen“ in der Münchner Innenstadt verköstigt, die sehr ansehnliche Mengen verspeisten: 32000 Semmeln, 4000 Pfund Schweizer Käse, 80 Zentner gebratenes Schaffleisch, rund 21400 Würste sowie 23200 Liter Bier und 400 Liter Weißwein wurden verzehrt. Schon damals kam eine Masse von etwa 25000 Gästen zusammen. Dieser Abend kann als das erste Oktoberfest gelten.

2019 wurden im Vergleich dazu 124 Ochsen, 29 Kälber, knapp 436500 Brathähnchen und 7,7 Millionen Liter Bier zu sich genommen. Auch seinen Standort, die Theresienwiese, fand das Oktoberfest in diesem Jahr 1810. Denn dort wurde anlässlich der Feierlichkeiten ein Pferderennen ausgetragen – ein Volksvergnügen, das bis in die 1960er Jahre stattfand. Allerdings gab es dort fünf Jahre lang keinen Bierausschank! Kaum zu glauben.

Die Masse

Ausgehend von der Theorie der Masse von Elias Canetti lässt sich sagen, dass das Oktoberfest mit jährlich sechs bis sieben Millionen Besuchern definitiv die Kriterien einer kollektiven Festmasse erfüllt. Betrachtet man das kollektive Feiern in den Zelten mit an die 10000 Sitzplätzen, kann man von einer homogenen, eher geordneten Festmasse sprechen, auf dem Festplatz handelt es sich hingegen um eine heterogene Festmasse, die chaotisch und ungeordnet ist. Die Kriterien der Festmasse nach Canetti – die angestrebte Gleichheit aller, die große Dichte und die gemeinsame Ausrichtung hin auf ein Ziel, welches hier das Fest selbst ist, sowie die ständige Tendenz, immer weiter zu wachsen – treffen alle auf die festliche Masse in den Oktoberfestzelten zu.

Hierbei ist das Gemeinschaftsgefühl – die Zugehörigkeit am Biertisch, die gemeinsame Gaudi, das Singen, Schunkeln und Hüpfen auf den Bänken – für die meisten Gäste am wichtigsten. Laut Canetti und Freud bietet die Masse den Individuen zudem ein großes Maß an Anonymität, so dass das exzessive und unangemessene Verhalten in einer ausgelassenen Masse von Menschen keine Konsequenzen nach sich zieht. Die Anonymität in der Masse gibt Einzelnen erst die individuelle Freiheit loszulassen, was eine euphorische Ausgelassenheit, eine gewisse Grenzenlosigkeit und Ekstase möglich macht.

Die feiernde Masse gebe dem Individuum die seltene Gelegenheit, seine verdrängten, tabuisierten Wünsche und Bedürfnisse in der Realität auszuleben, meint Freud. Wichtig sei dabei die Aufhebung aller Unterschiede in der Masse, die Gleichheit aller und das Verschmelzen zu einem großen Ganzen. Deshalb auch die einheitliche Kleidung, Dirndl und Lederhosen. Was Freud die „primitive Natur“ der Masse oder auch die „kollektive Intelligenzhemmung“ der Masse nennt, deren IQ laut Freud im ekstatischen Rausch auf ein niedriges Niveau herabsinkt, befördert die Übertretung von Regeln, Ausschweifungen aller Art, kollektive Euphorie und Ekstase.

Dies sind die Dinge, die auf einem rauschhaften Fest wie dem Oktoberfest auch die dionysische Qualität ausmachen. Den Kopf ausschalten, „völlig losgelöst“, die „Hände zum Himmel“ und fliegen „wie a Flieger“ – diese Liedtexte auf dem Oktoberfest künden von dem Wunsch, leicht zu sein, abzuheben, sich aus dem Alltag zu lösen und sich dem sinnlichen Lustgewinn im Massenerlebnis zu überlassen. Wer möchte, kann dies fast jeden Abend auf der Wiesn in 17 großen und 21 kleinen Bierzelten miterleben.

Die Sucht

„Ja, die Wiesn ist eine Sucht“, antworten die meisten einheimischen Oktoberfestbesucher spontan. Viele Münchner sagen, sie seien „wiesnsüchtig“, süchtig nach dem Oktoberfest an sich, dem „Gesamtzustand Wiesn“, den großen Bierzelten, den bunten Buden, den lauten, wilden Fahrgeschäften, der Musik von traditioneller Blasmusik bis zu zeitgenössischen Wiesnhits, den vielfältigen gastronomischen Genüssen, der schieren Masse an Besuchern, den zahlreichen Trachten, den vielen neuen Begegnungen mit Menschen, dem schönen blau-weißen Himmel, dem sonnigen Spätsommerwetter, den überlieferten Traditionen der Wiesn und diesem bayerischen Gefühl an sich.

Die „Wiesnsucht“ hat nach Freud natürlich mit dem Lustgewinn zu tun und damit, die übliche Selbst- und Affektkontrolle loszulassen. Die geforderte Sublimation der libidinös-sinnlichen Bedürfnisse wird weitgehend aufgehoben und die Entsagungen des Alltags werden im fröhlichen Rausch kompensiert. Überfülle und Überflutung mit Essen und Trinken, Süßigkeiten, Konsumartikeln, Musik, Lichtern und Fahrgeschäften gibt es auf dem Oktoberfest reichlich, denn von allem ist zu viel vorhanden. Und alle genießen diese festliche Fülle, wohl auch um die innere Unausgefülltheit und den seelischen Mangel des Alltags auszugleichen.

Platons Philosophie von den „leeren Krügen“, die „ohne Boden“ sind und deshalb nie wirklich gefüllt werden können, ist eine Metapher der Sucht. Sie veranschaulicht den – metaphorisch wie buchstäblich – süchtigen Prozess des ständigen Auffüllens und Entleerens, der nur dem momentanen Lustgewinn dient. So die Konsumgesellschaft, so unser Alltag, so das Oktoberfest: innere Leere als Antrieb für Konsum und Rausch. Auf der Wiesn wird das alles komprimiert in sehr großer Dichte sichtbar. Das Oktoberfest zeigt das Drama der menschlichen Existenz auf kleinstem Raum.

Der Rausch

Die Wiesn ist ein Rausch an Farben, Lichtern, Klängen, Bewegungen, Düften, vielfältigen Sinneseindrücken und Genüssen. Ein sinnlicher Rausch, wie er sonst in dieser Dimension auf einem Volksfest kaum zu finden ist. Bis zu 450000 Besucher sind an Samstagen auf dem Oktoberfest gezählt worden. Das ist Fülle in jeder Hinsicht und diese Fülle und Dichte mag manche Besucher überwältigen, doch sie begeistert und beflügelt auch, diese Größe und Vielfalt fasziniert und belebt. Das hat etwas Grenzenloses, da darf konsumiert und gefeiert werden. Was Norbert Elias die „Selbstzwangapparatur des Individuums“ nennt, die Selbstbeschränkung, um im Alltag zu funktionieren, wird in rauschhaften Zuständen aufgehoben. Was Freud als das „Unbehagen in der Kultur“ bezeichnet, die allzu lange unterdrückte sinnlich-triebhafte Natur, tritt in Rauschzuständen wie auf dem Oktoberfest wieder zutage.

Das Bier befördert diesen Rausch natürlich, doch „den Wiesnrausch, den gibt’s auch ohne Bier“, sagen viele Besucher und sie meinen dieses berauschende Hochgefühl, das alle in einer beflügelnden Stimmung mitreißt. Das begeisterte Treiben auf dem Festplatz, der Geschwindigkeitsrausch in den Fahrgeschäften, bunte Lichter, laute Musik, Bewegung überall, Unmengen von bunten Ballons und Stofftieren, die verlockenden Düfte vom Hendlgrill und unzählige süße Leckereien können durchaus eine Art euphorischen „Wiesnrausch“ erzeugen.

Dieser individuelle Rausch der Sinne auf dem Festplatz unterscheidet sich vom kollektiven Rausch in den Bierzelten, wo sich die homogene Masse in Räumen groß wie Kathedralen in Trance trinkt und singt. Dort, in dieser Dichte an den Biertischen ist die kollektive Wiesnstimmung zu Hause, die Auflösung der individuellen Selbstkontrolle, das „freie“ – bisweilen für andere auch unangenehme oder gar übergriffige – Ausleben von Gefühlen. Die dionysisch anmutende Ekstase erreicht ihren Höhepunkt täglich gegen 22 Uhr, wenn die Stimmung am höchsten ist. Um 22.30 Uhr ist Schluss, jeden Tag ein jähes Ende! Herausgerissen aus Euphorie und Gaudi, kommen dann manchmal der Absturz und der Katzenjammer – also nicht immer ein erlösendes Erlebnis, der Wiesnabend.

Die Communitas

Bier bekommt man auch draußen in den Biergärten. Dennoch warten viele Besucher vor den Zelten auf Einlass, weil sie wissen, dass die Stimmung drinnen viel intensiver und ekstatischer ist als auf dem Festplatz. Die homogene Festmasse in den Zelten unterscheidet sich von der heterogenen Masse auf dem Festplatz vor allen durch ihre Dichte. Die mächtigen Gesänge von fast 10000 Menschen, das Schunkeln und Stehen auf den Bänken, das wiederholte Ritual mit dem „Prosit der Gemütlichkeit“, das gemeinsame Zuprosten, die klirrenden Maßkrüge, das gemeinsame Trinken, das Teilen von Bier und Brezen, das Verbrüdern am Biertisch, das entspricht durchaus einer Kommunion.

Was der Ethnologe Victor W. Turner die „spontane Communitas“ nennt, die spontane Vereinigung und Verschmelzung der Beteiligten als berauschender Höhepunkt eines gemeinsamen Rituals, lässt sich täglich in den Bierzelten auf der Wiesn beobachten. Die feiernde, singende, schunkelnde und auf den Bierbänken hüpfende Masse in den Zelten wird zur euphorischen Bierzeltgemeinde – eine ekstatische Kommunion. Friedrich Nietzsche assoziierte solche Vereinigungen im Rausch – mächtig, erhebend und transzendent – mit dem griechischen Rauschgott Dionysos. Nietzsche schrieb über den dionysischen Rausch: „Singend und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: Er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen.“

Das Ritual

Das gesamte Oktoberfest ist ein Ritual, das seit 1810 im Jahreslauf der Stadt München einen festen Platz eingenommen hat. Vier Monate, von Mitte Juli bis November dauern der Auf- und Abbau. Das Oktoberfest erfüllt zudem alle Aspekte eines Festrituals, welche folgende sind: Ein Ritual braucht einen festen Ort, einen Ritualplatz, in diesem Fall die Theresienwiese; einen bestimmten Zeitraum, hier 16 Tage von Mitte September bis Anfang Oktober; eine bestimmte Ausstattung des Körpers mit einem Ritualgewand, im Falle der Wiesn sind das Dirndl und Lederhosen. Dann braucht es spezielle rituelle Gegenstände, hier der Maßkrug als rituelles Gefäß, darin das rituelle Getränk, das Wiesnbier. Rituelle Speisen sind auf der Wiesn traditionell Hendl und Brezen, alles mit den Fingern gegessen.

Die rituellen Gesänge sind die Wiesnlieder, bayerisch-traditionell oder schlagerlastig, mit dem alljährlich vom Publikum „gekürten“ Wiesnhit. Zu den rituellen Gesten und Gebärden gehören jene Lieder, die zu gemeinsamen Bewegungen anregen (Macarena, Ententanz, Fliegerlied…). Ein sich wiederholender ritueller Rhythmus der Musik ist entscheidend, um von der kognitiven Wahrnehmung weg und hin zu körperlich-sinnlichem Erleben zu kommen.

Der wichtigste Teil der rauschhaften Wiesnrituale ist deshalb das in den Zelten oft viertelstündlich wiederholte bayerische Trinkritual „Ein Prosit der Gemütlichkeit“ mit der vom Dirigenten der Festkapelle, dem Ritualleiter, gegebenen rituellen Anweisung: „Die Krüge hoch! 1, 2, 3, gsuffa!“ So werden alle im Zelt zum kollektiven Heben der Maß, zum Anstoßen mit Maßkrugklirren – und zum Trinken aufgefordert. Nirgends wird dieses wie ein Mantra wiederholte Trinkritual so dezidiert zelebriert wie in den Festzelten auf dem Oktoberfest. Der Wirt verdient zudem sehr gut damit, denn beim kollektiven Zuprosten beim „Prosit der Gemütlichkeit“ gehen in jedem Zelt rund 1000 Liter Bier weg, werden entweder getrunken oder verschüttet.

Zuletzt darf nach dem Ziel des rauschhaften Rituals gefragt werden. Alles nur profan? Vielleicht, wer das so sehen mag. Eigentlich jedoch dienen Rauschrituale sakralen Zwecken, der Loslösung aus alltäglichen Befindlichkeiten, hin zur trans­zendenten, Fruchtbarkeit verheißenden Vereinigung mit einem Rauschgott oder einer Rauschgöttin. Über der Theresienwiese thront seit 1850 die beeindruckende Bronzestatue der Bavaria – der Allegorie Bayerns. Also gibt es doch eine den Rausch segnende Wiesngöttin?

Dr. Brigitte Veiz ist Psychologin und Psychotherapeutin in München. Seit 2003 führt sie mit der „wissenschaftlichen Oktoberfestführung“ Gäste über die Wiesn.

Quellen

Brigitte Veiz: Das Oktoberfest. Masse, Rausch und Ritual. Psychosozial 2007

Brigitte Veiz: Wiesnwahnsinn. Wahre Absurditäten vom Oktoberfest. Hirschkäfer 2010

Elias Canetti: Masse und Macht. Fischer 1980

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2023: Raus aus der Erschöpfung