Ich bin zu 100 Prozent zufrieden“, sagt Berta Wolff, und es wirkt kein bisschen aufgesetzt. Aus ihrem Rollstuhl lächelt die alte Dame den Fragesteller unverstellt an. „Ich hab’ ja so nette Pflegekräfte. Die Tochter kommt fast jeden Mittag und erfüllt mir viele Wünsche. Ich bin dankbar dafür.“
Vor zwei Jahren feierte Berta Wolff ihren hundertsten Geburtstag. Als sie geboren wurde, am 2. Dezember 1911, war Deutschland noch ein Kaiserreich. Zwei Weltkriege hat sie erlebt, und nach dem zweiten lag ihr Haus in…
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hat sie erlebt, und nach dem zweiten lag ihr Haus in Trümmern, die Existenz in Scherben. Mit ihrem Mann, der nach langen Jahren aus der Gefangenschaft kam, richtete sie sich das Leben neu ein. Es folgten glückliche Jahrzehnte. Nachdem er 1990 gestorben war, lebte sie noch fast zwei Jahrzehnte allein in ihrer Wohnung am Mannheimer Luisenpark. Als es mit dem Laufen nicht mehr klappen wollte, übersiedelte sie in ein Pflegeheim. Früher hat sie Laute gespielt und für ihr Leben gern Musik gehört. Das geht jetzt nicht mehr, denn ihr Gehör hat sie im Stich gelassen. „Das ist das Schlimmste“, sagt sie, „dass ich so wenig höre.“ Das Radio ist nutzlos, fernsehen geht nur mit Untertiteln, aber die Zeitung studiert sie immer noch akribisch. Bei allen Einschränkungen und Verlusten – der Lebensmut hat Berta Wolff nie verlassen. Sie freut sich ihrer Tage.
Und damit ist sie durchaus repräsentativ für die meisten der 112 Teilnehmer, die wie Berta Wolff an der „Zweiten Heidelberger Hundertjährigen-Studie“ mitgewirkt haben. Deren Tenor: Das sehr hohe Alter ist kein Zuckerschlecken. Doch: „Trotz vielfältiger Einschränkungen und Verluste erleben die meisten Hundertjährigen ihr Leben als lebenswert, und mehr als 80 Prozent sind mit ihrem Leben zufrieden“, konstatiert Christoph Rott, Psychologe am Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg und Koleiter der Hundertjährigen-Studie.
Wie ist es, hundert zu sein?
Ziel der Untersuchung, die von der Robert-Bosch-Stiftung und der Dietmar-Hopp-Stiftung gefördert wurde, war nicht etwa, herauszufinden, wie man es schafft, 100 Jahre alt zu werden. Vielmehr wollten die Untersucher mehr darüber erfahren, wie es ist, hundert zu sein: Wie geht es einem und wie lebt es sich in diesem hohen Alter? Was empfindet man gegenüber dem Leben und dem Tod? Schon einmal sind die Forscher der Universität Heidelberg diesen Fragen nachgegangen, während ihrer ersten Hundertjährigen-Studie vor elf Jahren. Nun wollten sie wissen, was sich an der Lebenssituation der heutigen Hundertjährigen gegenüber damals verändert hat. Sie kontaktierten also dieselben Einwohnermeldeämter im Großraum Heidelberg wie seinerzeit und sammelten Informationen über sämtliche dort lebenden Personen der Geburtsjahrgänge 1911 und 1912. Interviewerinnen schwärmten aus und führten mit 100 dieser Frauen und 12 der Männer ein ausführliches Gespräch. Auch jeweils ein „Proxy“, eine dem Betreffenden nahestehende Person, wurde befragt; meist war das die Tochter oder ein anderer Angehöriger oder eine Pflegerin.
Um die Situation der Hundertjährigen mit der anderer Altersgruppen vergleichen zu können, wurden Daten von je rund 150 Personen im Alter von 65 bis 79 Jahren sowie von 80 bis 95 Jahren aus Heidelberg herangezogen. Ferner wurden die Antworten der Heidelberger Hundertjährigen mit denen von Altersgenossen in New York und im portugiesischen Porto verglichen. Ein Mammutprojekt, das demnächst sogar noch auf andere Standorte ausgedehnt werden soll.
Denn das Interesse an Hundertjährigen steigt. Es entspringt nicht länger nur der Neugier an einer seltenen und exotischen Spezies. Ihre Population nimmt rapide zu! Binnen zehn Jahren, von 2000 bis 2010 stieg die Zahl der Hundertjährigen in Deutschland von rund 6000 auf 13 000. In den Geburtsjahrgängen der heutigen Hundertjährigen erreichen 0,3 Prozent der Männer und immerhin 0,8 Prozent der Frauen dieses hohe Alter. Bei den 50 Jahre später, also Anfang der 1960er Jahre Geborenen werden nach Hochrechnungen bereits knapp drei Prozent der Männer und fünfeinhalb Prozent der Frauen ihren hundertsten Geburtstag feiern – eine beachtliche Minderheit.
Körperlich eingeschränkt, geistig fit
Mit dieser Entwicklung geht die Schreckensvision einer immer größer werdenden Gruppe von gebrechlichen und dementen alten Menschen einher, die in überfüllten Pflegeheimen nur notdürftig versorgt werden können. Die neuen Studienergebnisse aus Heidelberg relativieren diese Befürchtung. Zwar ist es zutreffend, dass die heutigen Hundertjährigen viele gesundheitliche Einschränkungen hinnehmen müssen. Kein Einziger der Interviewten hatte keinerlei Gebrechen. Im Schnitt zählten die Forscher vier Krankheiten pro Person, bei manchen Hochbetagten waren es sogar acht. 88 Prozent hatten Seh- und vor allem Hörprobleme, zwei von drei berichteten über Stürze, häufig war auch ein Verschleiß der Knochen und Gelenke. Erkrankungen, die bei jüngeren Altersgruppen dominieren, etwa Herz-Kreislauf-Leiden, traten bei den Hundertjährigen hingegen vergleichsweise in den Hintergrund. Studienleiterin Daniela Jopp, die inzwischen an der Fordham University in New York lehrt, vermutet hier einen Selektionseffekt: Wer an chronischen Erkrankungen, etwa des Herzens leidet, kann damit zwar alt werden, aber selten 100 Jahre.
Insgesamt konstatieren die Heidelberger Forscher zwar eine hohe körperliche Beschwerdelast bei den Hochbetagten – doch der Trend weist in eine positive Richtung: Die Hundertjährigen heute sind in einigen Aspekten weniger eingeschränkt als ihre Altersgenossen vor elf Jahren. Das trifft erfreulicherweise auch und besonders auf die geistige Fitness zu. 52 Prozent haben keine oder nur geringe kognitive Einbußen, 26 Prozent sind mäßig und nur 22 Prozent stark in ihrem Intellekt eingeschränkt. Demenz ist nicht das vorherrschende Bild des hohen Alters!
Der lebende Beweis findet sich bei der Präsentation der Heidelberger Studienergebnisse vorn auf dem Podium: Gerta Scharffenorth spricht so akzentuiert, klar und gedankenreich, dass mehrmals ein bewunderndes Raunen durch den Saal weht. Vor einem halben Leben, im zarten Alter von 50 Jahren, hat sie promoviert und eine wissenschaftliche Laufbahn in der Friedensforschung begonnen. Sie ist „dankbar dafür, ein so ereignisreiches, erkenntnisreiches Leben gelebt zu haben“. Es kam ihr so kurzweilig vor, dass sie gar nicht registrierte, wie die Zeit verflog. „Mir ist es völlig unerwartet passiert, dass ich 100 geworden bin. Ich konnte es gar nicht fassen.“
Einschränkungen bei Hundertjährigen nehmen ab
Gerta Scharffenorth ist sicher eine ganz besondere Repräsentantin ihres Jahrgangs – doch so besonders nun auch wieder nicht. Die meisten ihrer Altersgenossen entsprechen keineswegs dem Bild der hilflos dahindämmernden Greise. Die heutigen Hundertjährigen sind in ihrem Alltag weniger eingeschränkt als ihre Vorgänger. So können 83 Prozent der Teilnehmer selbständig ihre Mahlzeiten einnehmen; vor elf Jahren waren es nur 61 Prozent. 22 Prozent bereiten sie sich auch noch selbst zu. 51 Prozent kümmern sich selbständig darum, dass sie adrett aussehen (vorher: 32 Prozent). Immerhin 19 Prozent regeln noch in eigener Regie ihre Geldangelegenheiten. 52 Prozent bedienen ohne Hilfe das Telefon (vorher: 31 Prozent). Drei Viertel der Hundertjährigen schauen gerne fern, am Radioprogramm haben wegen der Probleme mit dem Gehör hingegen nur noch 38 Prozent Vergnügen. 46 Prozent geben an, dass sie in ihren Mußestunden „geistigen Aktivitäten“ wie etwa dem Lösen von Kreuzworträtseln nachgehen, und sogar 20 Prozent sind auch körperlich aktiv.
Allerdings benötigen viele der Hochbetagten im Alltag Unterstützung, zum Beispiel beim Gang auf die Toilette und vor allem beim Baden – nur 13 Prozent trauen sich Letzteres allein zu. Gleichwohl leben nur 41 Prozent in einer betreuten Wohneinrichtung oder im Pflegeheim. Die Zahl der Hundertjährigen, die in ihren eigenen vier Wänden leben, hat sich im Vergleich zur ersten Studie verdoppelt. Die meisten nehmen dort Hilfen bei der Alltagsbewältigung in Anspruch, etwa von mobilen Diensten. Das Gros der pflegerischen Hilfe leisten allerdings die Angehörigen, vor allem die Töchter, die meistens in der Nähe, wenn nicht sogar im selben Gebäude wohnen. Diese pflegenden „Kinder“ sind meist selbst längst im Rentenalter und haben mit ihren eigenen altersbedingten Einschränkungen zu kämpfen.
So erfreulich diese familiennahe Unterstützung und Pflege für die Betroffenen meist sein mag – sie ist „keine realistische Option für zukünftige Hundertjährige“, konstatiert Kathrin Boerner von der Mount Sinai Medical School in New York. Kinderarmut, doppelte Berufstätigkeit von Frau und Mann, Mobilität: Die gesellschaftlichen Trends in Deutschland laufen diesem Modell entgegen. Die Hochaltrigen von morgen, so Boerner, „werden eine ganz andere Art von Unterstützung brauchen“. Andreas Kruse, dem Direktor des Heidelberger Instituts für Gerontologie, schwebt eine „sorgende Gemeinschaft“ vor: Familienangehörige plus vertraglich gebundene Freiwillige plus professionelle Pflegekräfte kümmern sich im Verbund um die Hilfsbedürftigen, unterstützt von rüstigen Alten, die sich um andere Alte kümmern. Wie weit diese Vision angesichts des bevorstehenden demografischen Erdrutschs trägt, wird sich weisen.
Lebenszufriedenheit hängt nicht vom Gesundheitszustand ab
Die Versorgung wird also nicht einfach sein. Doch das hohe Alter an sich sollte niemanden schrecken. „Lebensqualität im hohen Alter, gibt es das überhaupt?“, fragte Daniela Jopp rhetorisch. Die Antwort der Hundertjährigen-Studie: „Eindeutig ja!“ Mehr als 80 Prozent der Befragten waren zumindest einigermaßen zufrieden mit ihrem Leben, 46 Prozent sogar „sehr zufrieden“. Der Vergleich mit den anderen Altersgruppen dokumentiert, dass Lebenszufriedenheit kein stetig versickerndes Gut ist. Zwar lässt sie ab dem neunten Lebensjahrzehnt merklich nach. Dann aber bleibt sie auf diesem Niveau. Die Hundertjährigen sind nicht unzufriedener mit ihrem Leben als die Achtzig- oder Neunzigjährigen.
In Sachen „optimistische Lebenseinstellung“ geht es laut den Befunden aus Heidelberg zwischen 80 und 100 Jahren sogar bergauf! Die sehr Alten sind also zuversichtlicher als die ziemlich Alten. Vielleicht, weil sie nichts mehr zu verlieren haben? Oder aber, weil gerade ihr Optimismus zu ihrem langen Leben beigetragen hat? 56 Prozent der Hundertjährigen sagen jedenfalls: „Ich bin so glücklich wie früher.“ Und ebenso viele bekunden, sie seien noch immer „sehr leicht zum Lachen zu bringen“. Bis 70 das Leben genießen, dann aber am besten auf der Stelle tot umfallen – diese oft zu hörende Redefigur fußt auf Vorurteilen, so Jopp. Es gibt keinen Grund, das hohe Alter per se zu fürchten.
Was die Forscher erstaunte: Für die Lebenszufriedenheit spielte es keine große Rolle, wie es um die Gesundheit der Befragten stand oder wie fit sie im Kopf waren. Wichtiger war das, was Jopp, Rott und ihre Kollegen „psychologische Stärken“ nennen: Wer wie Berta Wolff sein Dasein trotz aller Einschränkungen optimistisch und dankbar betrachtet, wer es als sinnvoll und lebenswert empfindet, ist auch zufriedener. Bedeutsam ist dabei, als wie „selbstwirksam“ sich die alten Menschen wahrnehmen, also inwieweit sie das Gefühl haben, noch viel von dem tun zu können, was ihnen Spaß macht. Und wenn das nicht mehr klappt: inwieweit sie eben auf andere Beschäftigungen ausweichen können, die ihnen ebenfalls Freude und Erfolgserlebnisse bescheren.
„Tiefgreifende Befriedigung, voneinander zu lernen“
Trotzdem ist nicht alles Sonnenschein im hohen Alter. Ein Faktor nimmt mit den fortschreitenden Lebensjahren tatsächlich kontinuierlich ab: der empfundene Lebenssinn. Ein Drittel der Befragten sah keine Perspektive mehr in ihrem Leben. „Ich will die Zeit nur noch rumbringen“, sagten acht Prozent. Knapp 40 Prozent der Hundertjährigen (vor elf Jahren waren es sogar 55 Prozent) vertrauten den Interviewern an, dass sie sich „manchmal einsam fühlen“. Einsamen alten Menschen mangelt es meist tatsächlich an Kontakten, manche haben keinerlei Angehörige, die in der Nähe wohnen und sie besuchen kommen. Auch Hörverlust und Schmerzen tragen zu dem Gefühl bei, vom Leben abgekapselt und seiner überdrüssig zu sein. Chronische Einsamkeit geht Hand in Hand mit Depression.
So banal es klingt: Wichtig für alte Menschen ist, dass sie jemanden haben, der sich um sie kümmert, mit ihnen Zeit verbringt. Das muss und sollte keine einseitige Angelegenheit sein. Gerta Scharffenorth erzählt mit Hingabe von den gar nicht so seltenen Gesprächen mit ihrem Urenkel, von der „Spannweite der unterschiedlichen Lebenserfahrungen“ und der Bereicherung, sie auszutauschen, von der „tiefgreifenden Befriedigung, voneinander zu lernen“. Dieser Generationendialog werde viel zu selten genutzt: „Wir sind ja bis zuletzt lebendige Menschen, mit denen sich der Austausch lohnt.“
Auch wenn sich manche der Hundertjährigen bisweilen einsam fühlen – Todessehnsucht haben die wenigsten. Nur zehn Prozent äußern den Wunsch zu sterben. Etwa: „Wenn ich so allein dasitze, wünsche ich mir manchmal, einfach einzuschlafen.“ Oder: „Es reicht jetzt. Ich kann ja nichts mehr machen. Mit neunzig war es noch schön!“ 72 Prozent der Befragten sagten allerdings deutlich, dass sie weiterleben wollen. Doch wollten sich die wenigsten darauf festlegen, wie lange genau. Wenn die Interviewer sie fragten, wie alt sie denn werden wollten, nannten nur wenige eine konkrete Zahl. Die meisten wünschten sich einfach noch mehr Zeit. Sich die verbleibende Lebensspanne als konkret begrenzte und notwendigerweise kurze Strecke vorzustellen hatte für sie womöglich doch etwas Mulmiges. Eine der Antworten bringt es ironisch auf den Punkt: „Ich bin ganz klar darauf eingestellt, dass der Tod nah bevorsteht – wobei das ‚Nah‘ eben ein offener Begriff ist …“
Fast alle Hundertjährigen haben noch Ziele
Im sehr hohen Alter staucht sich die Zukunftsperspektive, doch bei den wenigsten geht sie ganz auf null. Fast alle Hundertjährigen haben noch Ziele. Oft beziehen sie sich nicht auf das eigene Leben, sondern auf das ihrer Lieben. Ein Mann gab zum Beispiel zu Protokoll, dass er gerne noch miterleben würde, wie sein jüngster Enkel endlich heiratet. Immer wieder habe er ihn gemahnt: „Thomas, halt dich ran!“ Doch der Junior hält ihn hin.
Sie umarmen ihn nicht, aber Angst vor dem Tod haben die Hundertjährigen auch nicht. Nur eine einzige Befragte bejahte die Frage: „Ist das Lebensende etwas Bedrohliches für Sie?“ Die meisten hielten es eher mit Aussagen wie dieser: „Wenn ich mich abends zum Schlafen lege, ist das ja auch nichts Bedrohliches.“ In den Gesprächen hätten die Hundertjährigen das heikle Terrain keineswegs gemieden, berichtet die Gerontologin Katrin Boch. „Die Kommunikation über diese Themen war unglaublich einfach. Selbst Personen mit kognitiven Defiziten antworteten hier sehr bereitwillig.“
Wenn auch der Tod selbst keinen Schrecken hat, vor dem Sterben und „der letzten Phase vor dem Tod“ machen sich manche Hundertjährigen durchaus Sorgen. Sie fürchten sich vor Hilflosigkeit und Siechtum. Nora Sackmann hatte dazu lange keinen Anlass. Auch mit hundert stand sie noch voll im Leben, und beim 40. Geburtstag der Enkelin habe sie „das volle Programm“ mitgemacht, bis nachts um zwölf, erzählt ihre Tochter. Doch dann ging es mit der Gesundheit auf einmal bergab, Wasser sammelte sich in der Lunge, das Atmen fiel ihr schwer. „Ich hatte gehofft, dass der Tod nicht so schwer ist“, gestand sie der Tochter. Am Ende kam er dann doch plötzlich und gnädig – so wie es sich die hundertjährige Dame ersehnt hatte.