Wie wir bei uns ankommen

Wir wollen immer mehr von uns – und kommen nie an. Vielen Menschen fällt es schwer, zufrieden mit sich zu sein. Wie wir Ruhe in uns selbst finden

Eine Person sitzt entspannt auf einem Sessel und schaut aus einem großen Panoramafenster raus auf eine idyllische Landschaft
Wir hetzen durch unser eigenes Leben und kommen nicht zur Ruhe. Doch wenn wir das "perfekte Ich" loslassen, können wir inneren Frieden finden. © Orlando Hoetzel für Psychologie Heute

Ulrich Plank hat nicht gespürt, dass ihn die Arbeit immer mehr einnahm. Als Manager eines führenden deutschen Automobilzulieferers bestieg er morgens in New York das Flugzeug und ging abends in Barcelona ins nächste Meeting. „Nur an einer Handvoll Tagen im Jahr war ich überhaupt im Büro“, erinnert er sich. Seine Bezahlung: außertariflich – er spricht inzwischen von einem Schmerzensgeld. Denn er war 24 Stunden am Tag für seine Arbeit da, tags wie nachts, auch am Wochenende. „Ich habe wenig geschlafen.…

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stand ich auf und war on“, erzählt er.

„Wenn man vom Stress so viel Adrenalin im Blut hat, spürt man auch keine Erschöpfung.“ Seine Frau, die als Heilpraktikerin tätig ist, sorgte dafür, dass er bei den kurzen Zwischenstopps dank Meditationen und anderer Interventionen möglichst rasch wieder fit für den nächsten Einsatz wurde. Das bisschen Entspannung diente der weiteren Leistungssteigerung.

Erst als Plank 2017 das Management einer neuen Abteilung übernahm, geriet seine auf maximalen Output getrimmte Lebensführung ins Wanken. „Es war völlig unklar, wo ich arbeite und welches Personal ich bekomme. Die Beschäftigten hatten keine Ausstattung. Das musste ich alles allein durchboxen. Nebenbei sollte ich ein Werk im Umfang von 100 Millionen Euro in Ungarn aufbauen.“ Plank wollte keine der unfassbar vielen Aufgaben ganz aus der Hand geben.

„Das war mein Fehler. Ich konnte die Kontrolle nicht abgeben und habe zu wenig delegiert.“ Zum ersten Mal spürte er seine Überforderung. Er fuhr die Beschäftigten an, wurde ungehalten, obwohl er es nicht wollte. Für seine Familie und das Segelfliegen, seine Leidenschaft, hatte er schon lange keine Zeit mehr.

Im Sprint durchs eigene Leben hetzen

Der Schuss vor den Bug kam aber von seiner Frau. Sie drohte mit Trennung, wenn Plank sich nicht mehr Zeit für die Familie nehmen würde. „Wir sind 30 Jahre verheiratet und ich liebe meine Frau. Für mich war sofort klar: Ich möchte sie nicht verlieren“, sagt Plank. Er bat seinen Arbeitgeber um ein Coaching, mit dem Ziel, aus der Überlastung herauszukommen. Der lehnte das ab. Da zog Plank die Konsequenzen: Im Alter von etwas mehr als 50 Jahren trennte er sich von seiner Spitzenposition, von Geschäftsreisen rund um den Globus in der Businessclass – und von einem Spitzengehalt. Plank ging an der Seite seiner Frau in die Selbständigkeit.

Der studierte Ingenieur der physikalischen Technik bietet seit 2019 betriebliche Gesundheitsförderung für gestresste Beschäftigte an. Sie sollen sich nicht selbst aus den Augen verlieren – so wie es ihm passiert ist. Es ist eine Kehrtwende um 180 Grad und im Rückblick war die neue Arbeit „ein Weckruf, um mir selbst wieder näherzukommen“, meint Plank. „Heute lebe ich genügsamer und mehr im Einklang mit der Natur und mir selbst.“

Sich verlieren, immer und immer schneller in derselben Tretmühle rennen, dieses Gefühl beschleicht viele Menschen im Laufe ihres Lebens. Sie versuchen, noch mehr aus sich herauszuholen, sei es im Beruflichen wie Plank oder auf der persönlichen Ebene: Wenn sie der gereifte, glückliche und gelassene Mensch werden wollen, der ihnen auf Yoga- und Meditationsvideos entgegenlächelt. Im ständigen Getriebensein entfernen sie sich weiter und weiter von sich selbst. Wie gelingt jedoch das Gegenteil: bei sich selbst ankommen? Wie kann man zufrieden sein, auch wenn es an manchem mangelt?

Gefühl der Unvollkommenheit

Dazu ist zunächst zu sagen: Das Streben nach Wachstum, das Vorwärtsdrängen wohnt dem Menschen inne. Es ist nichts Schlechtes, sondern zunächst der gesunde Antrieb für die kognitive, körperliche und psychische Entwicklung. Das Kind möchte laufen lernen, um seine Umwelt zu erkunden. Es möchte Lob, um sich anerkannt zu fühlen. Wachstumsorientierte Wünsche speisen sich somit zum Teil aus fundamentalen Bedürfnissen wie dem nach Essen oder der Sehnsucht nach Geborgenheit. Ab der Jugend dehnen sich die Ansprüche aus: Wir entwickeln eine Vorstellung davon, welchen Beruf, welchen Status und welche Charaktereigenschaften wir erstrebenswert finden.

Angestachelt werden kann das Verlangen nach Wachstum durch eine Perspektive des Mangels. „Wer mit sich selbst sehr kritisch umgeht, kann nicht zur Selbstgenügsamkeit gelangen. Diese aber ist die Basis für Zufriedenheit und das Bei-sich-Ankommen“, sagt Tobias Esch, Arzt und Professor für Gesundheitförderung an der Universität Witten/Herdecke. Esch ist auch Glücksforscher und der Autor des Buches "Mehr Nichts!". Darin empfiehlt er Besinnung und rät dazu, das ewige Streben nach innerem und äußerem Wachstum zu hinterfragen.

Die Vorstellung von Unvollkommenheit trage aber nicht schon der Säugling in sich, so der Psychosomatiker Joachim Bauer; sie werde von anderen nahestehenden Personen in uns hineingesetzt, zum Beispiel in unbewusster ­Übertragung, weil sie uns die Unvollkommenheit vorlebten, indem sie sich selbst defizitär fühlten. Oder wenn sie nur Kritik an uns übten und kaum ein lobendes, liebes Wort verlören. Wenn wir in der Folge uns selbst fortlaufend bemängelten, ersticke das jede innere Zufriedenheit.

Wenn Selbstoptimierung zur zwanghaften Rastlosigkeit wird

Dass wir nach Wachstum streben, manifestiere sich in der Konsumgesellschaft unserer Zeit besonders deutlich, sagt der Umweltpsychologe Marcel Hunecke (lesen Sie hier das Interview). Unvorstellbar, dass jemand das Schrumpfen der Wirtschaft begrüßen würde. Analog dazu erscheint es den meisten nicht denkbar, mit weniger materiellen, psychischen und kognitiven Ressourcen zufrieden werden zu können. Vielmehr löst der Verlust Angst aus, besonders in diesen Zeiten, in denen ein Schwund des Wohlstands für viele Menschen real ist.

Von „mentalen Wachstumsarchitekturen“ spricht der streitbare Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer in seinem Essay "Mentale Infrastrukturen. Wie das Wachstum in die Welt und in die Seelen kam". Unser Denken, Fühlen und Handeln seien davon durchdrungen, mehr haben zu wollen, mehr zu konsumieren und uns selbst zu optimieren. Dieses Streben erfasse gerade nicht nur die materielle, sondern auch die psychische Ebene und reiche bis in die intimen Beziehungen hinein.

Es zeigt sich etwa, wenn Paare ihre Sexualität zu verbessern suchen und es dabei wiederum nur um Leistung und Quantität und nicht primär um eine leiblich-sinnliche Begegnung geht. Wer schlecht organisiert ist, braucht ein Coaching. Das war auch Planks Impuls. Er wollte faktisch konsumieren, ein Seminar buchen und an sich arbeiten, um besser zu werden.

„Im Ergebnis wird die Geschwindigkeit des Machbaren auf die Spitze getrieben, auch weil wir uns nicht nur mit den Nachbarn und Nachbarinnen, sondern über das Internet mit der ganzen Welt vergleichen“, sagt Esch. Viele Menschen finden sich so in zwanghafter Rastlosigkeit wieder, die in ein übersteigertes Tun mündet. Wie Ulrich Plank, der flog und arbeitete, schnell und ungesund aß, bis die Arthrose kam. Er hätte das als ein Signal des Körpers deuten können, meint er. Er machte aber weiter wie zuvor.

Die Selbstoptimierung erfasst uns nicht nur am Arbeitsplatz. Sie kann auch die Freizeit oder die äußere Erscheinung betreffen. Getrieben ist auch jene Person, die nicht mehr zählen kann, wie viele Schweige- und Achtsamkeitsretreats sie praktiziert hat, ohne dabei wirklich zur Ruhe zu kommen. Sie ist immer noch nicht da, wo sie sein möchte. Sie ist immer noch nicht die, die sie immer werden wollte, ohne dass sie sagen könnte, was eigentlich fehlt. „Sie kann nicht sein, weil sie denkt, dass sie nicht richtig ist“, sagt Esch, der dieses Lebensgefühl von seinen Probanden gut kennt. „Das macht unzufrieden.“

Innerer Frieden gehört zum Wachstum dazu

Mit dem Drang zu übersteigertem Wachstum wächst die Gefahr, dass sich das Selbst auflöst, argumentiert der Glücksforscher. Wenn alles – der Beruf, die Charaktereigenschaften, die Hobbys – zu jedem Moment neu ausgesucht und erworben werden kann, verliert die Persönlichkeit selbst ihre Konturen. So sieht es auch Welzer in seinem Essay.

Dabei beinhaltet gesundes Wachstum gerade das Bei-sich-Ankommen, betont Esch, wenn es nicht sogar eine wichtige Motivation ist. „Ich mache die Tür auf, ich probiere mich aus und lerne. Dann aber komme ich wieder nach Hause. Das beinhaltet, dass ich ein Gefühl für mich habe, dass ich in mir zu Hause sein kann.“ Tiefe Zufriedenheit zu erlangen ist damit grundsätzlich sogar ein wichtiges Motiv des Wachstumsstrebens.

Esch spricht vom eudämonistischen Zustand, den wir alle durch Wachstum erlangen möchten. „Eudämonie“ ist ein komplexer philosophischer Begriff aus der Antike, der häufig als „Glückseligkeit“ übersetzt wird. Esch versteht darunter einen „Zustand stillen und leisen Glücks, in dem wir uns als Teil eines großen Ganzen fühlen. Nicht sehr überwältigend, aber von tiefem Frieden erfüllt, weil ich der bin, der ich bin. Ich bin mir selbst Heimat.“ An seinen Studien Teilnehmende beschrieben die Glückseligkeit damit, sich als „Sandkorn in der Wüste gefühlt zu haben“ und damit als winziger Teil in einer friedlichen Welt – einige schilderten, von tiefer Dankbarkeit erfüllt gewesen zu sein oder das Gefühl gehabt zu haben, vom Leben beschenkt worden zu sein.

Hermann Hesse fing das Bei-sich-Ankommen 1907 in seinem Gedicht Glück auf unnachahmlich treffliche Weise ein:

Solang du nach dem Glücke jagst,

Bist du nicht reif zum Glücklichsein,

Und wäre alles Liebste dein.

Solang du um Verlornes klagst

Und Ziele hast und rastlos bist,

Weißt du noch nicht, was Friede ist.

Erst wenn du jedem Wunsch entsagst,

Nicht Ziel mehr noch Begehren kennst,

Das Glück nicht mehr mit Namen nennst,

Dann reicht dir des Geschehens Flut

Nicht mehr ans Herz – und deine Seele ruht.

Lassen ist das neue Tun

Im Kern bedeute tiefe Zufriedenheit, glückselig zu sein, sagt Esch, obwohl es an manchem fehlen mag. Das Gefühl entspringe nicht einer kognitiven Lebensbilanz, ist er überzeugt, sondern sei zunächst eine archaische, rohe und unmittelbare Emotion.

Auf die Frage, wie man denn die Glückseligkeit erlangen könne, betont der Glücksforscher, dass man dafür gerade nichts zu tun brauche, sondern „lassen“ müsse – und er zitiert Meister Eckhart, den Gelehrten des Spätmittelalters: Dort „wo du dich findest, da lass ab. Im Zustand der Erfüllung müssen wir die Hände von uns nehmen und dürfen uns gerade nicht kritisieren oder zu ändern versuchen.“ Inneren Frieden kann man letztlich gerade nicht durch Arbeit an sich selbst erlangen.

Das Getriebensein zu erkennen ist gleichwohl eine Voraussetzung, um aus einem Modus auszutreten, der ein Bei-sich-Ankommen verwehrt. „Wir brauchen Selbsterfahrungs- und Reflexionsprozesse, um das zu erkennen“, erklärt Annette Jenny, Nachhaltigkeitspsychologin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Sie erforscht die materielle Genügsamkeit. Daraus lassen sich Analogieschlüsse für die psychische Selbstgenügsamkeit ziehen. Wir werden etwa dann nachdenklich, wenn jemand schwer erkrankt und wir zu erkennen glauben, dass er immer mehr unternahm, als ihm gutzutun schien.

Die Befreiung vom perfekten Ich

Dabei spielt es keine Rolle, ob eine Erkrankung faktisch durch zu viel Stress hervorgerufen wurde – im Einzelfall lässt sich die Ursache einer Krankheit ohnedies nicht eruieren –, sondern allein, dass wir die alltägliche Lebensführung infrage stellen, verändert die Einstellung zum eigenen Leben. Dann aber geht es vielfach um das „Lassen“: auf die Geschäftsreise zu verzichten, die Verantwortung auch mal anderen zu übergeben. Es gut sein zu lassen.

Tröstlich ist es da, dass Eschs Forschungen zeigen, wie Menschen mit dem Älterwerden selbst auf einen zufriedeneren Zustand zulaufen (siehe Definition unten). Die Lebenszufriedenheit der älteren Generationen ist in Studien im Schnitt größer als die der jüngeren: „Wir wachsen mit dem Älterwerden aus dem Ich-Bezug hinaus und öffnen uns dann mehr zu einem ,Wir‘. Wir sehen unsere Verantwortung für das Ganze, vielleicht dass wir ein Vermächtnis haben und etwas an andere Generationen weitergeben wollen. Es ist kein Wachsen mehr im Sinne eines ,Größer, Höher und Weiter‘. Ich befreie mich in dieser Phase sogar ein Stück weit von den Vorstellungen des perfekten Ichs, etwa körperlich unversehrt zu sein.“

Das ursprünglich egoistische Streben nach eigenem Wachstum werde dadurch weniger drängend. Neben Eschs Studien stützen etwa die Erhebungen des Palliativmediziners Gian Domenico Borasio von der Universität Lausanne diese Sicht. Er stellte fest, dass ältere Menschen generell viel altruistischer eingestellt sind als jüngere.

Ruhe in der Transzendenz

Wir können die Zufriedenheit nicht von außen bekommen, sondern finden sie auf eine Art in uns. Zugleich aber müssen wir unseren Egoismus überwinden, um uns mit einem größeren Ganzen zu verbinden. Nach etwas zu streben, das über ihn selbst hinausweist, ist ein grundlegendes Bedürfnis jedes Menschen. Das meint zum Beispiel Abraham Maslow, einer der Gründerväter der humanistischen Psychologie, in einer 1964 veröffentlichten Arbeit, die 2014 in dem Sammelband "Jeder Mensch ist ein Mystiker" erschien.

Jeder, der wahrnimmt, dass er sterben muss, sei spirituell, schließt sich die Weltgesundheitsorganisation einer sehr weiträumigen Definition von Spiritualität und Transzendenz an. Denn was nach dem Tod passiert, ist unsicher. Religionen und spirituelle Strömungen bieten Antworten auf diese eine große Ungewissheit.

„Martin Luther sprach davon, dass wir in uns selbst verkrümmt, weil auf uns selbst bezogen sind. In dem Moment, in dem ich mich aufrichte und in Gottes Gegenwart oder in Kontakt zu etwas anderem Größeren trete, hat das etwas Befreiendes und ich kann in mir zur Ruhe kommen“, sagt der Religionspsychologe und Psychotherapeut Michael Utsch. Spiritualität wird heute viel diverser ausgelebt als zu Luthers Zeiten, Utsch definiert sie entsprechend als „Bezogenheit auf ein größeres Ganzes“, „das entweder religiös (,Gott‘), spirituell (,Energie‘) oder säkular (,Natur‘) gedeutet wird“.

Mit dem Versprechen spiritueller Erfahrungen locken derzeit viele Klöster und buddhistische Zentren. „Stillewochenenden und Schweigeretreats sind im Moment kaum zu bekommen, weil die Nachfrage so groß ist. Viele Menschen verspüren den Wunsch, zur Ruhe und zu sich zu kommen“, glaubt Utsch. Zugleich liege in der Kontemplation die Gefahr, dass man sich im Modus des „Größer, Höher und Weiter“ arretiere, warnt Esch. Nämlich dann, wenn die Versenkung nicht als Weg gesehen werde, sich mit einem größeren Ganzen zu verbinden. Stattdessen diene sie bisweilen zu einem „Seelenstyling“, also als Praxis, um sich selbst zu optimieren. Ulrich Plank tappte in diese Falle; die Behandlungen seiner Frau zielten nur darauf ab, ihn für die nächste Dienstreise zu wappnen.

Hier können Sie mehr über das Thema „Bei sich ankommen“ lesen:

Vom eigenen Körper zum großen Ganzen

Esch erinnert sich an die Begegnung mit einem Freund, der nach einer Lebenskrise mit Yoga begann und „eigentlich alles richtig gemacht hat. Doch dann hat er sich immer weiter hineingesteigert und zeigte mir stolz Fotos von sich in den tollsten Yogapositionen. Das verkehrt die Intention kontemplativer Praktiken wie des Yoga ins Gegenteil. Darin geht es gerade nicht um die Leistungssteigerung des Einzelnen.“

Neben der geistigen Versenkung können Körpererfahrungen aber sehr wohl auch das Tor zum größeren Ganzen öffnen (siehe Artikel "Über den Körper zur Spiritualität"). „Ich kenne viele Menschen, die über Körpererfahrungen ihre Spiritualität entdeckt haben, ob beim Feldenkrais oder beim Pilgern“, berichtet Utsch. Bewegungspraktiken, die Achtsamkeit, Sinnlichkeit und Kontemplation in sich vereinen, können uns spüren lassen, dass es etwas Größeres als uns selbst gibt. Das können Momente des Verbundenseins mit anderen Teilnehmenden sein oder unerklärliche Körpererfahrungen, etwa wenn einen auf einmal eine Woge der Wärme durchströmt oder sich an einer Körperstelle der Schmerz löst. Das Bei-sich-Ankommen beginnt damit im eigenen Körper und reicht von dort nach außen.

Grundsätzlich helfen bestimmte Fähigkeiten, um mit sich selbst zufrieden zu sein. Dazu gehört die Achtsamkeit, also die Einstellung, Geschehnisse in und um uns bewusst und ganz präsent in jedem Augenblick wahrzunehmen. Diese können wir schulen und kultivieren. Ebenso wie die Sinnlichkeit, das Bei-Sinnen-Sein des Menschen. Es ermöglicht, den Kontakt in die Welt mit all unseren Antennen aufzunehmen. Der sinnliche Mensch spürt jede noch so kleine Veränderung in seinem Leib, von der Kühle der Morgenluft bis zur leibhaftigen Ruhe in der Meditation.

Neugierig auf das Leben des Gegenübers

Durch die eigene Haut die Umgebung zu spüren, sie mit den Augen zu betrachten, zu hören und zu riechen ist Feinsinn und dieser eine Voraussetzung für spirituelle Erfahrungen. Etwa geht das demütige Ergriffensein von der Schönheit der Natur mit einer leiblichen Erfahrung einher: Vielleicht läuft ein Schauer über den Rücken oder es kommen gar Tränen der Rührung. Notwendig ist aber auch das Vermögen, sich zu konzentrieren und den Geist zu fokussieren. Denn wenn unsere Gedanken wild durcheinanderspringen, wird es uns nicht gelingen, inneren Frieden zu finden.

Das Ablassen von den egoistisch motivierten Wachstumswünschen beginnt meist mit der Hinwendung zur Natur, zu Freundinnen, zur Familie und anderen Menschen. Esch ermuntert dazu, Erfüllung in dem zu suchen, was über uns selbst hinausweist: sich Gemeinschaften anzuschließen, ob dem Sportverein oder der Kirche. „Neugierig auf das Leben des Gegenübers zu sein hilft, von dem Kreisen um mich selbst wegzukommen“, bestärkt Utsch. Ihm fällt eine Klientin mit einer Depression ein, die ihre Kräfte aufbrachte und ukrainischen Geflüchteten half. Ihre Zufriedenheit habe zugenommen, „weil sie erlebte, wie gut es ihr relativ betrachtet geht, weil sie aus ihrer kleinen Welt austreten konnte und sich voller Mitgefühl für andere geöffnet hat“.

Und entgegen den Befürchtungen, die man hegen könnte, ist innere Zufriedenheit gerade nicht von Geld, Besitz und noch nicht einmal der Gesundheit abhängig, betont Esch. Glück, das kein Wachstumsstreben braucht, könnten Menschen „nahezu losgelöst von der existenziellen Situation erleben. Erst wenn etwa Schmerzen enorm überhandnehmen, ist diese Zufriedenheit bedroht.“ Wir können auch dann, wenn wir nur noch wenig können, innerlich zur Ruhe kommen, sobald wir uns mit der Situation angefreundet haben. Meist dauert der Anpassungsprozess allerdings eine Weile. In der ersten Phase kann durchaus die Frustration über die eingeschränkten Möglichkeiten überwiegen.

Wachstum und Vergänglichkeit

Oft katalysieren sogar ausgerechnet lebensbedrohliche Krankheiten und existenzielle Krisen die Entwicklung hin zum glückseligen Zustand. Planks Lebensweg ist dafür einmal mehr ein Beispiel. Er wurde wachgerüttelt, als die Scheidung drohte. Und auch der Sozialpsychologe Harald Welzer schrieb sein Buch "Nachruf auf mich selbst" unter dem Eindruck des Herzinfarktes, den er erlitten hatte. Die Endlichkeit des Lebens führte ihm eindrücklich vor Augen, wie absurd es ist, das Selbst zu perfektionieren. Wofür strebe ich nach ewiger Gelassenheit, wenn ich in der nächsten Sekunde schon gestorben sein kann? Wachstum erscheint im Anblick des Todes sinnlos.

Für diese Einsicht aber müssen sich Menschen der eigenen Vergänglichkeit gegenwärtig sein. Das ist in einem Kulturraum nicht leicht, in dem überwiegend im Verborgenen, in Krankenhäusern, in Pflegeheimen und allein zu Hause gestorben wird. Esch geht so weit zu sagen, dass ein übersteigertes Wachstumsstreben Ausdruck einer unbewussten Angst vor dem Tod ist. „Dahinter steht der Glaube: Solange ich wachse, muss ich keine Angst haben zu sterben. Der Glückselige aber hat diese Schwelle überschritten. Er hat es geschafft, die Angst vor dem Tod auszuhalten.“

Sich mit dem Tod zu befassen dürfte für viele wohl kein verlockender Rat sein. Ermutigen können aber jene Menschen, die es über das Herz gebracht haben. Das sind beispielsweise Hospizmitarbeiter und Sterbebegleiterinnen. Sie beschreiben die Erfahrung der Endlichkeit als außerordentliche Bereicherung. Luise Merz, ihr Nachname ist auf ihren Wunsch hin verändert, etwa begleitet als Palliativfachkraft Menschen am Lebensende und bis zum Tod. Es sind Menschen mit Krebserkrankungen und anderen schlimmen Leiden, die sie zu Hause besucht, an deren Bett sie sitzt. Sie spricht mit ihnen über die Angst, qualvoll zu sterben. Die allermeisten schlafen friedlich ein, weiß sie. Merz haben die Sterbeerfahrungen sehr verändert: „Ich trage in mir eine gro­ße Dankbarkeit, weil ich weiß, was alles passieren kann.“

Plank ist seit seinem Ausscheiden aus dem Unternehmen mehr für seine Familie da. Stimmiger sei das, was er heute tut, meint er. Das Schönste sei, die Dankbarkeit der Menschen zu spüren, denen er im Rahmen der Gesundheitsförderung helfen könne.

Ist Plank bei sich angekommen? Mit der Coronapandemie liegen zwei schwierige Jahre hinter dem selbständigen Paar. Er arbeite noch immer so viel wie vorher, gesteht er. Zu sich zu kommen geschieht auf dem Lebensweg. Es ist nichts, was auf einmal über einen schwappt und da ist wie der Lohn auf dem Konto. Und wie jedes Gefühl kann es sich zunächst schwankend und flüchtig einstellen, und erst nach einiger Zeit breitet es sich vielleicht zu einem Teppich aus, auf dem wir ruhen.

Lebenszufriedenheit

In einem weiteren Sinne umfasst Lebenszufriedenheit nicht nur das innere Glücks­erleben, sondern etwa auch die Beziehung, den Beruf oder die persönliche finanzielle Lage. Interessanterweise erhöht eine Hochzeit die Lebenszufriedenheit kaum, problematische Ereignisse wie eine Scheidung oder der Verlust des Arbeitsplatzes können sie jedoch deutlich senken. Langfristig pendelt sich die Lebenszufriedenheit meistens jedoch wieder auf dem für das Individuum typischen Wert ein.

Vom euphorischen zum stillen Glück

In Abhängigkeit von unserem Alter kann sich Glück unterschiedlich anfühlen – und ganz andere Ursachen und Folgen haben

Je nach Lebensphase, in der wir uns befinden, erleben wir verschiedene Formen des Glücks meint der Mediziner Tobias Esch, er nennt sie Typ A, B und C.

In der Kindheit und Jugend suchen wir nach dem ekstatischen Glück. Dieses stellt sich ein, wenn wir neue positive Erfahrungen machen. Das Glück vom Typ A ist eine wichtige Motivation für das Lernen.

Typ B In der Lebensmitte wandelt sich das Glück zu einem Aufatmen, wenn der Stress nachlässt. Das Glück vom Typ B erlebt man in der „Rushhour des Lebens“, wie der mittlere Lebensabschnitt auch heißt, etwa in einem schönen Urlaub.

Typ C Mit dem Älterwerden emanzipiert sich die Lebenszufriedenheit schließlich von der eigenen Leistungsfähigkeit und dem Streben nach permanentem Wachstum. Esch meint, in seinen Studien habe sich gezeigt: „Einer der verlässlichsten Faktoren für wirkliche Zufriedenheit ist das Alter selbst.“ Das Glück vom Typ C ist ruhig und friedlich.

Quelle

Tobias Esch: Mehr Nichts! Goldmann, München 2021

Quellen

Maja Storch, Eva Maria Jäger, Stefan Klöckner: Spirituelles Embodiment. Arkana, München 2021.

Tobias Esch: Mehr Nichts! Warum wir weniger vom Mehr brauchen. Goldmann, München 2021.

Marcel Hunecke: Psychologie der Nachhaltigkeit - Vom Nachhaltigkeitsmarketing zur sozial-ökologischen Transformation. Oekom, München 2022.

Harald Welzer: Mentale Infrastrukturen: Wie das Wachstum in die Welt und in die Seelen kam, Publication Series on Ecology der Heinrich Böll Stiftung, 2. Mai 2011, DOI/ISBN: 978-3-86928-050-9

Tobias Esch u.a.: The ABC model of happinessNeurobiological aspects of motivation and positive mood, and their dynamic changes through practice, the course of life. Biology, 11, 843, 2022, DOI: 10.3390/biology11060843

Michael Utsch: Am Bildschirm Sinn finden? Psychotherapie & Seelsorge MÜTTER, 1/21, 54-55.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2023: Bei sich ankommen