Es ist schon ein paar Jahre her, da stand die Schauspielerin und Moderatorin Nova Meierhenrich auf einer Klippe über dem norwegischen Geirangerfjord und übte das Loslassen. Es war nur ein unscheinbares Stück Papier, das sie in den Abgrund fallen ließ, beschrieben mit persönlichen Gedanken. Aber mit dem zusammengeknüllten Zettel segelte ihr größter unerfüllter Wunsch davon. Die Enttäuschung ihres Lebens.
Ein Koffer mit Erinnerungen an den geplatzten Traum
Eine Woche zuvor hatte sie ungläubig auf einen…
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Lebens.
Ein Koffer mit Erinnerungen an den geplatzten Traum
Eine Woche zuvor hatte sie ungläubig auf einen negativen Schwangerschaftstest gestarrt. Den letzten in einer Reihe vergeblicher Versuche, durch künstliche Befruchtung Mutter zu werden, solo und ohne Partner. Danach brach sie zu einer Kreuzfahrt Richtung Nordkap auf, im Gepäck einen Koffer mit Erinnerungen an den geplatzten Traum: Ultraschallbilder von Eizellen, Zettel mit Namen für das ersehnte Kind und in Worte gefasste Hoffnungen.
„Ich wusste, es wird eine Abschiedsreise“, erinnert sich Nova Meierhenrich, „ein finaler Weg, den ich gehen musste, um einen anderen zu finden.“ Den emotionalen Schleudergang hinter sich zu lassen, die quälende Suche nach einer Erklärung. „Die Ärzte waren so optimistisch“, erzählt sie, „meine Hormonwerte bestens, meine Eizellen auch. Aber mein Körper machte einfach nicht mit.“ Der Kontrollverlust hinterließ sie fassungslos – zunächst. Aber nicht lang. „Ich habe nie etwas als selbstverständlich genommen. Sondern gelernt: Scheitern passiert, Aufgeben und Liegenbleiben ist keine Option.“ Auch für die Rückreise vom Nordkap hatte sie ihren Koffer bestückt. Mit Wunschzetteln für die Zukunft, anders als geplant, aber nicht minder wertvoll.
Enttäuschungen in allen Größen und Formen
Enttäuschungen begleiten uns von früh an, und sie kommen in allen Größen und Formen daher. Von der alltäglichen Irritation – das aufwendig gekochte Essen schmeckt bestenfalls mittelmäßig, ein Platzregen beendet die Gartenparty, eine Verabredung wird abgesagt – bis zu Dämpfern, die unsere gesamte Lebensplanung infrage stellen. Ein unerfüllter Kinderwunsch, eine gescheiterte Liebe, ein passendes Jobangebot, das uns von einem anderen Bewerbenden weggeschnappt wird.
Das psychologische Fachlexikon Dorsch definiert Enttäuschung als gefühlsmäßige Resonanz auf sich als unerfüllbar erweisende Hoffnungen. Die Psychoanalytikerin und Philosophin Brigitte Boothe beschreibt sie als ein Auseinanderklaffen von Wunsch und Wirklichkeit: „Enttäuschung entsteht innerhalb einer Beziehung, zwischen zwei Menschen, zwischen dem einzelnen und der Welt, aber auch im Verhältnis zu uns selbst. Wir empfinden sie, wenn die erhoffte Antwort ausbleibt.“ Das schale Gefühl, wenn die Umstände, der andere oder auch der Anspruch an uns selbst sich unserem Zugriff entziehen.
Es ist eine komplexe Emotion, die uns nicht in die Wiege gelegt ist. Denn um sie zu fühlen, braucht es Abstraktionsvermögen und eine Vorstellung von Selbstwirksamkeit: Ich habe eine Erwartung, ein Ziel, kann aktiv darauf hinarbeiten oder es zumindest realistisch erwarten – aber die Welt stellt sich quer. Der Entwicklungspsychologe Manfred Holodynski von der Universität Münster hat in den neunziger Jahren untersucht, wie sich bei Kindern aus frühen Basisemotionen wie Wohlbehagen, Unwohlsein, Erschrecken und Ekel so verfeinerte Konstrukte wie Scham, Stolz und Enttäuschung herausbilden. Und auch, wie diese Emotionen bewältigt werden.
Im Labor ließ er Gruppen von Vier- bis Sechsjährigen Süßigkeitenschachteln aus einem Automaten ziehen, die sich beim Öffnen jedoch als leer herausstellten. Dabei beobachtete er auch, wie Kinder mit zunehmendem Alter souveräner wurden. Während etwa die Hälfte der jüngeren Kinder den Versuchsleiter zu Hilfe holte, waren es bei den älteren unter zehn Prozent. Diese hatten bereits ihre eigenen Strategien zum Umgang damit entwickelt: etwa sich über den vermeintlichen Streich zu amüsieren oder sich einer anderen Aufgabe zuzuwenden.
Mit zunehmendem Alter üben sich also schon Kinder in der Weisheit, mit Enttäuschungen zu leben – jedenfalls mit kleineren. Was natürlich nicht heißt, dass Grundschulkinder im realen Leben auf Frustrationen stets reagieren wie kleine Buddhas, sondern auch mit Wut, Tränen, Fassungslosigkeit. Doch in der Tendenz wächst die innere Widerstandskraft mit zunehmendem Alter.
Enttäuschung in Labor holen
Lucas Keller ist Motivationspsychologe und hat an der Universität Konstanz in einer Gruppe älterer Schüler die Frage untersucht, ob diese von ihren eigenen Leistungen enttäuschter waren, je mehr Energie sie in das Ergebnis investiert hatten, und was das mit ihrem Selbstbild machte. Dabei wurden die Hirnströme der Probandinnen gemessen, nachdem sie sich gedanklich in unterschiedliche Situationen versetzt hatten. Mal sollten sie sich vorstellen, dass es ihnen nicht gelungen war, eine Fremdsprache zu lernen. Mal sich zusätzlich ausmalen, dass sie sich dafür einen akribischen Plan gemacht hatten, der dennoch gescheitert war.
Wie zu erwarten, war das Erleben der zweiten Gruppe heftiger – allerdings, räumt Keller ein, kann dabei auch der Erwartungseffekt der Forschenden eine Rolle gespielt haben. „Es ist schwer, echte Enttäuschung ins Labor zu holen“, sagt der Wissenschaftler, „denn wie sollte beispielsweise eine Versuchsanordnung aussehen mit Personen, die gerade von ihrem Partner betrogen oder angelogen wurden? Das ist schon aus ethischen Gründen fragwürdig.“ Außerdem sei es schwierig, Messwerte für Enttäuschung von anderen Gefühlen abzugrenzen, etwa Scham, Trauer, Angst und Wut.
Enttäuschung über sich selbst wiegt schwer
Aber dass sie Folgen hat, vor allem wenn sie unzureichend bewältigt wird, ist erwiesen. Eine umfangreiche Studie zu den klinischen Auswirkungen von Enttäuschung bei Erwachsenen stammt aus dem Jahr 1997. Die Universität Freiburg ließ eine qualitative Befragung von 220 ambulanten Patientinnen und Patienten der psychosomatischen Klinik durchführen. Das Ergebnis: Für 80 Prozent war Enttäuschung ein wichtiges Lebensthema, wobei die Enttäuschung über sich selbst sogar noch schwerer wog als die Enttäuschung über andere Menschen oder Lebensumstände. Dabei ermittelten die Forschenden auch, was das Gefühl zum Risikofaktor machen kann: häufige und intensive Enttäuschungserfahrungen in der Kindheit, starke innere Abwehr dieser Gefühle, oft gepaart mit fruchtlosen Bemühungen oder dem Beharren auf Wiedergutmachung. Als Folge machten die Kliniker sowohl Depressionen als auch Schmerzstörungen aus.
Aber woran liegt es, dass ein und dieselbe Situation – sei es das Scheitern einer sich anbahnenden Liebesbeziehung, sei es negatives Feedback auf ein Jobprojekt oder auch nur eine misslungene Handwerksarbeit – von Menschen so unterschiedlich wahrgenommen und verarbeitet wird? Wie kann es sein, dass sie manche Menschen in mehr oder minder tiefe Krisen stürzt, während andere schnell zur Tagesordnung übergehen?
Dort kränkbar, wo wir stark sind
Da ist zum einen die Fallhöhe, die sich von Situation zu Situation unterscheidet: Entpuppt sich der im Internet gepriesene Italiener als drittklassig, macht es uns mehr aus, wenn wir ihn für unseren Hochzeitstag ausgewählt haben, als bei einem Geschäftsessen unter Kolleginnen. Zum anderen hat das Ausmaß von Enttäuschung mit unseren Werten zu tun, der Bedeutung, die wir der Situation zuschreiben. Das sagt der Psychiater und Psychotherapeut Michael Linden, Leiter der Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation an der Berliner Charité und Autor einschlägiger Bücher zum Thema Enttäuschung und Verbitterung: „Wir sind dort am kränkbarsten, wo wir stark sind.“
Der Rüffel einer Vorgesetzten trifft uns härter, wenn wir unseren Selbstwert vor allem an unserer beruflichen Leistung festmachen, als wenn wir den Job eher unemotional als Broterwerb betrachten. Wenn der Haarschnitt bei uns nicht so sitzt wie auf dem Musterfoto, ist das ein größeres Drama, wenn wir uns sehr über unser Aussehen definieren, als wenn uns vor allem wichtig ist, eine gute Mutter oder ein guter Vater zu sein.
Jennifer Crocker, emeritierte Professorin für Sozialpsychologie an der Ohio State University, hat den Begriff „Selbstwertkontingenzen“ geprägt für Themen, an denen wir unsere Identität festmachen: etwa Kompetenz in einem bestimmten Fachgebiet, körperliche Attraktivität, moralische Standards.
Aus der Warte der Tiefenpsychologie spielen vor allem individuelle Prägungen eine große Rolle bei der Frage, wie sehr uns Enttäuschungen treffen. Oder ob wir eher resilient durchs Leben gehen. Die Wurzel dafür liegt nach dieser Lesart vor allem in der frühen Kindheit. Vom ersten Tag an streben wir nach Wohlbefinden und wollen Unlust vermeiden. Fachlich ausgedrückt: Wir geraten in einen Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt. „Als kleine Kinder sind wir abhängig von der Feinfühligkeit unserer Bezugspersonen“, sagt die Psychoanalytikerin Brigitte Boothe. „Wenn unsere Bedürfnisse im Großen und Ganzen verlässlich befriedigt werden, lernen wir, positive Erwartungen auszubilden.“ Ein Keim, aus dem Fantasie entsteht – nichts anderes als „die bildhafte Vergegenwärtigung wunscherfüllender Episoden“.
Schutzimpfung gegen spätere Verbitterung
Frühe Ressourcen wirken also wie eine Schutzimpfung gegen spätere Verbitterung: Auch wenn es mal nicht so läuft, ändert das nichts an unserer positiven Haltung zur Welt. Ohne Vorfreude keine Enttäuschung, aber auch: Ohne Enttäuschung keine Vorfreude.
Haben wir dagegen eher erfahren, dass wir in unseren Bedürfnissen nicht gesehen werden, neigen wir dazu, diese frühen Erlebnisse auf spätere Situationen zu projizieren. Etwa: Wir reagieren stark emotional auf einen Chef, den wir als abweisend erleben, weil wir in uns eine Ur-Enttäuschung über einen abwesenden oder gefühlskalten Vater tragen. So wie es in Cat Stevens’ vielfach gecoverten Popsong heißt: the first cut is the deepest – die erste Verletzung geht am tiefsten. Boothe empfiehlt, bei menschlichen Enttäuschungen nachzuspüren: Gilt das Gefühl wirklich dem Gegenüber, oder projiziere ich ein Kindheitsgefühl in ihn oder sie hinein, das mit der aktuellen Situation wenig zu tun hat? Empfinde nur ich den Chef als ungerecht und hart, obwohl er alle gleich behandelt?
Neurotizismus macht empfindlich
Im Gegensatz zur Tiefenpsychologie blickt die Persönlichkeitspsychologie weniger auf lebensgeschichtliche Prägungen als auf grundlegende Charaktereigenschaften. Auch die können zur Erklärung dienen, warum der Umgang mit Enttäuschung so individuell ist. Die Psychologieprofessorin Astrid Schütz forscht an der Universität Bamberg zu den Themen Selbstwert und Selbstakzeptanz, sie hält das Konstrukt der Big Five für ein mögliches Erklärungsschema. Emotionale Labilität, auch als Neurotizismus bezeichnet, ist dabei eine von fünf Dimensionen, anhand derer sich Persönlichkeit einordnen lässt. Ist diese Labilität besonders ausgeprägt, reagieren Menschen empfindlicher auf bestimmte Ereignisse, ihre Stimmung schwankt stärker, sie lassen sich eher aus der Ruhe bringen.
Auch Offenheit für neue Erfahrungen spielt eine Rolle, eine weitere Persönlichkeitsdimension. Sitze ich frustriert im Wohnmobil, wenn mir ein Unwetter die geplante Wanderung verhagelt – oder mache ich einen Ausflug ins Heimatmuseum und entdecke unerwartet Spannendes zur Ortsgeschichte? Die Dimension „Verträglichkeit“ kann zusätzlich ins Spiel kommen: Wie schnell kann ich einem Freund verzeihen, der mich menschlich enttäuscht hat?
So betrachtet haben Menschen auch eine bestimmte psychische Voreinstellung, die es ihnen leichter oder schwerer macht, mit Enttäuschung zurechtzukommen. Doch das muss nicht im Widerspruch zu den Erkenntnissen der Tiefenpsychologie stehen. Biologie, Umwelt und Prägung stehen zueinander in Beziehung, sagt Astrid Schütz: „Wir kommen mit einem gewissen Temperament zur Welt, auch mit einer gewissen Fähigkeit der Emotionsregulation, die teils genetisch geprägt ist. Aber die Erfahrungen, die wir machen, formen unsere Persönlichkeit weiter, genauso wie unsere Persönlichkeit uns dazu bringt, bestimmte Erfahrungen zu suchen und andere zu meiden.“
Ansporn oder Grund für Resignation
Das bedeutet wiederum: Wie wir Enttäuschungen verdauen, ob wir sie als Ansporn nutzen können oder resignieren, ist kein Schicksal. Es lässt sich bis zu einem bestimmten Grad lernen, sagt auch der Motivationspsychologe Lucas Keller. Er erklärt den Unterschied zwischen einem growth mindset und einem fixed mindset: Menschen mit einem fixed mindset glauben beispielsweise, dass sie für bestimmte Aufgaben einfach nicht gemacht sind. Etwa: „Mädchen sind von Natur aus untalentierter für Mathe.“ Eine Schülerin mit dieser Überzeugung ist vielleicht enttäuscht über eine schlechte Algebranote, aber sieht auch wenig Handlungsspielraum. Growth mindset bedeutet: Ich habe zwar realistische Annahmen über meine Leistungsfähigkeit, gehe aber davon aus, dass meine Grenzen verschiebbar sind.
Von dem Osnabrücker Psychologieprofessor Julius Kuhl stammt das Konzept von Handlungs- und Lageorientierung, das ebenfalls bei der Bewältigung von Enttäuschungen hilfreich ist: Während eher lageorientierte Menschen mit ihren Gedanken und Gefühlen stark um ein bestimmtes Ereignis kreisen und nur schwer davon loskommen können, richten handlungsorientierte Menschen ihren Blick schneller in die Zukunft, werden aktiv, erleben sich als selbstwirksam. Auch das ist nicht notwendigerweise Schicksal, sondern auch eine bewusste Entscheidung.
Botschaft, die uns weiterbringen kann
Psychoanalytikerin Brigitte Boothe sagt: In der Enttäuschung steckt eine Botschaft, die uns weiterbringen kann. „Die Erfahrung rückt unser Bild von der Welt gerade. Wir lernen: Sei künftig vorsichtiger, schalte nicht nur deine Wünsche ein, sondern denke auch kühl nach, wo du Aussicht auf Erfüllung hast.“ Ins andere Extrem zu verfallen, also nicht immer wieder zu viel von der Welt zu erwarten, sondern im Gegenteil lieber gar nichts mehr, um nicht enttäuscht zu werden, sei nämlich auch keine gesunde Strategie: „Wenn ich nichts mehr erhoffe, dann ist das genauso einseitig und damit unrealistisch, wie wenn ich als Traumtänzer durchs Leben gehe.“ Mit einem gesunden Maß zwischen Erwartung und Skepsis sei es auch möglich, ein Gegenüber – ob Partner, Kind oder Freundin – klarer zu sehen, ihm Ecken und Kanten zuzugestehen. Brigitte Boothe spricht von einer „freundlichen Desillusionierung“. So wie es schon sprachlich in dem Wort „Ent-Täuschung“ anklingt.
Die eigenen Grenzen anerkennen, ohne Herausforderungen ausweichen zu wollen – eine reife und psychisch gesunde Strategie. Allerdings neigen wir dazu, in bestimmte Fallen zu tappen, sagt Boothe. Variante eins: die anderen für unfähig oder dumm erklären, weil sie meinen Wert nicht erkennen. Variante zwei: Überbescheidenheit, sich extra klein machen. Astrid Schütz zitiert dazu die Attributionstheorie des Kognitionspsychologen Bernard Weiner (siehe Definitionskasten). Danach unterscheidet sich die Reaktion auf eine Enttäuschung dahingehend, ob ich die Gründe dafür bei mir selbst (internal) oder in meiner Umwelt (external) verorte, und danach, welche Faktoren variabel sind und welche stabil.
Attribuierung
Dieser Begriff steht für meist unbewusste Erklärungsmuster, mit denen wir Erfahrungen bestimmten Ursachen zuschreiben, etwa Erfolg und Misserfolg. „Externale Attribuierung“ bedeutet: Wir suchen den Grund in der Umwelt (bei einer Prüfung etwa: dem Lehrpersonal, der Prüfungssituation, dem Lernmaterial), bei der „internalen Attribuierung“ machen wir uns selbst für Gelingen oder Misslingen verantwortlich (etwa: unsere Intelligenz, Vorbereitung, Eloquenz)
Das lässt sich an einem Alltagsbeispiel erklären: Wenn eine Präsentation im Job nicht so angekommen ist wie gewünscht, kann ich einerseits die Gründe bei mir suchen. Im besten Fall ziehe ich konstruktive Schlussfolgerungen für die Zukunft. Etwa: Ich hätte mich besser vorbereiten, mir mehr Mühe mit der Gestaltung der Folien geben können, also fuchse ich mich vor dem nächsten Mal tiefer ins Grafikprogramm ein. Im schlechteren Fall bin ich übermäßig streng mit mir, geißle mich innerlich, mache mir große Selbstvorwürfe. Oder ich weise die Verantwortung von mir, ordne das Scheitern als „external/stabil“ ein: Die Kollegen hätten auch mal etwas tun können, die Chefin hat meine Großartigkeit nicht gesehen, so sind sie, da kann man wohl nichts machen.
Das hilft vielleicht kurzfristig beim inneren Druckausgleich. Es ist aber eine narzisstische Strategie, außerdem kontraproduktiv, weil sie einsam macht. Dabei hilft es, Enttäuschungen mit anderen zu teilen und zu merken: Ich bin mit meiner Erfahrung nicht allein. Nicht der erste und einzige Mensch, der mal eine wichtige Präsentation verbockt. Oder: Nicht der erste, der verlassen wird, der in der Probezeit den Job verliert, der seine Träume von einer künstlerischen Karriere irgendwann an den Nagel hängen muss. „Über das Erlebnis von Gemeinschaft können wir auch in negativen Emotionen etwas Schönes finden“, sagt Lucas Keller.
Anderen gönnen, was einem selbst fehlt
Dass eine nicht verarbeitete Enttäuschung in Zusammenhang stehen kann mit psychosomatischen Problemen und Depressionen, zeigt nicht nur die oben schon erwähnte Studie der Universitätsklinik Freiburg. Im Extremfall treibt sie Menschen in eine sogenannte posttraumatische Ver-bitterungsstörung, ausgelöst „durch ein einschneidendes und tief verletzendes Ereignis, das sich immer wieder aufdrängt, zu Panik und Hilflosigkeit führt, den psychischen Zustand und die eigene Funktionsfähigkeit nachhaltig beeinträchtigt“ – so beschreiben es der bereits zitierte Psychiater Michael Linden und seine Co-Autorin Sigrid Engelbrecht in ihrem Buch Lass Los! Es reicht – Wege aus der Verbitterung.
Verbitterung kann individuelle, aber auch politische Gründe haben, sagt Linden. Sie betreffe oft Angehörige bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. Nach dem Mauerfall empfanden viele Menschen in Ostdeutschland ein Gefühl von Entwertung der eigenen Lebensläufe. Ein Groll, der sogar auf die nächste Generation überspringen kann, selbst wenn sie diese Erfahrung gar nicht am eigenen Leib gemacht hat.


Durch die ständige Beschäftigung mit dem auslösenden Ereignis kann die ursprüngliche Verletzung aber nicht heilen – dieses permanente Kreisen um negative Erinnerungen wird auch als „Intrusion“ bezeichnet. Wie schrecklich der Auslöser objektiv ist, das ist gar nicht die Frage, sagt Linden: „Das Entscheidende ist nicht das Ereignis, sondern die damit verbundene Emotion. Wenn man sich diese zu sehr zu eigen macht, verliert man die Freiheit zu agieren.“ Und steigere sich in einen Strudel aus Selbsthass, Anklage und Resignation hinein. Als erfolgversprechend gegen eine solche Blockade gilt das Konzept der „Weisheitstherapie“, eine abgewandelte Form der Verhaltenstherapie. Dabei wird ein Perspektivwechsel geübt, gefördert werden Empathie, Selbstdistanzierung, Humor und das Aushalten von Unsicherheit – sogenannte Weisheitskompetenzen.
Was bewirkt Weisheitstherapie?
Im therapeutischen Kontext versteht man unter dem Begriff Weisheit die Fähigkeit zum Lösen vermeintlich unlösbarer Probleme und eine soziale Kompetenz. Also: Wie schaffe ich es, mit komplexen Situationen umzugehen, in denen es kein einfaches Falsch und Richtig gibt, und wie schaffe ich es, mich innerlich von Kränkungen und Verlusterfahrungen zu lösen?
In der so genannten Weisheitstherapie als Unterform der kognitiven Verhaltenstherapie üben Patientinnen und Patienten ein Denken, das sie in dieser Hinsicht stärkt. Etwa durch Perspektivwechsel (was könnte mein Gegenüber motiviert haben, so zu handeln?), durch den spielerischen Umgang mit inneren, weisen Anteilen (was würde meine lebenskluge Großmutter dazu sagen, was ein Rechtsanwalt?), durch eine längerfristige Betrachtungs-weise (was ergibt sich daraus für die fernere Zukunft?), durch die Reflexion eigener Werte und die Anerkennung, dass wir nicht alle dieselben Werte teilen. So lernen Menschen, den Blick auf sich selbst und ihre Mitmenschen zu weiten und die innere Haltung zum Geschehen zu verändern – der Fachbegriff dafür lautet reframing.
Weisheitstherapie findet häufig als Gruppentherapie statt, weil die Interaktion zwischen den Mitgliedern oftmals zu mehr und tieferer Erkenntnis führt und gleichzeitig hilft, sich selbst nicht übermäßig ernst zu nehmen. Therapieziel: mehr Leichtigkeit und Zukunftsorientierung.
Für manche Patientinnen ist das ein langer Lernprozess. Andere Menschen brauchen dafür keine Therapie, sie bringen diese Kompetenzen mit, die sie durch herbe Niederlagen tragen. Nova Meierhenrich mit ihrem selbsterdachten Ritual zur Trauerbewältigung auf der Reise zum Nordkap ist dafür ein gutes Beispiel. „Ich wusste genau, was ich will: Mich nicht im Kummer eingraben, dem Thema Kinder auch nicht ausweichen. Ich habe während meiner eigenen Kinderwunschbehandlung fünf Neffen und Nichten bekommen, ich hatte schwangere Freundinnen, eine eigene Kinderstiftung. Ich hatte den Anspruch an mich, anderen aus vollem Herzen zu gönnen, was mir verwehrt geblieben ist.“
Loslassen und neue Rollen finden
Dieser Wunsch hat sich erfüllt. Seit jener bewussten Abschiedsreise hat sich in ihrem Leben viel zum Guten gewendet. „Endlich konnte ich mich wieder auf das konzentrieren, was kommt. Raum schaffen, mich öffnen.“ Sie hat einen Schrebergarten gepachtet, sich neu verliebt, einen Hund angeschafft und einen Van. Nicht als traurigen Ersatz für den geplatzten Traum vom Muttersein, das ist ihr wichtig. Sondern als einen neuen, selbstgewählten Schwerpunkt im Leben. „Und ich habe mir andere Rollen gesucht, in denen ich Kinder um mich haben kann. Als coole Tante, als gute Schirmherrin.“ Am Ende hat sie ihre Enttäuschung auch noch konstruktiv verwandelt und das Buch Lebensschlenker geschrieben. Ein Endpunkt. Und ein Neubeginn.
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Was tun, wenn uns gerade der Partner enttäuscht? Dr. Ilka Hoffmann-Bisinger über Offenheit, Selbstreflexion und Rituale gegen Endlosschleifen in „Kostenloser Workshop zur Persönlichkeitsentwicklung“.
Wie gehen wir mit Enttäuschungen um? Lesen Sie Tipps, die helfen, Enttäuschung Schritt für Schritt hinter sich zu lassen in Enttäuscht? Anleitung zur Selbstfürsorge.
Quellen
Nova Meierhenrich: Lebensschlenker. Umwege zum Wunschkind und wie man auch in einer Sackgasse glücklich werden kann. Allegria 2025
Michael Linden, Ariane Mossakowski: Kurzmanual für Weisheitstherapie in Gruppen: t1p.de/PH_Weisheitstherapie
Manfred Holodynski: Emotionen – Entwicklung und Regulation. Springer 2006
Nina Heinsohn, Michael Moxter (Hg.): Enttäuschung. Interdisziplinäre Erkundungen zu einem ambivalenten Phänomen. Wilhelm Fink 2017
Michael Linden, Sigrid Engelbrecht: Lass los – es reicht! Wege aus der Verbitterung. EcoWin, 2018
Michael Linden: Verbitterung und Posttraumatische Verbitterungsstörung. Hogrefe2023
Gerd Rudolf: Enttäuschung ein affektives Muster und seine klinische Bedeutung. Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse, Vol. 43, No. 2 1997
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