Niemand ist ein Fels

Joachim Bauer erklärt in seinem Buch, wie das menschliche Selbst durch Resonanz entsteht.

Bakterien brauchen keinen Sex, um sich fortzupflanzen. Dennoch tauschen sie regelmäßig Teile ihres Erbguts untereinander aus, das macht sie flexibel und anpassungsfähig. Ähnlich sei es mit dem Selbst, meint der Neurowissenschaftler und Therapeut Joachim Bauer: Ständig tausche es „Selbstelemente“ mit anderen Menschen aus. Entweder „horizontal“, etwa durch die Identifikation mit anderen, oder „vertikal“, wenn Teile des Selbstbilds von Bezugspersonen in das entstehende Selbst eines Kindes einwanderten.

Das klingt ein wenig nach Baukasten, zeigt aber deutlich, worum es Bauer in seinem neuen Buch geht: Wir werden nicht mit einem fertigen Selbst geboren und dieses Selbst ist – anders als der Titel Wie wir werden, wer wir sind nahelegt – auch nicht irgendwo in uns verborgen und wir müssten es nur freilegen. Nach Bauer entwickelt es sich vielmehr in ständiger Wechselwirkung mit der Umwelt und vor allem mit den Menschen, denen wir in dieser Umwelt begegnen. Diese Wechselwirkung nennt er Resonanz.

Von der frühen Kindheit über die Groß­baustelle Pubertät bis ins hohe Alter zeichnet Bauer nach, wie die Herausbildung des Selbst durch solche Resonanz funktioniert, unter welchen Bedingungen sie ge­lingen, aber auch wie sie aus dem Gleichgewicht geraten kann. Wenn Säuglinge erleben, dass andere sich über sie freuen, wenn Kinder freundlichen Widerstand erleben, wenn Jugendliche ermutigt, angeleitet und zur rechten Zeit in die Selbständigkeit entlassen werden, wenn Erwachsene Aufmerksamkeit und Zuwendung erfahren, stabilisiert sich in ihnen ein Selbst, das auch einmal Rückschläge, Kritik und Durststrecken wegstecken kann, das auf andere zugehen und diese – wenn nötig – aufrichten kann.

Auch eine Frage des Immunsystems

Läuft in der Interaktion mit anderen hingegen zu viel schief, werden die Betroffenen ihr Leben lang unter einem angeschlagenen Selbst zu leiden haben. Idealerweise, so Bauer, suchen und finden sie Hilfe in therapeutischer Behandlung. Oder sie versuchen, auf anderem Weg ihr Ego zu stärken, etwa indem sie sich autoritären Persönlichkeiten unterordnen oder selbst zu solchen werden. Narzissmus, Abhängigkeiten und Depressionen gehören für Bauer zu den Folgen, wenn das Selbst sich nicht stabilisieren kann.

Er erklärt, wie Selbst, Stress- und Immunsystem zusammenhängen und das Selbstbild auf diesem Weg Einfluss auf Gesundheit und Wohlbefinden bekommt. Und untermauert seine Thesen mit neurobiologischen Erkenntnissen darüber, wie intensiv Menschen auf andere reagieren: auf ihre Blicke, ihre Reaktionen, darauf, was „sie so reden“.

Der moderne Mensch komme zeitlebens aus dem Spannungsfeld nicht heraus, ein autonomes Subjekt sein zu wollen und doch durch Resonanz geprägt zu werden, konstatiert Bauer. Der aktuelle Hype um die virtuelle Selbstinszenierung und die suggestive Kraft der Apps, die uns besser kennen wollen als wir selbst, machten es noch schwieriger, sich im so fragilen Selbst wohlzufühlen.

Praktische Konsequenzen

Abhilfe schafft nach Bauer die Selbstfürsorge: Alles, was dem Menschen im Leben begegnet, löse eine Resonanz aus, die der Mensch wahrnehmen und anhand derer er entscheiden solle, was zu ihm passt und was nicht. Was freilich so einfach nicht zu haben ist, denn auch hier sind Ratio, Autorität und Selbstgefühl in ständigem Widerstreit: Ist es gut, wenn ich so fühle? Sollte ich das lieber ignorieren? Dem chronisch an sich selbst zweifelnden Individuum dürfte es schon helfen, sich klarzumachen, dass dieses Selbst kein Fels ist, den es herumzuschleppen hat, sondern ein Prozess, auf den es Einfluss nehmen kann.

Aus der Resonanztheorie zieht Bauer auch ganz praktische Konsequenzen. So sei es besser, Eltern nähmen sich die Zeit, sich in den ersten Jahren selbst um ihre Kinder zu kümmern, statt sie in eine Kita zu geben. Denn nur so sei für ausreichen­de Resonanz gesorgt. Dreijährige hingegen gehörten unbedingt in eine Gruppe Gleichaltriger.

Ein wenig kurz kommt in dem locker und verständlich geschriebenen Buch die materielle Dimension: Nicht nur unausgeglichene andere Menschen, auch Armut und Perspektivlosigkeit nagen am Selbst. Die Nächstenliebe, mit deren Lob Bauer schließt, ist natürlich nicht zu überbieten, aber auch mehr Chancengleichheit wäre ein Engagement wert.

Joachim Bauer: Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz. Blessing, München 2019, 255 S., € 22,– 

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2020: Mein wunder Punkt
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