Frau Leucht, Sie wenden sich mit Ihrem Diagnose- und Therapieangebot speziell an junge Erwachsene. Warum?
Der Übergang vom Jugendalter ins Erwachsenenalter, also die Jahre zwischen etwa 16 und 25, ist an sich schon eine sensible Phase mit vielen Veränderungen. Seit vielen Jahren haben Fachgesellschaften, Medizinerinnen und Psychotherapeuten den Bedarf erkannt, diesem Lebensabschnitt verstärkt Aufmerksamkeit zu widmen. Und auch wenn ich schon jahrelang als Psychiaterin arbeite, lerne ich immer noch dazu und…
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zu widmen. Und auch wenn ich schon jahrelang als Psychiaterin arbeite, lerne ich immer noch dazu und muss mein herkömmliches Vorgehen verändern und weiterentwickeln.
Meinen Sie damit speziell Ihre Arbeit in der sogenannten Transitionspsychiatrie?
Ja. Bislang gab es die Kinder- und Jugendpsychiatrie auf der einen und die Erwachsenenpsychiatrie auf der anderen Seite. Oftmals schaffen aber Patientinnen und Patienten den Übergang von der einen in die andere Einrichtung nicht und fallen durch die Netze. Andere befinden sich im jungen Erwachsenenalter zum ersten Mal in einer Lebenskrise und erleben Symptome, die sie nicht einschätzen können. Wir haben hier am Max-Planck-Institut für Psychiatrie seit März 2023 die Möglichkeit, diese jungen Menschen auf einer transitionspsychiatrischen Station zu behandeln. Wir sehen uns als Brücke zwischen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Erwachsenenpsychiatrie. Mit Behandlungskonzepten aus beiden Disziplinen.
Dieses Konzept ist noch nicht sehr weit verbreitet. Es gibt in Deutschland erst eine gute Handvoll Kliniken, die auch über einen transitionspsychiatrischen Bereich verfügen.
Ich glaube aber, dass wir einen Umbruch erleben. Es gibt auch bei dem Deutschen Zentrum für Psychische Gesundheit eine eigene Gruppe, die diese Entwicklung untersucht. Die Erkenntnis, dass wir gut auf diese Altersgruppe der jungen Erwachsenen schauen müssen, ist auf jeden Fall da. Auch am Ende der Pubertät weiß man oft nicht: Was ist jetzt der Anteil der Hormonumstellung, was sind normale Findungskrisen oder Zukunftsängste und wo fängt eine Depression an?
Auch der Tag-Nacht-Rhythmus ist bei Jugendlichen oft verschoben, und die meisten ziehen sich in dieser Phase von den Eltern zurück. Das muss nichts bedeuten, kann aber ein Anzeichen sein, dass es jemandem wirklich nicht gutgeht. Wenn Sie im Vergleich dazu einen älteren Erwachsenen haben, der schon ganz genau weiß, wie sich eine Depression anfühlt, dann ist das in der Behandlung etwas ganz anderes.
Was unterscheidet die Therapieangebote in der Transitionspsychiatrie von denen in der Erwachsenenpsychiatrie?
Der Kontakt zu den Patienten und Patientinnen ist enger und wir übernehmen erzieherische Aufgaben, vermitteln Anerkennung oder belohnen. Die therapeutische Beziehung ist fürsorglicher, weil es oft nichterfüllte Bedürfnisse aus der Kindheit gibt. Die versuchen wir zu erfüllen und nennen das „nachbeeltern“. Und wir binden stärker Bezugspersonen mit ein, das kann ein Schulpsychologe oder andere nahestehende Person sein wie Eltern, Tanten oder Freundinnen. Wichtig ist, dass die jungen Erwachsenen einen für sie engen Vertrauten mit an Bord haben, der sie kennt und ihnen wohlgesonnen ist. In der Erwachsenenpsychiatrie sind die Beziehungen zwischen Erkrankten und Therapeutinnen in der Regel nicht so eng.
Gibt es denn eine klare Grenze zwischen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Erwachsenenpsychiatrie?
Eine Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist ab dem achtzehnten Lebensjahr eigentlich abgeschlossen. Es gibt Psychologen oder Psychiaterinnen, die betreuen ihre Patientinnen und Patienten auch danach. Andere müssen sich einen neuen Therapieplatz suchen. Viele sind aber noch nicht so weit, sich eigenständig um einen neuen Platz zu bemühen, oder müssen zu lange warten. Das führt zu einer hohen Abbruchquote in diesem Altersbereich. Für solche jungen Menschen wollen wir eine Anlaufstelle sein.
Mit welchen Problemen kommen diese zu Ihnen?
Das ist ganz unterschiedlich. Wir behandeln affektive Störungen wie die Depression oder Angststörungen, aber auch Zwangsstörungen und seltener psychotische Erkrankungen. Vertreten sind auch ADHS, Autismus oder Suchterkrankungen. Cannabis ist dabei ein großes Thema, ebenso wie exzessiver Medienkonsum, also von bis zu vierzehn oder sechzehn Stunden am Tag. Die jungen Erwachsenen verlieren dann komplett ihren Tag-Nacht-Rhythmus und nehmen nicht mehr aktiv am Leben teil – sie sind regelrecht abgekoppelt. Man kann sagen, dass sie anderen beim Leben zuschauen. Aber ich will die Medien gar nicht verteufeln. Da gibt es natürlich auch Vorteile, das muss man schon auch sehen. Man kommt leicht an Informationen und kann Kontakte zu Menschen halten, die weit weg sind.
Behandeln Sie auch Persönlichkeitsstörungen?
Bei einem Teil der Patienten und Patientinnen sehen wir Anzeichen einer Persönlichkeitsstörung, wie zum Beispiel eine Borderlinepersönlichkeitsstörung, wobei man hier vorsichtig sein muss, weil die Persönlichkeit in diesem Alter noch in Entwicklung ist. Wir wollen deshalb noch keine Diagnosen stellen, aber gehen in der Behandlung darauf ein, wenn sich eine Persönlichkeitsstörung andeutet.
Die Symptome von psychischen Erkrankungen sind bei jungen Erwachsenen zudem manchmal nicht die klassischen.
Wie meinen Sie das?
Nehmen wir zum Beispiel die Depression: Bei den Erwachsenen kann sich die Erkrankung ganz anders zeigen. Die Hauptsymptome sind nach der ICD-10, dem internationalen System zur Klassifikation von Diagnosen, klar definiert: gedrückte Stimmung, Antriebslosigkeit und Freud- und Interessenlosigkeit. Die soziale Abkopplung und ein negatives Selbstbild bis hin zum Selbsthass sind typisch.
Junge Erwachsene spüren das oft auch, aber sie empfinden auch häufig Wut, Gereiztheit und Angst. Sie fühlen sich meist extrem hilflos und empfinden eine überwältigende Not – was völlig nachvollziehbar ist, sie können ja noch gar nicht einordnen, was da mit ihnen passiert. Manchmal richten sich diese negativen Gefühle nach innen und sie entwickeln Bewältigungsstrategien wie selbstverletzendes Verhalten. Die Bandbreite der Symptome ist aber wie bei den Erwachsenen wirklich groß.
Wer stellt den Kontakt zu Ihnen her, die Jugendlichen selbst oder eher die Eltern?
Das ist gemischt. Häufig sind es die Eltern oder Therapeutinnen und Therapeuten, wenn die Jugendlichen schon in Behandlung sind. Aber viele von ihnen kommen auch selbst. Wenn Eltern uns um Hilfe bitten, brauchen wir natürlich das Einverständnis der Betroffenen, um sie zu behandeln. Aber die Jugendlichen müssen wirklich dafür bereit sein, mit uns zu arbeiten. Ansonsten können wir ihnen nur das Angebot machen, dass sie gerne wiederkommen dürfen.
Wir können auch die Eltern nicht beraten, wenn die Kinder nicht damit einverstanden sind. Wichtig ist, immer zu schauen, ob die jungen Patienten suizidal sein könnten. Viele verstecken das regelrecht, weil sie ihre Eltern nicht belasten wollen. Gleichzeitig gibt es Jugendliche, bei denen die Hemmschwelle für eine Behandlung sinkt, wenn die Eltern sie darin unterstützen. Es ist sehr individuell, vor welchem Hintergrund die Behandlung startet.
Beziehen Sie die Eltern dann auch aktiv in die Therapie mit ein?
Ja, das ist schon so. Wir finden es gut, wenn die Eltern zum Vorgespräch mitkommen. Uns interessiert, wie sich die Situation aus ihrer Sicht darstellt. Wir schnüren auch ein kleines Informationspaket für die Eltern mit Material über die psychischen Erkrankungen und die Besonderheiten, die ihr Kind betreffen, und geben Auskunft über Anlaufstellen, wenn die Eltern weitere Unterstützung brauchen. Damit wollen wir vorbeugen, dass die Eltern ungefiltert den Informationen aus dem Internet ausgeliefert sind – da stehen zum Teil wirklich schlimme Dinge über die Psychiatrie, gerade auch über Medikamente.
Kann man sagen, dass der Fokus der Transitionspsychiatrie neben der Behandlung der Erkrankung auch darauf liegt, dass Jugendliche ihre persönliche Entwicklung zum Erwachsenen weiterverfolgen können?
Wir legen in der Tat Wert darauf, dass grundlegende Dinge, die zum Erwachsenwerden gehören, hier auch erlernt werden können. Wir sind zum Beispiel gerade dabei, eine neue Psychotherapiegruppe zu etablieren, in der es speziell um Kommunikation geht. Wir wollen vermitteln, wie man über Dinge sprechen kann, ohne dass es verletzend wirkt. Oder andersherum: Wie kann man selbst verstehen, was andere zu mir gesagt haben? Gerade wenn junge Menschen, bedingt durch ihre Erkrankung, wenig Kontakt zu Gleichaltrigen haben, sind solche Fähigkeiten oft nicht gut entwickelt.
Ist es dafür von Vorteil, wenn die Jugendlichen bei einem stationären Aufenthalt einige Wochen unter sich sind?
Ja, aber es geht nicht nur darum, dass sich die jungen Menschen austauschen, zusammen lernen und sich auch mal aneinander reiben können. Wir haben auch eine Ziele- und Bilanzgruppe, die sehr wichtig ist. In dieser strukturieren die Patientinnen und Patienten zusammen mit dem pflegerischen Personal ihren Tag und setzen sich konkrete Ziele. Am nächsten Tag wird dann geschaut, ob es funktioniert hat. Die Jugendlichen lernen so, ihre Ressourcen richtig einzusetzen, um weiterzukommen. Am Anfang ist meist ein geregelter Tagesablauf schon ein Problem. Und dann arbeiten wir auch noch mit einem Role-Model-Ansatz.
Wie sieht der aus?
Auf unserer Station bringen wir die jungen Menschen gezielt mit Älteren in Kontakt. Zum Beispiel im Rahmen einer Ergotherapiestunde, während der Mahlzeiten oder im Aufenthaltsraum. Von dem Austausch profitieren viele unserer Patienten und Patientinnen. Die jungen Menschen sehen, wie man mit einer psychischen Erkrankung durchaus gut leben kann, also dass man eine Familie und einen Beruf haben kann, und vor allem, dass es Phasen geben wird, die schwierig sind, aber es sich lohnt, daran zu arbeiten. Viele finden Vorbilder und werden von diesen auch ermutigt: „Schau her, ich habe es auch geschafft.“
Was sind die Herausforderungen dabei?
Bei den Gleichaltrigen muss man ein gutes Gespür für die Stimmung in der Gruppe haben. Wenn sich die Jugendlichen gegenseitig runterziehen oder es Konflikte gibt, sollte man definitiv gegensteuern.
Beim Role-Model-Ansatz ist es so, dass Jüngere von den Erfahrungen der Älteren lernen können. Es kann aber vorkommen, dass der Lebensweg von Älteren auch abschreckt, zum Beispiel durch eine Suchterkrankung oder Obdachlosigkeit. Wenn ein junger Patient das anspricht, überlegen wir zusammen, was man tun kann, um selbst einen anderen Weg einzuschlagen. Es geht viel um Mitarbeit und Motivation.
Nehmen die jungen Patienten und Patientinnen auch am Therapieangebot der Erwachsenenpsychiatrie teil?
Es gibt Gruppen, die sind speziell für die transitionspsychiatrische Station und es gibt offene Angebote, an denen alle Patientinnen und Patienten im Haus teilnehmen können.
Wie sieht denn ein typischer Tag auf dieser Station aus?
Unser Tag fängt frühmorgens an. Das ist am Anfang für viele hart, aber Struktur ist wichtig. Um halb neun startet die erste Gruppe, die Ziele- und Bilanzgruppe. Neben Psychotherapie in Gruppen, Einzeltherapie und Arztgesprächen haben wir weitere unterschiedliche Therapiegruppen. Eine reine transitionspsychiatrische Gruppe für Ergo- und Arbeitstherapie zum Beispiel, in der die jungen Erwachsenen lernen, miteinander im Team an Projekten zu arbeiten, aber auch Bedürfnisse und Gefühle zu erkennen und zu formulieren. In der Arbeitstherapie stehen die kognitiven Fähigkeiten im Fokus. Wir haben zudem eine neuropsychologische Einheit am Computer, die sich auf Ressourcen und Defizite fokussiert. Hier können wir beispielsweise herausfinden, ob jemand Probleme mit der Konzentration hat, denn psychische Erkrankungen gehen oft mit neurophysiologischen Defiziten einher.
Welche Angebote machen Sie den jungen Menschen noch?
Außerdem entwickeln wir gerade eine eigene Transitionspsychotherapiegruppe mit vier zentralen Punkten: Aufklärung über psychische Erkrankungen, alterstypische Abhängigkeiten wie von Cannabis oder Medien, Kommunikation und Suizidalität. Wir haben auch eine Sporttherapie nur für die junge Zielgruppe. Hier brauchen wir natürlich ein anderes Angebot als bei den älteren Menschen. Da darf man sich richtig austoben oder mit dem Skateboard in die Halfpipe gehen. Unser Sporttherapeut bietet auch therapeutisches Boxen in Einzeltherapie an. Gerade das Boxen setzt Emotionen frei, zu denen viele Patienten erst mal gar keinen Zugang haben.
Besonders stolz bin ich auf unsere Literaturgruppe, die „Lese-Oase“. Da liest unsere Pressesprecherin immer aus einem Buch, in dem die Hauptperson eine psychische Erkrankung hat. Die Patienten können auch eigene Geschichten entwickeln und selbst verfasste Kurzgeschichten vorlesen, wenn sie möchten. Hierbei geht es ebenfalls um den Zugang zu den eigenen Emotionen.
Die Angebote werden nicht alle von allen wahrgenommen, aber wenn man für eine Gruppe angemeldet ist, dann muss man auch regelmäßig hingehen.
Was möchten Sie mit dem Therapieangebot erreichen?
Ursprünglich wollten wir eine Krisenintervention anbieten, damit die Jugendlichen möglichst schnell wieder in ihren Alltag mit Schule, Ausbildung, Studium oder Berufsleben zurückkehren können. Geplant war ein Aufenthalt von fünf bis sechs Wochen. Wir haben aber festgestellt, dass das nicht ausreicht.
Wieso?
Oft stehen Anknüpfangebote nicht. Wenn jemand noch auf der Warteliste für eine Anschlusstherapie steht und wir aber sehen, dass die Person nicht stabil genug ist, um auf eigenen Beinen zu stehen, dann laufen wir Gefahr, dass all das, was wir während des Aufenthalts hier erarbeitet haben, wieder verlorengeht.
Zusätzlich brauchen die Patientinnen und Patienten meist eine längere Zeit, um anzukommen, als wir gedacht hatten. Wir sprechen jetzt eher von durchschnittlich acht bis zehn Wochen Aufenthalt.
Noch mal zurück zu den Therapiezielen.
Sehr wichtig ist mir, dass unsere Patienten verstehen, dass sie mit Beginn einer psychischen Erkrankung nicht „nur Patienten“ sind, deren Lebensinhalt von der Erkrankung bestimmt wird. Sie sind Menschen mit einer psychischen Erkrankung, mit ihrer ganz eigenen Persönlichkeit, ihren eigenen Zielen und Perspektiven. Wir sehen unsere Aufgabe darin, Stabilität wiederherzustellen und die Weichen für die Zukunft zu stellen.
Dr. Claudia Leucht ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Als Oberärztin am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München leitet sie die Privatstation und hat den Transitionsschwerpunkt in der Forschungsklinik aufgebaut.
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