Welch gravierende Auswirkungen eine unsichere Bindung im frühen Kindesalter auf das ganze Leben haben kann, zeigen die neuesten Erkenntnisse der Bindungsforscher: Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen früher Bindungsqualität und späteren Erkrankungen. Belastende Erfahrungen in den ersten Lebensjahren führen oft im Erwachsenenalter zu chronischen Erkrankungen wie beispielsweise Herz- und Kreislaufleiden, Krebs, Rheuma, Morbus Crohn, Asthma, Fibromyalgie und anderen „unerklärlichen“ Beschwerden.
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Krebs, Rheuma, Morbus Crohn, Asthma, Fibromyalgie und anderen „unerklärlichen“ Beschwerden.
Der Kinder- und Jugendpsychiater Karl Heinz Brisch hat sich in den letzten 20 Jahren wie kaum ein anderer in Deutschland mit dem Thema Bindung befasst und einen enormen Anteil daran, dass wir inzwischen viel über die sensiblen ersten Jahre im Leben eines Menschen wissen. Doch dieses Wissen ist längst nicht breitenwirksam, wie er im Gespräch mit Psychologie Heute erläutert. Denn immer noch wachsen zu viele Kinder unsicher gebunden heran, immer noch reagieren Eltern auf die Bedürfnisse ihres Kindes nicht angemessen, und immer noch lässt die Qualität der frühen Betreuung zu wünschen übrig. Präventionsprogramme, die Brisch konzipiert hat, sollen hier Abhilfe schaffen.
Bindung ist kein Schicksal, die früh erworbenen negativen Bindungsstile lassen sich später durchaus verändern. So kann eine Psychotherapie, die frühe Bindungserfahrungen berücksichtigt, nicht nur „nachbeeltern“, sondern auch chronisch Kranken in vielen Fällen helfen. Das belegen neuere Forschungsergebnisse, über die Psychologie Heute in den folgenden beiden Beiträgen informiert.
„Bindung ist emotionale Nahrung, die uns am Leben hält“
In Deutschland befasst sich kaum einer mehr mit dem Thema Bindung als der Kinder- und Jugendpsychiater Karl Heinz Brisch. Er glaubt: In Sachen Bindung hat Deutschland noch Nachholbedarf.
PSYCHOLOGIE HEUTE Herr Brisch, seit zwanzig Jahren widmen Sie sich dem Thema Bindung und haben in dieser Zeit viele Bücher geschrieben und Präventionsprojekte ins Leben gerufen – neben Ihrer Arbeit als Oberarzt hier am Dr. von Haunerschen Kinderspital in München. Wie wichtig ist das Thema Bindung in der Kinderklinik?
KARL HEINZ BRISCH Das Thema ist ganz zentral. Wenn ein Kind sehr krank ist, hat es automatisch Angst, und sein Bindungsbedürfnis ist aktiviert. Deshalb braucht Deutschland bindungsfreundlichere Kinderkliniken, die das Thema Bindung für alle Bereiche durchbuchstabieren, im Sinne von Schutz und Sicherheit für das Kind und seine Eltern von der telefonischen Erstanmeldung bis hin zur Aufnahme und Entlassung. In meiner Abteilung, der Pädiatrischen Psychosomatik, spielt die Bindung aber noch mal eine spezielle Rolle. Wir haben hier eine kleine Station für schwer bindungsgestörte Kinder, die schon früh in ihrem Leben traumatisiert wurden. Viele von ihnen sind aus ihren Familien herausgenommen. Mit diesen Kindern arbeiten wir mit einem psychotherapeutischen Intensivprogramm. Das ist nicht einfach, aber nach ein paar Monaten kommen sie meist gut auf den Weg.
PH Warum ist die Bindung so wichtig?
BRISCH Bindung ist emotionale Nahrung, die uns am Leben hält. Sie ist gleichberechtigt mit lebenswichtigen Bedürfnissen wie Hunger, Durst, Schlaf, Luft oder Bewegung. Wenn kleine Kinder keine Bindung haben, gedeihen sie nicht, werden immer schwieriger in ihrem Verhalten, fangen an, sich in ihren Bettchen zu schaukeln, weil sie es nicht aushalten, dass niemand mit ihnen in Kontakt ist. Wenn das weitergeht, entwickeln sie sich motorisch ganz zurück und sterben. Eine sichere Bindung – also eine liebevolle Beziehung zwischen Eltern und Kind, in der sich die Eltern feinfühlig und verlässlich um ihr Baby kümmern – ist hingegen ein Schutzfaktor. Das Kind kann sich aber nicht nur an die Eltern binden, es kann sich genauso gut an die Krippenerzieherin, Tagesmutter oder Oma binden. Voraussetzung ist allerdings, dass diese sich feinfühlig und zuverlässig kümmern.
PH Welche Fähigkeiten erwirbt ein sicher gebundenes Kind?
BRISCH Es kann sich besser in andere Menschen hineinversetzen, hat eine bessere Sprachentwicklung, kann sich besser konzentrieren, kann besser Freundschaften schließen und wird insgesamt in seinen Beziehungen voraussichtlich ein glücklicherer Mensch. Ungefähr 60 Prozent aller Kinder in Deutschland sind sicher gebunden.
PH Was ist mit den anderen Kindern, die keine sichere Bindung aufbauen konnten?
BRISCH Diese sind eher unsicher-vermeidend gebunden, das trifft in Deutschland auf 20 bis 25 Prozent aller Kinder zu, je nach Stichprobe. Vermeidend gebundene Kinder unterdrücken ihre Nähebedürfnisse, weil die Eltern auf ihre emotionalen Signale meist abweisend reagieren. Sie ziehen sich eher zurück und sind insgesamt nicht so widerstandsfähig gegenüber psychischen Belastungen. In Deutschland sind diese Kinder bei vielen Eltern und Erziehern aber beliebt, denn sie sind praktisch: Man kann sie problemlos in zwei Tagen in die Kita eingewöhnen, sie weinen nicht und machen in ihrem Verhalten keinen Stress. Aber gut geht es den Kindern nicht, sie haben trotzdem großen Stress, haben jedoch gelernt, ihn nicht zu zeigen. Sie simulieren also nur, dass es ihnen gutgeht.
PH Hat es kulturelle Gründe, dass in Deutschland so viele Kinder unsicher-vermeidend gebunden sind?
BRISCH Ich glaube schon. Die Angst, das Baby zu verwöhnen, ist typisch deutsch. Wenn wir Elternkurse machen, merken wir immer wieder, dass deutsche Eltern sehr darum besorgt sind, ihre Babys früh zur Frustrationstoleranz zu erziehen. Diese Haltung finden Sie weder in Italien noch in Asien oder Südamerika, da denkt kein Mensch darüber nach, ob er sein Baby verwöhnt. Hier aber sehen wir, dass viele Eltern auf die Signale ihrer Kinder nicht feinfühlig reagieren, sondern eher rigide mit ihnen umgehen. Das hat wohl mit dem Erbe unserer preußischen Kultur und der Schwarzen Pädagogik zu tun.
PH Der nationalsozialistische Elternratgeber Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind von Johanna Haarer wurde hierzulande ja auch bis in die 1980er Jahre verkauft.
BRISCH Das stimmt. Johanna Haarer schrieb vor, dass ein sattes und gewickeltes Baby nachts ins Kinderzimmer gelegt werden soll und bis zum Morgen niemand mehr hineingehen darf. So haben unsere Großmütter das auch gemacht. Die Babys haben drei oder vier Nächte wie am Spieß gebrüllt und schließlich aufgehört. Sie haben gelernt, es ist zwecklos, es kommt sowieso niemand. Wenn man eine Generation von Kriegern möchte, ist das gut, weil Babys auf diese Weise früh lernen, zu dissoziieren, das heißt Gefühle abzuspalten und keine Schmerzen und Bedürfnisse mehr wahrzunehmen. Aber es ist nicht gut, wenn man partnerschafts- und beziehungsorientiert leben und eigene Kinder emotional glücklich auf den Weg bringen will.
PH Warum fällt es manchen Eltern schwer, eine sichere Bindung zu ihrem Kind aufzubauen?
BRISCH Wir wissen, dass es über mehrere Generationen eine Weitergabe von Bindungsmustern gibt: Die Übereinstimmung zwischen dem Bindungsmuster der Mutter und dem der Kinder beträgt ungefähr 75 Prozent, bei Vätern ungefähr 65 Prozent. Haben Eltern selbst eine feinfühlige Betreuung erlebt, können sie auch auf die Signale ihrer Kinder gut reagieren. Waren sie jedoch selbst unsicher gebunden, kann es sein, dass sie auch bei ihren Kindern mal auf die Signale eingehen und mal nicht, mal wütend reagieren und mal nicht. Dann entsteht auch beim Kind ein eher unsicheres Bindungsmuster. Haben die Eltern Gewalt oder ständig wechselnde Beziehungssysteme oder Vernachlässigung erlebt, entwickeln sich eher desorganisierte Bindungsmuster. Dann ist die Gefahr sehr groß, dass das Weinen des Kindes die Eltern extrem stresst, vielleicht sogar so sehr, dass plötzlich eine alte Kiste auffliegt und die Eltern – unabhängig von ihrer sozialen Situation – verrückte Dinge mit ihrem Kind anstellen. Es schütteln, zum Beispiel. Oder es im Winter auf den Balkon stellen und dort vergessen.
PH Und diese Eltern und Kinder sehen Sie dann hier in der Klinik?
BRISCH Wir sehen hier viele Kinder, die teilweise schon im Säuglingsalter viel Stress erlebt haben. Und zwar aus allen Schichten. Eltern werden manchmal einfach überflutet von ihren Gefühlen, das ist keine Frage der kognitiven Steuerung oder Schichtzugehörigkeit. Sonst wären alle Menschen, die studiert haben, glücklicher in ihren Beziehungen. Auch promovierte Eltern bringen ihre Kinder in die Klinik und sagen: Ich glaube, ich habe mein Baby geschüttelt.
PH Wie reagieren Sie darauf?
BRISCH Wir führen Gespräche mit den Eltern und landen dann schnell in ihrer Kindheit. Meist haben die Eltern frühe Erlebnisse, die sie selbst nicht verarbeitet und irgendwo abgelegt haben. Wir machen dann mit ihnen Therapie; und viele sind dankbar dafür. Dabei sind allerdings immer wieder Eltern auf uns zugekommen und haben gesagt: Wenn Ihr wisst, wie diese Dynamik abläuft, warum helft Ihr uns dann nicht vorher? Und wir dachten: Die Eltern haben recht. Wir müssen früher anfangen und prüfen, wer unverarbeitete frühe Traumata im Gepäck hat. Eigentlich schon in der Schwangerschaft. Und das war die Geburtsstunde der SAFE-Kurse.
PH SAFE steht für „Sichere Ausbildung für Eltern“ (www.safe-programm.de). – Wie kommen Sie den frühen Traumata der Eltern in den Kursen auf die Spur?
BRISCH Die Kurse bestehen aus geschlossenen Gruppen werdender Eltern, die sich vom siebten Schwangerschaftsmonat bis zum Ende des ersten Lebensjahres treffen. In der Schwangerschaft machen wir mit allen Eltern ein Bindungsinterview und gucken, was sie an Schutz- und Risikofaktoren mitbringen und wo es vielleicht Erlebnisse gibt, die nicht gut verarbeitet wurden und Stress auslösen könnten. Das müssen nicht unbedingt traumatische Kindheitserlebnisse sein, das kann auch ein Sterbefall in der Schwangerschaft sein oder eine Totgeburt vor zwei Jahren. Wir helfen den Eltern dabei und bringen ihnen Feinfühligkeit im Umgang mit dem Kind bei – auch das kann man nämlich richtig gut lernen. Hierzulande gilt ja leider die Vorstellung: Kinder großzuziehen lernt man nebenbei. Weit gefehlt.
PH Warum ist das so?
BRISCH Das Wissen um die Signale der Babys ist nicht mehr da, weil die Erfahrung fehlt. Ich würde mir wünschen, dass deutsche Eltern irgendwann so eine Feinfühligkeit für die Signale ihres Kindes entwickeln wie eine afrikanische Mutter, die merkt, wann das Baby auf ihrem Rücken Wasser lassen muss. Auch Grenzen zu setzen fällt deutschen Eltern schwer: Sie lassen vieles geschehen und springen dann plötzlich auf und schreien. Wir üben mit ihnen, ganz klar und bestimmt nein zu sagen, sogar die Wutanfälle liebevoll zu begleiten. Denn das Baby hat ein Recht auf Wut: Wut ist ein basaler Affekt, mit dem das Baby gut begleitet umgehen lernen muss, damit es später nicht alles herunterschluckt und depressiv wird oder sich zu aggressiv verhält. Ich sage: Respekt für den Affekt.
PH Nun leben wir in Zeiten, in denen Eltern viel arbeiten und die Politik deshalb den Krippenausbau forciert. Fördert das nicht unsicher-vermeidende Bindungsmuster?
BRISCH Erfahrungen aus unseren SAFE-Kursen lassen erkennen, dass der Druck auf das Baby, autonom zu sein und zu funktionieren, in unserer Gesellschaft schon sehr groß ist. Das Kind, das mit zwölf Monaten in die Krippe kommt und nach drei Tagen eingewöhnt ist, ist der Held in der Kindergruppe, nicht das Kind, das drei Wochen zur Eingewöhnung braucht. Die Mutter kriegt dann eher den Hinweis: Du kannst wohl nicht loslassen. Dabei ist das ein sicher gebundenes Kind, das erst mal eine Bindung zur Erzieherin aufbauen muss – und das sich schnell eingewöhnte Kind ein eher bindungsvermeidendes. Drei Tage Eingewöhnung sind jedenfalls ungewöhnlich.
PH Sehen Sie den Krippenausbau also kritisch?
BRISCH Was Kinder brauchen, wenn sie fremdbetreut werden, ist inzwischen gut erforscht. Der jetzige Betreuungsschlüssel – zwei Erzieherstellen auf 12 bis 15 Krippenkinder, oft noch gesplittet auf verschiedene Teilzeitkräfte – ist für die Kinder ein riesengroßer Stress. Es gibt zu wenig Zeit für individuelle Zuwendung. Wenn die Kinder anderthalb Jahre alt sind und zu Hause sichere Bindungen haben, können sie solche Erfahrungen etwas besser wegstecken. Wenn sie aber sehr klein sind und noch keine Bindungssicherheit haben und in ein System kommen, wo sie von vielen verschiedenen Menschen versorgt und gewickelt werden, wird es schwierig, diese selektive Bindung zu einem Menschen aufzubauen. Im Großen und Ganzen, so wie die Qualität der Krippenbetreuung derzeit organisiert ist, ist das also eine Katastrophe. Die Politik weiß das, aber es gibt keinen politischen Willen, die Qualität in den Krippen wirklich durchgängig und umgehend zu verbessern.
PH Sie sagen also: Krippen sind erst für größere Kleinkinder geeignet – und nur dann, wenn sie einen wirklich guten Betreuungsschlüssel haben?
BRISCH So ist es. Richtig sinnvoll sind gute Krippen in Brennpunktstadtteilen, wo viele Eltern sehr belastet sind. Dort allerdings müssten Krippen die beste Qualität der Welt haben. Also konstante, gut ausgebildete Erzieher im Schlüssel von 1:2. Wenn die Erzieher feinfühlig sind, kann man ziemlich sicher sein, dass die Kinder sich an sie binden werden. Diese Bindungsmuster und Erfahrungen würden die Kinder dann verinnerlichen und für den Rest ihres Lebens als Schutzfaktor mitnehmen. Auch sprachlich und kognitiv würden sie sich gut entwickeln. Das hätte viele positive Effekte.
PH Sie sind selbst Vater dreier Kinder. Hat auch Ihre Familie Sie etwas über das Thema Bindung gelehrt?
BRISCH Von meinen Eltern und Großeltern habe ich vieles an Schutz und Unterstützung mitgenommen. Als Vater weiß ich, wie es sich anfühlt, emotional verwickelt zu sein. Meine Frau und ich hätten selbst gern einen SAFE-Kurs besucht, dann hätten wir bestimmt manches anders gemacht.
PH SAFE-Kurse für alle, wäre das Ihr Wunsch?
BRISCH Ich würde mir tatsächlich – wie bei den Schutzimpfungen – eine Art emotionale Grundimmunisierung der Eltern wünschen, gegen die Tendenz zur übermäßigen Frustration und Härte schon gegenüber Babys, gegen Fehlinterpretation und Missachtung von überlebenswichtigen Gefühlen und Bedürfnissen von Kindern. Und zwar für alle Eltern, unabhängig davon, aus welchem Stadtteil sie kommen oder ob sie früher gute oder schlechte Erfahrungen gemacht haben. Wir wissen nämlich, dass auch Eltern, die gute Kindheitserfahrungen gemacht haben, immens viel von den Kursen profitieren. Wenn möglichst viele Eltern einen SAFE-Kurs besuchen würden, könnte sich die Welt im Kleinen also ein bisschen ändern. Das wäre dann echte Friedensarbeit.
Dr. med. habil. Karl Heinz Brisch leitet als Oberarzt die Abteilung Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie an der Kinderklinik und Poliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Dozent sowie Lehr- und Kontrollanalytiker am Psychoanalytischen Institut Stuttgart.