Wir betreten eine Metallstufe. Durch die Sohlen unserer Schuhe spüren wir die Aluminiumrillen, die ein Abrutschen verhindern und die Stufen gleitend miteinander verzahnen. Wir nehmen wahr, dass sich der Untergrund verändert hat. Die Plattform, auf der wir stehen, ruckelt oder vibriert leicht, während sie sich schräg nach oben bewegt und uns auf eine neue Raumebene trägt. Für die Dauer der Fahrt müssen wir uns ausbalancieren, Halt finden, eventuell durch den Griff nach einem gummierten Handlauf. Darin…
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finden, eventuell durch den Griff nach einem gummierten Handlauf. Darin erschöpft sich unser körperlicher Aufwand: Stehend werden wir in gemächlichem Tempo anstrengungslos aufwärts transportiert.
Das eigentätige Emporsteigen von Stufe zu Stufe empfiehlt sich auf der Rolltreppe nicht einmal ganz Eiligen. Aufgrund der größeren Stufenhöhe als bei fixen Treppen ist es ungewohnt kräftezehrend. Man sollte die Bewegung vollständig an den Apparat delegieren, sein Angebot nicht durch eigenes Zutun zu ergänzen versuchen.
Überhaupt ist Widerstand zwecklos, hat man sich einmal der „Fahrtreppe“ überantwortet, wie man sie im Fachjargon nennt. In der Regel weisen nur Kinder die nötige Energie (oder Hyperaktivität) und Geschicklichkeit auf, sich gegen die Laufrichtung zu bewegen. Die automatische Treppe zwingt uns ihren Komfort gleichsam auf.
Bleibt die Rolltreppe stehen, kommt die Empörung
Dass wir uns dabei einem (Verkehrs-)Automaten anvertrauen, macht auch der „Soundtrack“ deutlich, der sein Agieren begleitet. Häufig grundiert ein leises oder schrilles Quietschen unsere Fahrt. Es verweist auf die Präsenz von Mechanik, die wartungsbedürftig und potenziell störanfällig ist. Fällt der Antrieb der Fahrtreppe aus, ist die Enttäuschung, ja Empörung zumeist groß.
Wir nehmen die selbstverständlich gewordene Dienstleistung erst dann bewusst wahr, wenn sie temporär nicht zur Verfügung steht – typisch für unsere generelle Sicht auf Infrastruktur. Die Indizien, dass wir eine technische Zone betreten, in der uns ein Apparat (fremd-)bestimmt, registrieren wir sonst maximal halbbewusst.
Das gilt, obwohl die Kammplatten – diese podestartigen Landungsstellen am Anfang und Ende der Laufbahn – eigentlich Zäsuren im Wahrnehmungskontinuum sein könnten, Markierungen von Auftakt und Finale, die heutzutage allerdings nur noch kleine Kinder und andere Rolltreppenneulinge offensichtlich zu registrieren scheinen.
Die Rolltreppe – ein Freak der Architektur
Diese abgeklärte Haltung war nicht immer gegeben. Als die Fahrtreppe noch unvertrautes Terrain war, vor etwa 120 Jahren, wurde sie häufig kritisch beäugt. Zunächst wagten sich nur die Mutigsten auf den im doppelten Sinne schrägen Diagonaltransporteur. Als ein motorisiertes Bauteil, als mobil gewordener Part des Immobilen war sie eine Art Monster, ein Freak der Architekturgeschichte.
Bis heute fährt die Angst zumindest beim Betreten stets mit. Nicht auszumalen, was wäre, geriete man auf die falsche, verdeckte Seite des Apparats, in die Blackbox der Antriebstechnik! Faktisch sind Stürze um ein Vielfaches häufiger als Klemmungen.
Früh etablierte sich indes auch eine Kultur des delightful horror: Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurde immer wieder berichtet, dass die Einweihungen von Fahrtreppen zu Spektakeln gerieten, bei denen man oft mehrfach die (vermeintliche) Gefahr, den thrill genoss. Wegen dieses Erlebniswerts wurden die Fahrtreppen dort präsentiert, wo das aufregend Neuartige, das Ungewöhnliche, der Nervenkitzel sowieso seinen angestammten Ort hatte: in Vergnügungsparks (Coney Island, 1895), Expositionsgebäuden (Crystal Palace, London, 1899) und auf Weltausstellungen (Paris, 1900).
Symbol der modernen Kultur
Hier kamen auch Fahrsteige, enge Verwandte der Fahrtreppe, zur Erprobung, die wir heute vor allem von Flughäfen kennen, umgangssprachlich gerne Personenlaufband genannt. Diese wiesen teils sogar noch gesteigerte Schwierigkeitsgrade auf, setzte man doch, so an der Seine, etwa drei Spuren mit unterschiedlicher Umlaufgeschwindigkeit nebeneinander. Die öffentliche Beachtung war entsprechend groß.
Diese Qualitäten des Besonderen scheinen heutzutage weitgehend verloren. Erst durch extreme „Risikofaktoren“ wie große Länge beziehungsweise Höhe wird die Sensation des Spektakulären bei Rolltreppen wieder absichtsvoll hervorgerufen. Dafür gibt es gerade im kommerziellen Bereich zahlreiche Beispiele, so etwa in dem 2009 eröffneten MyZeil-Einkaufszentrum in Frankfurt am Main mit 42 Metern. An den öffentlichen Übergangszonen, den Scharnieren und Drehscheiben des Fern- und vor allem des städtischen Nahverkehrs, steht dafür meist weniger Raum und Geld zur Verfügung.
Dass Fahrtreppen im Massentransport eine bedeutende Rolle spielen, hat sie häufig zum Ziel von Kritik der modernen Kultur gemacht. Die Transportmaschinen galten als Indiz dafür, dass individuelle Erfahrung industrialisiert wurde. Tatsächlich zwingen Fahrtreppen den Nutzenden ja ihre Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit, ihren Rhythmus auf. Sie spucken das maschinell transportierte Gut indifferent, ohne Rücksicht auf dessen Zustand wieder aus.
Hier artikuliert sich die Machtübernahme durch eine Technik, von der für die Mitgleitenden nur eine Seite – eben nicht der Antrieb – sichtbar wird. Zudem wurden Fahrtreppen gleichsam als Exerzierplätze kritisiert, an denen Städterinnen und Städtern fragwürdige Verhaltensmuster antrainiert werden.
Tatsächlich zwingen Fahrtreppen einander fremde Passagiere räumlich zusammen, legen ihnen aber zugleich durch Sicherheit gebotene Abstandspolitiken und Stillhaltepraktiken auf. Sie stehen damit für eine durch Kontaktvermeidung bestimmte kalte Anonymität, die vielfach als leidvolle Form der Stadterfahrung beschrieben wird. Dennoch sind sie aus dem urbanen Alltag nicht mehr wegzudenken.
Dr. Markus Dauss ist Privatdozent am Kunstgeschichtlichen Institut der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Schwerpunkte liegen in der Geschichte und Theorie der Architektur und der Stadt. Derzeit forscht er mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu Räumen des Durch- und Übergangs.
Quellen
Andrea Mihm: Die Rolltreppe. Kulturwissenschaftliche Studien zu einem mechanisch erschlossenen Zwischenraum. Dissertation, Marburg 2005. DOI: 10.17192/z2007.0061
Siegfried Gronert: Der exakte Lauf einer Fahrtreppe. In: Vittorio Magnago Lampugnani, Lutz Hartwig (Hg.): Vertikal. Eine Kulturgeschichte vom Vertikal-Transport. Wilhelm Ernst & Sohn, Berlin 1994
Srdjan Jovanovich Weiss, Sze Tsung Leong: Escalator. Project on the city II: The Harvard guide to shopping. Taschen, Köln 2001, 336–379.
Hans Peter Bublitz: Fahrtreppen und Fahrsteige – vom Ausstellungsobjekt zum modernen Personenbeförderungsmittel. Detail – Zeitschrift für Architektur + Baudetail, 38/ 2. 1998, 215–218.