Surftherapie: Hinfliegen, hochkommen, jubeln

Kann eine Surftherapie bei Depressionen helfen? Wir haben eine Teilnehmerin und eine Therapeutin gefragt. Plus: die Fakten aus der Wissenschaft.

Die Illustration zeigt eine junge Surferin im Meer
Sie reitet die Welle und ist glücklich, denn sie hat verstanden: „Ich kann mir Dinge zutrauen.“ © Fien Jorissen für Psychologie Heute

In unserer Rubrik Ist das was für mich? stellen wir jeden Monat ein Angebot aus den Bereichen Therapie, Coaching oder Beratung vor. Und Sie können entscheiden, ob das etwas für Sie ist. Dieses Mal: „Surftherapie“ für Jugendliche mit Depressionen

Das sagt die Teilnehmerin

Ich habe auf Empfehlung der Klinik an der Surftherapie teilgenommen. Meine Mutter hatte dort einen Termin vereinbart. Für mich klang das nach Quatsch. Ich dachte: „Sich zwölf Wochen einmal die Woche treffen, ein bisschen mit anderen über…

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klang das nach Quatsch. Ich dachte: „Sich zwölf Wochen einmal die Woche treffen, ein bisschen mit anderen über meine Probleme reden, surfen und dann eine Woche nach Sylt? Das bringt mir doch gar nichts! Ich brauche viel mehr Betreuung, Schutz, Stabilität.“ Aber dann habe ich doch geschafft zu vertrauen, dass es das Richtige ist.

Ich musste einen Riesenstapel Fragebögen ausfüllen, zu meiner Gefühls­lage, meinem Verhalten. Es wurde geguckt, ob ich körperlich fit genug bin und in so eine Gruppe passe. Ich hatte große Angst, dass ich beginne zu vergleichen, zu werten, dass ich denke: „Ich bin ja gar nicht so krank, ich soll mich nicht so anstellen.“ Nach dem ersten Termin war ich positiv gestimmt. Wir waren zu acht: drei Jungs, vier Mädchen und eine nichtbinäre Person. Bei jedem Treffen haben wir vor den sportlichen Übungen fürs Surfen mit einer Arbeitsmappe gearbeitet. Die ersten Male waren wir im Gymnastikraum der Klinik, später im Schwimmbad und am See. Die 90 Minuten waren immer sehr intensiv, ohne Druck; man durfte sein, wie man wollte.

Am Anfang und Ende stand immer ein „Blitzlicht“: Jeder sagte seine Stimmung, zum Beispiel als Wetter, Eissorte oder Landschaft. Das fand ich toll, weil man sich dafür so intensiv mit seinen Gefühlen befasst. Uns wurde auch viel erklärt: Was ist eine Depression, wie äußert sie sich? Damit wir uns selbst besser verstehen. Und wir haben Techniken gelernt, wie wir klarkommen, wenn wir mal wieder verloren sind. Ich habe mir Filme aufgeschrieben, Musik, Sachen, die ich machen kann, um nicht zu viel am Handy zu sein, und bei Langeweile – die ist manchmal ein echter Killer.

Mein Highlight war die Woche auf Sylt. Mein Surflehrer hat mich richtig inspiriert zu leben, weil er von so vielen Dingen erzählt hat, die er schon gesehen hat. Das erste Mal nach Monaten kam mir wieder in den Kopf: „Ich will das auch. Ich will die Welt sehen. Ich will leben!“

Unsere Struktur dort war: Aufstehen, Frühstück – und dann ging’s direkt Surfen. Es war teilweise ganz schön kalt, die Neoprenanzüge rochen nicht sonderlich gut, und wir mussten die Surfbretter zehn Minuten zum Strand schleppen. Aber wenn man erst mal da war! Ich erinnere mich genau an das erste Mal, da sind wir ohne Boards ins Wasser. Der Surflehrer hat gesagt: „Ihr habt keine Chance gegen das Meer. Egal wie sehr ihr dagegen ankämpfen wollt, es ist immer stärker. Ihr müsst euch einfach mitreißen lassen.“ Und das hat er auch aufs Leben bezogen: Es macht mit euch im Endeffekt, was es will, aber ihr entscheidet, ob ihr wieder aufsteht.

Einmal dachte ich, jetzt ist es vorbei, da hat mich eine Riesenwelle quasi umgedreht. Als ich endlich wieder aufgetaucht bin, habe ich meinen Surflehrer gehört: „Oh mein Gott, du bist so cool!“ Da dachte ich mir: „Hey, ich fliege mega hin, komme hoch und dann werde ich bejubelt und bejubele mich selbst – weil ich da war!“ Das war toll.

Surfen hat mir geholfen, mich auf meinen Körper zu fokussieren. Es fordert die ganze Aufmerksamkeit. Danach war mein Kopf immer leer, das ist er zu Hause nie: nur ich, keine andere, zweifelnde Stimme. Das habe ich vermisst, als wir zurück waren.

Ich bin nicht geheilt von Sylt zurückgekommen, aber ich habe gemerkt: Ich kann mir Dinge zutrauen. Es ist eine schöne Erinnerung und durch das körperliche Erleben über eine Woche auch ein Ort in mir drin, den ich nachfühlen kann. Bei unserem Abschlusstreffen sollten wir eine Karte für uns selbst erstellen. Darauf habe ich geschrieben: Nach der Ebbe kommt die Flut. Daran halte ich mich.

Die Teilnehmerin möchte anonym bleiben

Das sagt die Therapeutin

Die Idee für die Surftherapie kam mir durch mein Hobby – und den Beruf. Als ich vor acht Jahren angefangen habe zu surfen, dachte ich: „Es wäre schön, das zu verbinden.“ Wir haben das Konzept selbst entwickelt, aber das Rad nicht ganz neu erfunden. Bei jedem Termin arbeiten wir mit Elementen aus der kognitiven Verhaltenstherapie, die bei Depressionen gut erforscht und wirksam sind, etwa Psychoedukation, Anleitung zu positiven Aktivitäten, Training von Emotionsregulation. Der zweite Teil ist Sporttherapie.

Aus dem Curriculum des Berliner Vereins wirmachenwelle haben wir manches übernehmen und für unsere Klientel anpassen können. Mit drei Terminen im Gymnastikraum, lockerem Kennenlernen und Trockenübungen geht es los. Im Schwimmbad dann fangen wir an mit Schweben, Gleiten im Wasser und gehen über zu den Schwimmtechniken, Flossenschwimmen, Tauchen, Springen. Zum Abschluss sind wir zum Stand-up-Paddling am See – und dann folgt eine gemeinsame Woche Sylt.

Neben mir kommen noch zwei Psychotherapeutinnen mit, zwei Psychologiestudentinnen, eine Ärztin, die Surfcoaches und zwei Mitarbeitende von wirmachenwelle. Wir wohnen alle zusammen im Schullandheim. Pro Tag surfen wir etwa anderthalb Stunden, machen insgesamt zwei Einheiten Gruppentherapie und führen nach Bedarf Einzelgespräche. Zurück in Freiburg, haben wir noch eine Auffrischungssitzung und ein Abschlussgespräch mit jeder Familie. Bei allen Teilnehmenden sinkt die depressive Symptomatik in der Folge signifikant, etwa zwei Drittel nehmen weiter therapeutische Hilfe in Anspruch.

Surfen ist ein so schwieriger Sport, dass es selten ist, dass man ihn nach einer Woche wunderbar beherrscht. Es geht vielmehr darum, dass die Jugendlichen sich dieser Herausforderung stellen, in Bewegung kommen. Vieles lässt sich auf den Alltag übertragen – das versuchen wir zu erarbeiten. Wenn jemand vor dem Surfen über irgendein Thema gegrübelt hat, ist das zum Beispiel erst mal weg. Oder: Es wieder zu probieren, wenn es bei einer Welle nicht geklappt hat. Manchmal bezieht das jemand nur auf sich: „Ich kann es wieder nicht. Ich bin zu blöd.“ Dann gucken wir: Was könnten noch Gründe sein? War die Welle vielleicht nicht passend? War das Brett ein bisschen rutschig? Oder hat der Surfgott zu früh gesagt: „Leg los“?

Die Aussicht auf eine Woche Meer spornt an mitzumachen. Und es ist eine gemeinsame Herausforderung, auf die die Jugendlichen sich einstellen. Das Gruppengeschehen ist ein wichtiger Wirkfaktor. Viele Teilnehmende sind isoliert, einsam, haben Mobbing erlebt. Wir legen viel Wert auf einen respektvollen, wertschätzenden Umgang. Man sieht richtig, wie gut den Jugendlichen diese Gruppe tut, von der sie wissen: Wir akzeptieren einander so, wie wir sind.

Bettina Hearn ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter des Universitätsklinikums Freiburg

Das sind die Fakten

Was ist das für ein Angebot?

Die hier beschriebene Surftherapie ist seit 2022 ein Angebot des Universitätsklinikums Freiburg für 13- bis 18-Jährige mit psychischen Erkrankungen (vor allem Depressionen). In diesem Jahr nehmen voraussichtlich 16 Jugendliche in zwei Gruppen teil.Das Konzept verbindet Elemente aus der Verhaltenstherapie mit der Sporttherapie. Dabei werden über drei Monate (auch) die wichtigsten Grundlagen fürs Wellenreiten vermittelt. Die Behandlung ist laut Klinik eine Ergänzung, kein Ersatz für eine konventionelle Therapie.

Was kostet die Teilnahme?

In Freiburg sei eine Teilfinanzierung über die Krankenkasse möglich, mindestens 100 Euro sollen die Familien der Jugendlichen im besten Fall selbst tragen. Der Restbetrag werde über Spenden von Sponsoren finanziert, so die Klinik. Im deutschsprachigen Raum gibt es weitere Anbieter von Surftherapie, die sich meist an Erwachsene richtet. Die Angebote unterscheiden sich hinsichtlich Konzeption, Inhalt und Länge. Die Kosten variieren und sind meist privat zu tragen. Einheitliche Qualitätsstandards gibt es nicht.

Was sagt die Wissenschaft?

Dass (Wasser-)Sport positiv auf depressive Symptome und psychische Gesundheit wirkt, ist belegt. Belastbare Daten speziell zum therapeutischen Surfen sind rar, doch das Interesse weltweit steigt, wie ein Überblick der International Surf Therapy Organization zeigt. Laut einer in Freiburg begleitend durchgeführten Pilotstudie blieb es auch drei Monate nach Ende der Surftherapie bei einem signifikanten Rückgang der depressiven Symptome. Eine Übersichtsarbeit von dort konstatiert aber: Es fehlten „valide Aussagen“ zur Wirksamkeit.

Quellen

Antonia Bendau u. a.: Bewegung, körperliche Aktivität und Sport bei depressiven Erkrankungen. NeuroTransmitter, 1-2/2022.

Bettina Hearn u. a.: Aktueller Forschungsstand zur Surftherapie und ihre Anwendungsmöglichkeit als Intervention bei Depressionen im Jugendalter. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 53/ 1, 2025, 1–59

Bettina Hearn u. a.: Feasibility and effectiveness of a group therapy combining physical activity, surf therapy and cognitive behavioral therapy to treat adolescents with depressive disorders: a pilot study. Frontiers in Psychology, 16:1426844.

International Surf Therapy Organisation: ISTO Bibliography. Zuletzt abgerufen am 15.4.2025

Morgan Jackson u. a.: Aquatic exercise and mental health: A scoping review. Complementary Therapies in Medicine, 66/6, 2022, 102820.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2025: Mit schwierigen Menschen leichter leben