Umihren Blutdruck zu messen, müssen Patienten heutzutage nicht mehr unbedingt zum Arzt gehen. Insbesondere für ältere Menschen gibt es mittlerweile verschiedene telemedizinische Geräte, die zu Hause problemlos genutzt werden können. Auch Blutzuckerwerte oder Gewicht lassen sich in der eigenen Wohnung feststellen. Die Daten werden automatisch an ein Kontrollzentrum gesendet, das rund um die Uhr besetzt ist. Stimmt etwas mit den Werten nicht, dann kann das Fachpersonal mit dem Betroffenen Kontakt aufnehmen –…
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kann das Fachpersonal mit dem Betroffenen Kontakt aufnehmen – oder jemanden vorbeischicken. Dank solcher Technologien sollen ältere Menschen künftig länger in ihrer vertrauten Umgebung leben können.
Inzwischen haben auch Psychiater und Psychologen vergleichbare telemedizinische Technologien für sich entdeckt. Besonders vielversprechend sind die jüngsten Fortschritte des Wearable Computing (englisch für: tragbare Computersysteme). Dabei handelt es sich um Messinstrumente, die in der Kleidung, in einer Uhr oder einer Brille versteckt sind. Im Alltag sammeln sie Daten, die dann Rückschlüsse auf die Emotionen der Patienten erlauben. Die technischen Geräte fallen dabei kaum auf. Das ist ein Vorteil, denn: „Menschen mit einer Psychose oder mit schweren Depressionen zeigen sich ungern mit Messgeräten auf der Straße“, sagt Paul Lukowicz vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Kaiserslautern. Bei physiologischen Störungen sei das anders. Dort führe auch sichtbare Technik selten zu Akzeptanzproblemen. „Es ist normal, einen Tag lang etwa mit einem Blutdruckmessgerät herumzulaufen“, meint Lukowicz.
Doch ist die Hightechunterstützung für Therapeuten schon einsatzfähig? Derzeit werden an mehreren Hochschulen Wearable Computing-Anwendungen für Menschen mit einer bipolaren affektiven Störung getestet. Die Patienten erleben extreme Stimmungsschwankungen – sie oszillieren zwischen schwerer Depression und Manie. Kristof Van Laerhoven von der Technischen Universität Darmstadt erprobt nun gemeinsam mit dem Karlsruher Institut für Technologie die mobile Überwachung der Betroffenen. Der Sensor, den der Forscher entwickelt hat, sieht aus wie eine Uhr. Er wird am Armgelenk getragen und misst die Beschleunigung der Armbewegung, die Umgebungstemperatur und die Helligkeit.
Dank Sensordaten Stimmungsschwankungen bei der bipolaren Störung erkennen
Die Probanden geben zunächst an, welchen Aktivitäten sie in ihrer Freizeit nachgehen – zum Beispiel Klavierspielen, Tennis oder Fußball. Eine Software kann anhand der gemessenen Beschleunigungsdaten diese Aktivität erkennen und ihre Dauer sowie Intensität aufzeichnen. „Wenn jemand zum Beispiel stundenlang ununterbrochen Tennis spielt, ist das ein Indikator für eine manische Phase“, sagt Van Laerhoven. „Aus Beschleunigungs-, Temperatur- und Lichtdaten können wir zudem ermitteln, wann die Patienten schlafen oder untätig in ihrer Wohnung sitzen.“ Die Daten werden auf der Uhr gespeichert. Um die Informationen auszulesen, lässt sich das Gerät wie ein USB-Stick an einen Computer anschließen. In Therapiesitzungen besprechen die Ärzte oder Psychologen mit ihren Patienten die Zusammenhänge zwischen den Aktivitäten, den Schlaf- und Wachphasen und dem mentalen Zustand.
Van Laerhoven hat die Uhr als offenes System entwickelt. Jeder Forscher, der es nutzen möchte, kann es für eigene Zwecke umprogrammieren. Künftig ließe sich das System etwa mit externen Sensoren kombinieren. So könnte zum Beispiel an Gegenständen wie einem Staubsauger oder einem Tennisschläger ein Funkchip angebracht werden. Die Idee: Nähert sich die Hand dem Gerät, dann empfängt die Uhr das Signal des Funkchips. Sie würde dann noch genauer erfassen, womit sich der Patient gerade beschäftigt.
Die Daten, die solche Systeme aufzeichnen, können für Therapeuten und Patienten sehr wertvoll sein. „Wir leiten Menschen mit bipolaren Störungen generell an, auf Stimmungsschwankungen zu achten“, sagt Martin Hautzinger, Leiter des Arbeitsbereichs Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Tübingen. „Die Patienten sollen ihre Aktivitäten, Belastungen, Schlafzeiten oder Medikamenteneinnahmen in einem Tagebuch dokumentieren. Das machen sie in der Regel noch mit Bleistift und Notizbuch.“ Mit Wearable Computing könnten die Therapeuten die Daten leichter auswerten und die Frühwarnzeichen gemeinsam mit den Patienten herausfiltern. „Menschen mit bipolarer Störung haben kein Gespür dafür, was normales Empfinden ist“, sagt Hautzinger. „Sie grübeln selbst über minimale emotionale Schwankungen nach, etwa wenn sie einfach mal gut drauf sind oder schlecht geschlafen haben. Sie empfinden das bereits als schlimme Vorzeichen.“ Die Patienten lernen anhand der Aufzeichnungen, wie die extremeren Stimmungsausschläge zustande kommen und wie sie sie steuern können. „Die heftigen Schwankungen lassen sich sehr stark durch Regelmäßigkeiten im Alltag beeinflussen, etwa einen gesunden Schlaf-wach-Rhythmus und die Vermeidung hoher Belastungen“, sagt Hautzinger. Die Daten erlaubten den Therapeuten zudem eine gezieltere Medikation.
Eyetracking lässt Verlauf einer Schizophrenie verfolgen
Auch Paul Lukowicz arbeitet an Systemen zur Messung bipolarer Störungen. Er kooperiert dafür mit Psychiatern des Tilak-Landeskrankenhauses in Hall, Österreich. 20 Probanden nehmen an dem Projekt teil. Derzeit experimentieren Lukowicz und seine Kollegen mit Smartphones, in die GPS-Navigation und Bewegungssensoren integriert sind. Sie zeichnen nicht nur die Aktivitäten der Patienten auf, sondern auch, wo sie sich gerade aufhalten. Außerdem können die Forscher bei Telefongesprächen mit Smartphones die Stimme der Patienten auf Stress hin analysieren. „Wir versuchen herauszufinden, mit welchen Daten und Algorithmen wir die Übergänge der mentalen Zustände genau identifizieren können“, sagt Lukowicz.
Am Tag wird aufgezeichnet, am Abend füllt der Patient einen elektronischen Fragebogen aus. Dabei entscheidet er, ob er neben seinen Antworten auch die täglichen Messdaten übertragen will. Stimmt er zu, gehen die Daten an die Therapeuten und – anonymisiert – auch an die Forscher, die damit die Software für die Diagnostik verbessern. „Die Psychiater sind von den bisherigen Ergebnissen beeindruckt“, sagt Lukowicz. „Das Gerät ist so etwas wie ein Röntgengerät für die Psychiatrie. Mit Wearable Computing müssen sich die Therapeuten nicht länger auf die Eigenwahrnehmung des Patienten verlassen.“ Martin Hautzinger gibt allerdings zu bedenken, dass solche Messungen die Eigennotizen der Patienten nicht vollständig ersetzen sollten. Das Aufschreiben habe Auswirkung auf das eigene Erleben. Diesen Effekt könne man in der Therapie nutzen.
Davon abgesehen wird der Einsatz von tragbaren Technologien in der Therapie wohl zunehmen. Künftig dürften auch sogenannte Datenbrillen wie Google Glass eine Rolle spielen – also Brillen, die gleichzeitig Computer sind und die Innenseite der Gläser auch als transparenten Bildschirm nutzen. So hat zum Beispiel Andreas Bulling vom Max-Planck-Institut für Informatik in Saarbrücken auf die Nutzungsmöglichkeiten des sogenannten Eyetracking hingewiesen. Gemeint ist damit das Aufzeichnen der Augenbewegungen. „Wir sehen in dieser Technologie ein großes Potenzial“, sagt Bulling. „Es gibt etwa im Zusammenhang mit Schizophrenie Studien, die belegen, dass mit der Verschlimmerung der Krankheit eine Veränderung der Augenbewegungen einhergeht.“ Therapeuten hätten durch das Eyetracking die Möglichkeit, den Krankheitsverlauf über einen längeren Zeitraum zu beobachten.
Welche Emotionen können mit Sensoren gemessen werden?
Beim Eyetracking gibt es zwei Ansätze. Zum einen werden die Augenbewegungen mit einer winzigen Infrarotkamera, die sich in die Brille einbauen lässt, aufgezeichnet. Ähnlich funktionieren zum Beispiel Sensoren, die in manchen modernen Fahrzeugen den Autofahrer warnen, wenn er seine Augen schließt. Allerdings benötigen die Kameraaufzeichnungen viel Rechenleistung und Energie. Die Batterie der Brille würde nur für etwa zwei bis drei Stunden reichen. Die zweite Möglichkeit ist die sogenannte Elektrookulografie. Dabei müssen auf der Haut links und rechts von den Augen oder oberhalb und unterhalb Elektroden angebracht werden. Sie messen die elektrische Spannung der Netzhaut, die sich bei Bewegung der Pupillen verändert. Noch ist die Methode weniger präzise als die Videoaufnahme. „Der Vorteil ist, dass diese Methode weniger Rechenleistung benötigt“, sagt Bulling. „Die Batterie würde derzeit für 13 Stunden reichen – man könnte sie also abends aufladen.“ Allerdings gibt es für solche Systeme bisher keinen Markt. Die Integration in Datenbrillen wird noch auf sich warten lassen, da Hersteller wie Google ihre Brillen als Lifestyle-Produkt vermarkten und sie nicht gern als medizinisches Gerät sehen.
Welche weiteren mentalen Zustände solche Technologien in Zukunft zu erfassen vermögen, ist noch unklar. Cornelia Kappeler-Setz hat in ihrer Dissertation an der ETH Zürich untersucht, welche Emotionen generell mit Sensoren gemessen werden könnten. Sie zeichnete verschiedene Daten auf: Herzfrequenz, Herzminutenvolumen, Gesichtstemperatur, Blutdruck, Hautleitfähigkeitsreaktion und Atmungsfrequenz. Die Forscherin wollte herausfinden, ob eine Software aus der Kombination dieser Daten Emotionen wie Freude, Wut, Traurigkeit, Überraschung, Angst oder Ekel herauslesen kann. Dafür muss der Körper allerdings ausgiebig verkabelt werden – Sensoren werden zum Beispiel am Finger, auf dem Gesicht und auf der Brust angebracht.
In einem ihrer Experimente zeigte Kappeler-Setz 20 Teilnehmern Filmausschnitte, die Erheiterung, Ärger, Zufriedenheit und Traurigkeit vermitteln. Dabei wurden Herzschlag, Muskelaktivität, Hautleitfähigkeit, Atmung und Fingertemperatur aufgezeichnet. Durch die Kombination solcher Daten lassen sich der Forscherin zufolge Emotionen deutlich besser erkennen. Verglichen mit der Messung einzelner Signaltypen lag die Erkennungsrate um 16,3 Prozent höher. In einem weiteren Experiment wurden 33 Testpersonen unter mentalen und sozialen Stress gesetzt. Die Tests sollten den Stress während des durchschnittlichen Büroalltags widerspiegeln: Die Probanden mussten Rechenaufgaben unter Zeitdruck lösen, methodologische und sehr persönliche Fragen beantworten – und schließlich alles noch einmal unter Aufsicht, so als würde der Chef über die Schulter schauen.
Intelligente Kleiung erkennt Depression
Bei der Hautleitfähigkeit gab es deutliche Unterschiede in der Höhe und der Frequenz der Ausschläge – je nachdem ob die Probanden unter Stress oder kognitiver Belastung standen. Die Züricher Forscherin konnte zudem spezifische stressbezogene Bewegungsmerkmale für den Kopf, die rechte Hand und die Füße ermitteln. Das bedeutet, dass sich Emotionen tatsächlich mit mobiler Technologie umso genauer bestimmen lassen, je mehr Sensoren man am Körper anbringt. Das ist aber gleichzeitig der Nachteil: Ein unter Beobachtung stehender Patient müsste komplett verkabelt zur Arbeit gehen.
Eine Lösung dieses Problems könnten intelligente Textilien sein. Die italienische Firma Smartex entwickelt derzeit in Zusammenarbeit mit verschiedenen europäischen Universitäten Kleidung, die die Sensorik bereits in sich trägt. In die Textilien sind Fasern eingearbeitet, die, sobald sie die Haut berühren, zum Beispiel deren Leitfähigkeit messen. Außerdem ist in die Kleidung ein kleines Gerät eingenäht, das die Daten speichern kann. Die Textilien ermitteln unter anderem Herz- und Atmungsrate, körperliche Aktivitäten, Kraftaufwand und Schrittzahl der Füße pro Minute. Die Daten kommen in dem internationalen Forschungsprojekt „PSYCHE“ zum Einsatz. Drei Patienten wurden in einem der jüngsten Experimente mit der Kleidung über einen Zeitraum von 90 Tagen insgesamt 120 Stunden lang überwacht. Die Software sollte bestimmen, wann die Patienten eine neutrale, eine leichte depressive oder schwere depressive Phase durchlebten. Insbesondere konnte das System in mehr als 93 Prozent der Messungen eine schwere depressive Phase von einer neutralen unterscheiden. Bei einer milden Depression gelang das zu ungefähr 70 Prozent.
Es steht außer Frage, dass Ärzte und Patienten von solchen Daten profitieren. Angesichts der aktuellen Datenschutzdebatten dürften diese Technologien trotzdem einige Menschen abschrecken. Die Angst ist groß, dass der Staat, Versicherungen oder mögliche Arbeitgeber Zugriff auf persönliche Krankheitsdaten erhalten. Juristisch gesehen sind die Daten in Deutschland gut geschützt. „Nach geltendem Recht dürfen die Daten nur zu dem Zweck genutzt werden, zu dem sie erhoben wurden“, sagt Simon Hacks vom Institut für Sicherheit und Datenschutz im Gesundheitswesen in Dortmund. Auch eine Nutzung durch andere Ärzte ist nicht erlaubt, es sei denn, dem Patienten ist von vornherein klar, dass auch andere Ärzte Zugriff auf die Daten zu seiner Behandlung haben, wie es zum Beispiel in Krankenhäusern in einigen Bereichen der Fall ist.
Problematisch würde es, wenn die Daten im Internet gespeichert werden – und zwar auf einem ausländischen Server. Es ist bisher nicht eindeutig geklärt, ob die Rechte der Datenverarbeitung bei dem Land liegen, in dem die Daten gespeichert werden, oder bei dem Land, in dem die Daten erhoben werden. In den USA tätige Unternehmen könnten von den Behörden mitunter zur Herausgabe der Daten, auch von EU-Bürgern, gezwungen werden. „Daher sollten sensible Daten nur in Deutschland oder zumindest im europäischen Wirtschaftsraum verarbeitet werden“, sagt Hacks. Die unklare Rechtslage ist ein Grund, warum die Daten in den meisten Forschungsprojekten noch auf dem Gerät direkt gespeichert werden.
Literatur:
Rita Paradiso u.a.: Wearable monitoring systems for psychological and physiological state assessment in a naturalistic environment. Conference proceedings: Annual International Conference of the IEEE Engineering in Medicine and Biology Society. Conference 08/2011, 2011, 2250–2253. DOI: 10.1109/IEMBS.2011. 6090427
Andreas Bulling u. .: Wearable eye tracking for mental health monitoring. Computer Communications, 35/11, 2012, 1306–1311
Paul Lukowicz u. .: Towards smart phone based monitoring of bipolar disorder. Proceedings of the Second ACM Workshop on Mobile Systems, Applications, and Services for Health Care. DOI: 10.1145/2396276. 2396280
Cornelia Kappeler-Setz: Multimodal emotion and stress recognition. Dissertation, ETH Zürich 2012
Gaetano Valenza u. .: Mood recognition in bipolar patients through the PSYCHE platform: Preliminary evaluations and perspectives. Artificial Intelligence in Medicine 57/1, 2013, 49–58. DOI: 10.1016/j.artmed. 2012.12.001