Die moderne Hundeforschung beginnt in einer Garage im US-Staat Georgia. Der junge Mann, der das Experiment leitet, heißt Brian Hare. Eigentlich erforscht er an der Emory-Universität in Atlanta das Verhalten von Schimpansen. Diese Tiere sind verblüffend intelligent, doch sie versagen bei einer einfachen Übung: Dabei verbirgt man heimlich etwas Futter unter einem von zwei gestürzten Bechern. Danach zeigt man mit dem Finger auf den richtigen Becher und verrät den Affen dadurch das Versteck. Zu Brian Hares…
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zeigt man mit dem Finger auf den richtigen Becher und verrät den Affen dadurch das Versteck. Zu Brian Hares Verblüffung verstehen Schimpansen diese Geste jedoch nicht.
„Ich glaube, mein Hund kann das“
Kleinkindern gelingt die Sache dagegen vollkommen mühelos. Handelt es sich womöglich um eine einzigartige Fähigkeit des Menschen? „Ich glaube, mein Hund kann das“, murmelt Brian Hare. Sein Professor ist skeptisch und fordert Beweise. Also stellt Brian Hare in der elterlichen Garage jenen „Zeigetest“ nach, an dem die Menschenaffen so kläglich scheiterten. Und wirklich: Sein Hund namens Oreo besteht mit Bravour!
Das war Ende der 1990er Jahre. Aus Brian Hare ist mittlerweile einer der bekanntesten Hundeforscher der Welt geworden. Seine Garagenstudie steht am Beginn eines globalen Trends. In den folgenden Jahren entstanden auf fast allen Kontinenten Forschungszentren, die sich für das Denken, Fühlen und Verhalten von Hunden interessieren. Die Psychologie des Hundes ist zum Modethema geworden.
Wie ähnlich ist uns der Hund? Um das herauszufinden, greifen die Forschenden zu einem ähnlichen Trick wie Brian Hare: Sie suchen nach bewährten Tests, mit denen die Psychologie bislang die Entwicklung kleiner Kinder erprobt hat, und wenden sie auf Hunde an. Der Vorteil dieser Versuche: Hunde haben in der Regel großen Spaß daran und erleben sie als willkommenes Spiel.
Ungefähr so klug wie einjährige Kinder
Da ist zum Beispiel der „A-nicht-B-Suchfehler“. Beim Menschen demonstriert er, dass Kinder mit etwa zwölf Monaten eine wichtige Veränderung in ihrem Denken durchlaufen. Ähnlich wie in Brian Hares Zeigetest versteckt man dabei vor den Augen des Kleinkindes ein Spielzeug unter einem von zwei Behältern, der sogenannten „Kiste A“. Das Kind greift zum entsprechenden Deckel und schnappt sich das Spielzeug. Diesen Vorgang wiederholt man mehrere Male. Dann versteckt man das Spielzeug unter dem anderen Deckel (Kiste B). Das zehn Monate alte Kind hat all das gesehen und wird dennoch wie gewohnt zur Kiste A greifen. Erst mit rund zwölf Monaten sucht es mit Erfolg unter Kiste B. Wie schneiden Hunde bei diesem Test ab? Das erforschte 2009 ein Team aus Ungarn. Das Ergebnis: Die allermeisten Hunde suchen korrekt unter Kiste B. Sie verhalten sich also ungefähr so klug wie einjährige Kinder.
Die Forschenden wollten aber noch mehr wissen. Sie versteckten das Spielzeug in Kiste B, zeigten danach aber mit dem Finger auf Kiste A. Die Hunde standen also vor einem Dilemma: Sollten sie ihren Augen trauen – oder dem Zeigefinger des Menschen? In rund drei Viertel aller Fälle vertrauten die Hunde dem Fingerzeig und suchten wider besseres Wissen unter Kiste A. Einjährige Kinder lassen sich von solch einem falschen Hinweis messbar seltener beirren. Der Hund dagegen ist offenbar lieber treu als schlau – und noch stärker auf sein menschliches Gegenüber bezogen als ein Kind.
Hunde verlassen sich auf Herrchen oder Frauchen
Dafür spricht auch ein Verhalten, das man in der Psychologie als „soziales Referenzieren“ bezeichnet: Wenn Kinder ab etwa acht bis neun Monaten mit einem unbekannten Gegenstand konfrontiert werden, schauen sie intuitiv ins Gesicht eines Erwachsenen, um zu sehen, ob dieser Gegenstand harmlos ist oder vielleicht gefährlich. Ein Team der Universität Mailand übertrug 2012 einen entsprechenden Test auf Haushunde. Die Tiere wurden dafür in einen Raum mit einem Ventilator gebracht, an dem grüne Plastikbänder flatterten. Fast alle Tiere reagierten auf dieses seltsame Ding mit einer milden Form von Stress – und die meisten verhielten sich tatsächlich wie kleine Kinder: Sie schauten wiederholt ins Gesicht des anwesenden Menschen, um zu erfahren, wie sie sich dem Ventilator gegenüber verhalten sollten.
Dennoch registrierten die Forschenden auch hier einen Unterschied: Hunde verlassen sich beim sozialen Referenzieren extrem auf ihr Herrchen oder Frauchen. Kleinkinder dagegen orientieren sich auch bereitwillig an Fremden. Das Mailänder Team schloss daraus, dass es Kindern vor allem um mehr Informationen geht, Hunden vor allem um Bindung.
Zaubertricks für Hunde
Ein anderes Experiment dieser Art stammt von Ludwig Huber von der Universität Wien und Christoph Völter vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Die beiden gehören zu den wichtigsten Fachleuten in diesem Feld im deutschsprachigen Raum. Sie wollten wissen, wie Hunde auf Zaubertricks reagieren, etwa auf Bälle, die wie von Geisterhand verschwinden und wieder auftauchen. Kinder zeigen als Reaktion meistens ein erhöhtes Interesse an einem solchen Objekt. Und was tun Hunde? Im Versuch von Huber und Völter reagierten die Vierbeiner mit ähnlicher Neugier auf so eine „Erwartungsverletzung“. Den vermeintlich magischen Ball gaben sie nur sehr ungern wieder her, wenn sie ihn einmal im Maul hatten.
Ein wenig gemein klingt der folgende Versuch: Man nimmt ein Leckerli und legt es gut sichtbar hinter einen Maschendrahtzaun. Der Hund kann das Objekt der Begierde sehen, es aber nicht erreichen – außer er macht sich die Mühe, um den Zaun herumzulaufen. Das klingt einfach, fordert aber etwas Widersinniges: Der Hund muss sich von einem Gegenstand entfernen, der ihn anzieht wie ein Magnet. Dazu bedarf es einiger Selbstkontrolle. Kleinkinder sind ab etwa zwölf Monaten ziemlich gut in vergleichbaren Übungen.
Ein bisschen wie religiöse Fanatiker
Hunde schlagen sich zum Teil achtbar. Aber einige kapieren die Sache erst, wenn ein Mensch sie ihnen vormacht. Man spricht dann von sozialem Lernen. Interessant: Sobald die Hunde den Umweg zum Futter einmal gemacht haben, verlassen sie sich immer wieder auf diesen Trick – selbst wenn man inzwischen ein Loch in den Zaun geschnitten und ihnen eine Abkürzung angeboten hat. Diese Tendenz ist laut einer Studie aus Schweden „besonders ausgeprägt, wenn die Hunde den Umweg von einem Menschen gelernt haben“. Man könnte auch sagen: Hunde verhalten sich ein bisschen wie politische oder religiöse Fanatiker. Was sie von ihrem Boss gelernt haben, stellen sie nur höchst ungern infrage.
All diese Versuche zeigen also ein ähnliches Muster: Der Verstand von Hunden kann mit dem kleiner Kinder durchaus mithalten. Manchmal sind sie dabei noch stärker an uns Menschen gebunden als unser eigener Nachwuchs, der Jahr für Jahr immer selbständiger wird. Kinder gehen, Hunde bleiben. Doch woher kommt diese rätselhafte Nähe?
Die freundlichsten Wölfe
Die beste Antwort liefert die Evolutionstheorie von Charles Darwin. Vor mehreren zehntausend Jahren haben sich die freundlichsten Wölfe uns Menschen angeschlossen. Über viele Hundegenerationen wurde der Mensch für diese Tiere zum wichtigsten Umweltfaktor. Je größer die Bindung, desto höher die Chance aufs Überleben. Die Vermenschlichung des Hundes scheint daher nichts anderes zu sein als das Ergebnis einer natürlichen Selektion – ein Fall von survival of the fittest also?
Hundeforscher Brian Hare und seine Ehefrau Vanessa Woods widersprechen: Bei Hunden und Menschen sei eine andere Zauberformel der Evolution am Werk. Sie sprechen in ihrem gleichnamigen Buch vom survival of the friendliest, dem Überleben der Freundlichsten. Denn die starke Bindung zwischen Mensch und Hund ist bekanntlich nicht einseitig. Viele Fachleute zeigen gerne, wie sehr sie das Objekt ihrer Forschung lieben. So erscheint Sam Gosling, einer der bekanntesten Vertreter der Hunde-Persönlichkeitsforschung, zu seinen Vorträgen oft in einem Anzug aus Hundehaar. Den Stoff dafür hat der Riesenpudel seiner Urgroßmutter bei seinen regelmäßigen Friseurterminen gespendet.
Katzen für psychologische Experimente „weniger ideal“
Eine der wichtigsten deutschen Hundeforscherinnen ist die Biologin Juliane Bräuer vom Max-Planck-Institut für Geoanthropologie in Jena. Zu den vielen Experimenten, die sie mit Hunden gemacht hat, gehört der sogenannte „Gameboy-Test“. Man zeigt dem Hund dabei ein Leckerli, der Hund will es natürlich fressen, doch sein Bezugsmensch sagt: „Aus!“ In manchen Durchgängen schaut der Mensch weiter den Hund an, in anderen verlässt er den Raum, schließt die Augen oder spielt mit einem Gameboy. Wie reagieren die Hunde?
Bräuers Studie zeigt: Nicht alle, aber die meisten fressen das Leckerli, sobald ihr Menschen den Raum verlässt, die Augen schließt oder abgelenkt ist. Hunde können offenbar an unseren Augen ablesen, wie aufmerksam wir sind. Diese Fähigkeit scheint dagegen jungen Schimpansen abzugehen. Auch in diesem Spiel ist der Hund offenbar dem Menschen ähnlicher als unsere nächsten Artverwandten.
Wer von Hunden schreibt, darf über Katzen nicht schweigen. Wie schlagen sie sich in derlei Versuchen? Forschende aus Ungarn haben das am Beispiel von Brian Hares Zeigetests überprüft. Sie entdeckten, dass vor allem ältere Katzen ziemlich gut wissen, was der Fingerzeig eines Menschen bedeutet. Einziges Problem: Im Labor neigen Katzen dazu, die Zusammenarbeit zu verweigern. Schon nach wenigen Durchläufen hören sie auf mitzuspielen. Katzen mögen kluge Tiere und wundervolle Begleiter sein – als Teilnehmer in einem psychologischen Experiment sind sie im Vergleich zu Hunden aber „weniger ideal“, so das Fazit der Forschenden.
Herzliche Reaktion beim Wiedersehen
Hunde dagegen sind so etwas wie der Wille zur Kooperation auf vier Pfoten. Das zeigt sich auch in Studien, in denen es um das Bindungsverhalten geht. Das bekannteste Menschenexperiment dazu funktioniert so: Mutter und Kleinkind gehen in einen Raum voller Spielsachen. Nach einer Weile verabschiedet sich die Mutter und lässt das Kind zurück, um nach einigen Minuten wieder zurückzukehren. Die meisten Kinder reagieren auf diesen „Fremde-Situation-Test“ dadurch, dass sie bei der Rückkehr Körperkontakt zur Mutter aufnehmen, womöglich weinen, sich aber dann schnell beruhigen und damit fortfahren, die im Raum liegenden Spielsachen zu erkunden. Man sagt dann, das Kind sei „sicher gebunden“ (siehe dazu Seite 10 dieser Ausgabe). Dasselbe Experiment funktioniert verblüffend gut mit Hunden. Sie verhalten sich ganz ähnlich wie Kleinkinder.
Besonders bewegend ist eine Studie aus einem Tierheim in Ungarn. Manche der Hunde hatten zuvor dreimal Besuch von einem fremden Menschen bekommen – für nur je zehn Minuten. Schon diese kurze Zeit genügte den Hunden, um eine Bindung zu diesem Menschen aufzubauen. Sie reagierten später im „Fremde-Situation-Test“ fast genauso herzlich auf ihre neuen Bekannten, wie sicher gebundene Hunde das bei ihrer Besitzerin oder ihrem Besitzer tun. Hunde, so schreiben die Forschenden, haben „ein bemerkenswertes Bedürfnis nach sozialem Kontakt mit Menschen“. Auch hier ähneln sie kleinen Kindern, die sich nach nichts so sehr sehnen wie nach Liebe und Sicherheit.
Beim Menschen entsteht die enge Bindung zwischen Kleinkind und Mutter unter anderem durch intensiven Blickkontakt. In unserer gemeinsamen Co-Evolution scheinen Hunde auch diesen Babytrick von uns gekapert zu haben, wie etwa eine Studie aus Japan aus dem Jahr 2015 entdeckt hat: Vermehrter Augenkontakt zwischen Hund und Bezugsmensch lässt bei beiden die Werte des Kuschelhormons Oxytocin ansteigen. Als die Forschenden den Hunden zusätzliches Oxytocin in die Nase sprühten, begannen die Tiere, ihrem Menschen noch länger in die Augen zu schauen. Der Trick funktionierte auch, wenn man den Menschen Oxytocin verabreichte. Hunde umarmen uns gleichsam mit ihren Augen – und wir geben diese Umarmung zurück.
Der Hund ist auch nur ein Mensch? Dieser Satz klingt zunächst wie ein Witz. Wenn man der neueren Forschung glaubt, steckt in ihm aber mehr Wahrheit, als man glaubt.
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Quellen
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