Wer heute noch von einer riesigen Altbauvilla mit großem Garten und vier Meter hohen Decken träumt, ist entweder ein uninformiertes Relikt aus vergangenen Zeiten oder ein bekennender Energie- und Umweltsünder mit zu viel Geld. Tiny living ist der neue Trend. Das bedeutet übersetzt: winzig kleines Wohnen. Wohnen, reduziert auf das funktionale Minimum: Schlafen, Arbeiten, Kochen, Essen, Toilette und Körperhygiene. Das alles auf kleinstem Raum – 10 bis 50 Quadratmeter – und am besten in Selbstversorgung mit…
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Das alles auf kleinstem Raum – 10 bis 50 Quadratmeter – und am besten in Selbstversorgung mit eigener Solaranlage und Regenwasseraufbereitung. Tiny living-Wohnwünsche darf man öffentlich äußern, ohne vorwurfsvolle Blicke zugeworfen zu bekommen.
Frei wie ein Vogel im Wind
In aller sozioökonomischen Bescheidenheit kann man dann zugleich lustvoll und ökologisch korrekt die neuen Wohnformen für die Zukunft erdenken und gemeinsam diskutieren: die Zehn-Quadratmeter-Holzhütte mit bodentiefer Fensterfront – am Meer mit Blick auf den Sonnenuntergang – oder den maßgefertigten kleinen Campingbus, mit dem man dank digitaler Flexibilität die nächsten Jahre auf den Straßen dieser Welt verbringen kann, frei wie ein Vogel im Wind, mal kurz im Call mit der Firma, die Füße im Sand und den Weißwein schon kühlgestellt.
Bücher mit Titeln wie Small Homes – Grand Living, Small but Smart oder Micro Living fluten den Markt. Onlinemagazine diskutieren den Trend. Und mit dem Game Tiny Bookshop lässt sich der Lebenstraum in der virtuellen Realität schon mal austesten.
Hinter dem Modewort steckt ein Grundgedanke, der mindestens so alt ist wie die Philosophie des Bauhauses: Wohnballast abwerfen, leichter werden, sich auf das Wesentliche konzentrieren. Raus mit den Wohnzimmer-Schrankwänden, den Dekor- und Nippesstaubfängern. Dieser Gedanke des bewussten Minimalismus passt tatsächlich gut zu den Herausforderungen der Gegenwart. Denn die Altbauvillen und -wohnungen mit ihren hohen Stuckdecken können wir sowieso nicht mehr lange heizen.
Ästhetik im Zeitgeist
Weniger ist mehr, so lautet das Dogma der Postwachstumsökonomie hinsichtlich unseres Konsumverhaltens, wie es uns etwa der Volkswirt Niko Paech vorschlägt. Ganz in diesem Sinne hält uns auch die „10x10 Challenge“ zum Verzicht an, bei der wir zehn Tage lang mit nur zehn Kleidungsstücken auskommen. Ein derart nachhaltiger Lifestyle erfordert keine Kleiderschränke mehr, es reicht eine Kiste.
Die Ästhetik dieses Lebenstraumes trifft sowieso den Zeitgeist: form follows function. Bettnischen unter der Zimmerdecke, zu erreichen über schmale Treppenstiegen, die zugleich Stauraum sind. Kompositionen aus Schubladen, verschiebbaren Tür- und Wandelementen, die unsere überreizten Sinne vor unserem Alltagskleinkram schützen. Sitze oder Tische zum Ausklappen, die wir von der Decke kurbeln oder aus dem Boden hervorzaubern. Dazu ein paar edle Materialien, ein bisschen Leinen hier, ein bisschen Holz und Glas da. Und vielleicht als emotionales Restbekenntnis eine Lichterkette und eine Handvoll Schwarz-Weiß-Fotografien, irgendwo hingetupft in die minimalistische Leere.
Winziges Wohnen, großes Glück
Und ja: Tiny living ist sinnvoll. Die Formel für Glück – „Ich beziehungsweise wir hier jetzt und alles ist okay!“ – lässt sich leichter leben, wenn nichts unsere Aufmerksamkeit von den wirklich wichtigen und schönen Dingen ablenkt: einer Berührung; einer Tasse Kaffee; einem guten Buch oder einem guten Gespräch; warmen Füßen; gemeinsamem Lachen… Nicht umsonst stehen die meisten Tiny Houses, die so fotogen durch die Medien geistern, in Wäldern, auf Wiesen und an Küsten. Denn obwohl wir in der Realität alle eher naturfern wohnen, ist die unmittelbare Nähe zur Natur einer der großen Glücksfaktoren für uns.
Das lässt sich sogar mit Zahlen belegen. So stellen Christian Krekel und George MacKerron im fünften Kapitel des World Happiness Report 2020 mit dem Titel How Environmental Quality Affects Our Happiness eine Datenanalyse vor, die sie mit einer auf mappiness basierenden Smartphone-App durchgeführt haben. Menschen aus London wurden über den Tag hinweg immer wieder gefragt, wie sie sich gerade fühlten. Es zeigte sich: Ihr Glückslevel stieg, sobald sie sich in Parks, auf Grünflächen oder am Wasser aufhielten. Nicht ganz undenkbar also, dass das tiny living unser Wohlbefinden erhöht.
Am Meer, auf Wiesen, in Wäldern
Aber in der kleinen Holzhütte am Meer zu sitzen und durch das bodentiefe Fenster auf die Wellen zu schauen taugt dann für die gesamte Menschheit doch genauso wenig als zukunftsfähiges Lebensmodell wie die Villa mit dem großzügigen Garten. Was wäre, wenn mehr als 80 Millionen Bundesbürger nach einem Platz am Meer, Seeufer oder am Waldrand suchten?
Das heißt nicht, dass die Idee des tiny living nicht zukunftstauglich ist. Unsere menschlichen Bedürfnisse benötigen nicht unglaublich viel Raum, sondern eine kluge, qualitativ hochwertige Raumgestaltung. Konsequenterweise bitte auch in Flüchtlingsunterkünften, Obdachlosenheimen und Studierendenwohnheimen. Und die riesigen Altbauvillen bewohnen wir künftig gemeinsam jeweils zimmerweise oder wir machen es uns im ehemaligen Esszimmer in einem Wohnkubus gemütlich.
Dr. Alexandra Abel ist Diplompsychologin. Sie lehrte lange an der Bauhaus-Universität Weimar Architekturpsychologie, Architekturwahrnehmung und Architekturvermittlung unter dem Fokus bedürfnisorientierter Architektur. Heute hält sie vor allem Vorträge und Workshops und schreibt Artikel und Bücher zu diesen Themen.
Quellen
Paech, Niko: Grundzüge einer Postwachstumsökonomie. 2009
Christian Krekel, George MacKerron: How environmental quality affects our happiness. World Happiness Report, 95-112, 2020