Krank, nicht schuld

Elisabeth Wagner hilft Angehörigen und anderen Nahe­stehenden, psychische Störungen besser zu verstehen.

Ein Viertel der Erwachsenen in Westeuropa erleidet einmal im Leben eine behandlungsbedürftige psychische Störung. Die Wahrscheinlichkeit also, dass wir in unserem nahen Umfeld mit einer psychisch erkrankten Person leben, ist groß.

Was bedeutet es, wenn meine Partnerin manisch-depressiv ist? Darf ich mich abgrenzen, wenn mein Bruder einen psychotischen Schub hat? Die Bedürfnisse und Anliegen Angehöriger stehen im Zentrum des Buches Psychische Störungen verstehen.

Elisabeth Wagner informiert, entlastet und macht aufmerksam – verweigert dabei jedoch einfache Antworten: „Ratgeben ohne konkretes Wissen um die individuelle Situation ist unprofessionell“, so die Autorin.

Seit 30 Jahren arbeitet die Psychiaterin mit psychisch erkrankten Menschen, als systemische Familientherapeutin begleitet sie Familien, deren Kinder oder Eltern psychisch krank sind. Sie weiß, dass monokausale Erklärungen der komplexen Thematik nicht gerecht werden.

Deshalb beginnt sie sehr basal mit grundsätzlichen Informationen: Was sind psychische Störungen? Welche Funktion und Aufgaben haben Psychiaterinnen und Psychiater? Was unterscheidet Psychiaterinnen von Psychologen? Wie wirken welche Psychopharmaka? Wie können Angehörige sinnvoll in einen Bewältigungs- und/oder Heilungsprozess eingebunden werden?

Balance zwischen Rücksichtnahme und Selbstfürsorge

Wagner beschreibt Diagnosemanuale und relativiert dabei deren „Wirklichkeitssinn“. Psychiatrische Diagnosen seien keine natürlichen Einheiten, sondern vereinbarte Konventionen. Sie vergisst aber nicht, dass Diagnosen für Betroffene und häufig für Angehörige eine wesentliche Entlastung bedeuten. Wer eine Diagnose erhält, ist krank und nicht „schuld“, wer krank ist, braucht Verständnis, Beziehung und Unterstützung.

In Beziehung bleiben, den Kontakt halten, Rücksichtnahme bei gleichzeitiger Berücksichtigung der eigenen Interessen, die Grenzen der eigenen Belastbarkeit erkennen und akzeptieren, auf Selbstfürsorge achten und die Hilflosigkeit ertragen – all dies können Angehörige leisten. Wer sich überfordert fühlt, sollte sich nicht davor scheuen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, da das Leben mit einem psychisch kranken Angehörigen eine beträchtliche Herausforderung bedeutet.

Elisabeth Wagner vertieft sich in verschiedene Störungsbilder. Sie widmet sich Zwangs- und Essstörungen, Traumafolge- und Borderlinestörungen und erläutert den Unterschied zwischen Depression, Dysthymie und Burnout. Man erfährt, wie sich schizophrene Phänomene zeigen und wie Angehörige darauf reagieren können.

Psychische Störungen verstehen enthält sehr viele Informationen über Krankheitsverläufe, Behandlungsmethoden diverser Störungen und die jeweiligen Herausforderungen für Angehörige. Es ist verständlich geschrieben, auch komplexe Fakten wie die Wirkung von Psychopharmaka auf das Gehirn sind gut nachvollziehbar dargestellt, ohne zu vereinfachen.

Literatur:

Elisabeth Wagner: Psychische Störungen verstehen. Orientierungshilfe für Angehörige. Springer, Berlin 2021, 204 S., € 19,99

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