Erst die Arbeit, dann das Vergnügen?

„Das ist nicht genau richtig…“ Gewissenhafte Menschen sind höchst zuverlässig, verursachen jedoch manchmal mehr Kosten, so Willi Eckers neues Buch.

Gewissenhafte Menschen sind oftmals ein Segen: Bei Operationen, als Fluglotsinnen oder auf dem Bau sind wir alle auf einen solchen Persönlichkeitsstil angewiesen. Zum Fluch kann er sich jedoch entwickeln, wenn Gewissenhaftigkeit sich zum „Nicht genau richtig“-Störgefühl entwickelt und den Betroffenen das Leben schwermacht. Genau diesem Gefühl spürt Willi Ecker als erfahrener Psychotherapeut und Wissenschaftler in seinem neuen Buch nach und führt uns in einen Persönlichkeitsstil ein, der mehr Kosten verursacht als Nutzen bringt.

Nie wirklich Erholung

Ob am Arbeitsplatz, in der Freizeit oder beim Treffen von Entscheidungen kann das Störgefühl enorme negative Auswirkungen auf Gesundheit und Lebenszufriedenheit haben. Menschen, die ihre Arbeiten erst beenden können, wenn diese perfekt sind, machen sich selbst zu Workaholics, sie geraten ins Burnout und sind bei ihren Kolleginnen und Kollegen in der Regel schnell unbeliebt.

Menschen, die ihre Freizeit so durchtakten, dass alles unter einer „vernünftigen Zielsetzung“ steht, können sich kaum mehr erholen. Und das Treffen von kleinen Alltagsentscheidungen kann zum Problem werden, wenn die Entscheidung „genau richtig“ getroffen werden muss. Willi Ecker vergleicht diese Menschen mit Autofahrerinnen im Kreisverkehr, für die keine Ausfahrt die „genau richtige“ darstellt.

In seinem gut lesbaren und wirklich praktisch aufgebauten Buch verdeutlicht er, welche biografischen Erfahrungen die Entwicklung eines solchen Persönlichkeitsstils fördern: eine an strengen Regeln orientierte Erziehung ohne Versuchs- und Irrtumstoleranz, wenig Lob und hohe Leistungsorientierung. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ ist ein Leitsatz, den viele Menschen auch als Erwachsene noch befolgen.

In der Konsequenz führt diese Haltung dazu, dass man in der Arbeit steckenbleibt und nie zum Vergnügen kommt, weil eben immer genügend Arbeit da ist. Durch diesen Erziehungsstil entwickelt sich eine Weltsicht, die eigene Unzulänglichkeiten durch einen erhöhten Einsatz von Kontrolle kompensiert und Vermeidungsziele (keine Fehler machen) über Annäherungsziele (Leben genießen) stellt.

Bei Menschen, die eigene Schwächen verbergen, kann eine positive Resonanz kaum wirksam werden, da sich diese ja auf die fassadäre Außenwirkung bezieht.

Nicht mehr "gradnochen"

Der subjektive Eindruck von Kontrolle im Durchdenken möglicher Zukunftsszenarien paart sich mit der sogenannten retroaktiven Kontrolle, bei der bei allen Fehlern die Schuldfrage geklärt werden muss. Wer sich stets mit der Identifikation eines oder einer Schuldigen beschäftigt, erliegt der Illusion von prinzipieller Kontrollierbarkeit. Da aber viele Dinge, die passieren, nicht kontrollierbar sind, stößt das Bemühen um eine weitgehende Kontrolle schnell an Grenzen, wird jedoch mit verstärkten Kontrollbemühungen beantwortet. Verloren gehen damit sowohl Leichtigkeit als auch Lebensfreude. Daher beschäftigen sich sehr gewissenhafte Menschen gedanklich häufig mit den Gefahren des Lebens.

Ecker schlägt einfache Übungen vor, die helfen können, ein „Nicht genau richtig“-Störgefühl aushalten zu lernen und neue Erfahrungen zu sammeln. Er regt an, bei der Arbeit Pausen zu machen, nicht zu „gradnochen“ (gerade noch fertig machen), das Ziel der Arbeit am Zweck auszurichten (ist dieses Ergebnis für den Zweck ausreichend?) und Menschen prinzipiell einen Vertrauensvorschuss zu geben, mit dem Arbeit auch mal delegiert werden kann. Im Freizeitbereich rät er, arbeitsfreie Reservate zu schaffen, damit Spontaneität möglich wird. Bei Entscheidungen kann das Bauchgefühl stärkeren Einfluss nehmen, und zur Herstellung von Lebenszufriedenheit sollte der innere Kritiker durch eine wohlwollende Begleiterin ersetzt werden.

Im Übungsteil des Buches lernen Leserinnen und Leser auch, wie man Ärger loslassen und ein Dankbarkeitstagebuch führen kann. Ecker gelingt mit seinem sehr einfühlsamen Schreibstil, die Betroffenen nicht zu pathologisieren, sondern ihnen das Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag bei ihrer gedanklichen und praktischen Arbeit zu verdeutlichen. Seine Übungsvorschläge lässt er die Leser durch entsprechende Fragen evaluieren und äußert Verständnis dafür, dass manche Übungen schwerfallen könnten, da diese den Prinzipien der gewohnten Denkstile diametral widersprechen. Eine gelungene Hilfestellung für Betroffene und für alle Therapeutinnen und Therapeuten.

Willi Ecker: Nicht genau richtig. Zum Umgang mit einem quälenden Störgefühl. Dgvt, 2022, 120 S., € 14,80

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2023: Intensiver leben
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