Es beginnt mit einer Irritation. Timon Karl Kaleyta bittet mich freundlich in seine Berliner Altbauwohnung, gleichzeitig scheint er zu zögern und zu überlegen, wo in der großen Wohnküche das Gespräch stattfinden könnte. Wir mäandern zwischen Sessel, Stühlen, Tisch herum und bleiben schließlich am großen Kochblock in der Mitte des Raums stehen, nun schon in einem rasanten Gespräch über Kunst, Kindererziehung und die Schönheit von Madrid, wo der Autor gerade einen Monat verbracht hat, um an seinem neuen Roman…
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und die Schönheit von Madrid, wo der Autor gerade einen Monat verbracht hat, um an seinem neuen Roman zu arbeiten. Kaleyta schüttet französisches Gebäck aus einer Tüte in eine Schale, reicht Kaffeebecher, ohne das Gespräch auch nur eine Sekunde zu unterbrechen. Ich lege das Aufnahmegerät auf die Arbeitsplatte. Während des gesamten Interviews werden wir uns hier gegenüberstehen, jeder auf einer Seite des Küchentresens, in Bewegung, gestikulierend.
Schwer fassbare Figuren, die Ambivalenzen auslösen
Das Sprechen zwischen allen Dingen, die provisorischen Positionen, die heitere bis nervöse Dynamik, all das passt gut zu der Stimmung der Romane, die der Schriftsteller bisher veröffentlicht hat. Immer geht es in seinen Texten um Figuren, die schwer fassbar sind, die Ambivalenzen auslösen, zum Teil auch Entsetzen. Im aktuellen Roman Heilung geht es um eine luxuriöse Kurklinik, in der ein passiv-aggressiver Held sich eigentlich gar nicht helfen lassen will und gleichzeitig auf Ungereimtheiten und Gruseliges stößt. Der erste Roman Die Geschichte eines einfachen Mannes erzählt den Werdegang eines Musikers, der auf schwer erträgliche Weise um sich selbst kreist und nicht mitbekommt, wie sehr er anderen damit schadet. Dabei ist er gleichzeitig unsympathisch und absurd komisch. Genau über solche uneindeutigen Figuren wollen wir sprechen. Während der Autor noch einmal Kaffee nachschenkt, versuche ich, das Gespräch aufs Thema zu lenken.
Herr Kaleyta, Sie erzählen im ersten Roman von einem Musiker, seiner Karriere und wie sie scheitert. Ein bekannter Plot. Dennoch kriegt man die Person, die dort spricht, nicht zu fassen, sie verhält sich ebenso blauäugig wie rücksichtslos. Die Uneindeutigkeit zieht sich durch. Was interessiert Sie daran?
Sachen in der Schwebe zu halten, das ist meine Art zu denken und zu schreiben. Dazu kommt, dass ich selbst viele Jahre Musiker war. Über meinen Werdegang und auch darüber, wie ich an meiner Hybris gescheitert bin, habe ich einmal in der FAZ einen Text geschrieben. Daraufhin kam ein Verlag auf mich zu und wollte, dass ich daraus einen Roman mache. Mir war schnell klar, dass ich nicht die hundertste autofiktionale Erzählung schreiben will über einen freundlichen jungen Mann, der an der bösen Musikindustrie scheitert. Deshalb habe ich eine Art Antimärchen daraus gemacht, eine selbstherrliche Figur erfunden, die alles, was sie erlebt, nicht anders zu schildern vermag als in den allerhöchsten Tönen. Es ist eine Schelmengeschichte mit einer Sprache, die altertümlich daherkommt, die das Leben des Protagonisten maximal verklärt.
Der überhöhte Ton betrifft vor allem die Kindheit des Ich-Erzählers. Sie beschreiben etwa, wie die Familie am Abendbrottisch sitzt und über „den Weizenfeldern die Sonne untergeht“. Gleichzeitig wird erwähnt, dass wir uns in einer Reihenhaussiedlung im Ruhrgebiet befinden. Das macht es unwirklich. Wieso diese überzogen positive Schilderung?
Eine Menge Literatur erzählt davon, wie schlecht es Menschen in der Kindheit und Jugend ging, und das ist wahrscheinlich auch wichtig. Aber ich gehe beim Schreiben erst einmal von mir selbst aus. Und ich erinnere meine Kindheit wirklich als schön und frei von Problemen und fand es beim Schreiben angenehm, mich in diese Sicht fallenzulassen. Der Protagonist, von dem ich erzähle, das bin zwar nicht ich, aber ich erzähle an einigen Eckdaten meiner Geschichte entlang. Während des Schreibens habe ich dann festgestellt, dass es gerade in dieser Übertreibung für mich stimmt. Es steckt etwas sehr Wahrhaftiges darin.
Das müssen Sie erklären.
Die größten Betrügereien passieren meiner Ansicht nach nicht zwischen den Menschen. Viel häufiger belügt man sich selbst. Das kenne ich auch von mir. Die meisten Sachen, an die ich im Laufe meines Lebens geglaubt habe, habe ich mir selbst vorgelogen, bewusst oder unbewusst. Und in so einer Haltung erzähle ich auch meine Hauptfiguren, die mit aller Macht an etwas glauben wollen, von dem sie wissen müssten, dass es eigentlich nicht stimmt. Ich möchte herausfinden, was sie mit diesen Selbstlügen bezwecken, wovor sie sich zu schützen versuchen.


Sie folgen einer Erzählstimme, die sich selbst täuscht und sich etwas vormacht. Lassen Sie sich beim Schreiben manchmal reinziehen in den Betrug?
Ich möchte ganz nah an der Eigenlogik der Figuren sein, betrachte die Welt durch die Augen der Ich-Erzähler und versuche, darin Abgründe offenbar werden zu lassen. Trotzdem gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen mir selbst als Autor und der Erzählstimme: Die Figur, die uns die Geschichte erzählt, weiß nicht, dass das ideale Selbstbild und das eigene Handeln auseinanderdriften. Ich als Autor weiß das aber natürlich schon. Das heißt: Nein, ich hoffe, ich lasse mich nicht reinziehen in die Selbsttäuschung, über die ich schreibe. Es ist Teil der Schreibarbeit, nicht auf sich selbst hereinzufallen.
Ich habe eine Rezension gelesen, in der jemand hart mit der Hauptfigur im „einfachen Mann“ ins Gericht geht und fragt: „Warum folgt man diesem Kotzbrocken?“ Wissen Sie eine Antwort darauf, wieso man Ihrer derart unsympathischen Hauptfigur so gern folgt?
Es war jedenfalls nicht meine Absicht, von einem Kotzbrocken zu erzählen, der bei genauem Hinsehen doch total sympathisch ist oder sich wandelt und ein anderer wird. Ich schreibe ausschließlich für meinen eigenen Geschmack, und die Art, wie der erste Roman angelegt ist, finde ich einfach sehr lustig. Neulich habe ich noch mal reingeguckt und gedacht, dass das zwar alles auch etwas albern und infantil ist, aber ein einziger absurder Ritt, allein diese Blödheit des Erzählers. Wie er etwa die arme alleinerziehende Mutter in Madrid auf ihren Schulden sitzenlässt, sich heimlich aus der Beziehung schleicht und sich dann noch bei seinem Freund beklagt, dass es „die Hölle“ gewesen sei. Das ist so dreist. Aber ich kann das wirklich genießen, dass hier erzählt wird, wie egoistisch und rücksichtslos jemand sein kann und es dann auch noch vor sich rechtfertigt.
Die Szene ist hart. Der Protagonist verrät seine Freundin und macht sich aus dem Staub. Mich hat das noch lange beschäftigt.
Das geht vielen so. Ich bin auf diese Szene oft angesprochen worden, bin auf Lesungen sogar häufiger gefragt worden: „Herr Kaleyta, haben Sie diese Frau damals in Madrid wirklich auf den Schulden sitzenlassen?“ Das hat die Leute sehr bewegt, diese Feigheit. Sagenhaft schlimm. Noch empörter sind viele Leserinnen und Leser aber über eine Szene in Heilung, in der eine Bärenmutter mit einem Messer getötet wird. Ich lese diesen Abschnitt häufig auf Veranstaltungen, jedes Mal stehen einige Zuhörerinnen und Zuhörer empört auf und verlassen den Saal.
Haben Sie eine Ahnung, warum die Leute so heftig reagieren?
Dass die Art, wie ich schreibe, polarisiert, weiß ich mittlerweile. Es gibt viele anerkennende Rückmeldungen und mindestens genauso viele, die sich sehr beschweren. Es fehlt möglicherweise manchen an einem klaren moralischen Urteil im Text. Und diese Uneindeutigkeit verstört und ärgert. Aber ich wundere mich trotzdem darüber, dass so viele Menschen sich fragen, ob hinter einer niederträchtigen Figur vielleicht auch ein niederträchtiger Autor steckt. Oder ob ein Roman, in dem eine Figur Heilung sucht, aber Unheil anrichtet, eine Mogelpackung ist. Gerade darum geht es mir doch im Erzählen.
Ich möchte eine Fassungslosigkeit erzeugen, Momente und Situationen schildern, die so schlimm werden, dass man fast lachen muss. Im Prozess des Schreibens merke ich manchmal selbst, dass ich an einen richtig wunden Punkt komme, an dem alles extrem schmerzhaft wird – für die Leserinnen und Leser später, aber auch für mich selbst. In solchen Momenten bin ich ganz bei mir, es ist wirklich ein Genuss, das zu schreiben, diese Form der Qual, diese schmerzhafte Lächerlichkeit, die in jedem Menschen steckt. Der Irrtum über sich selbst ist immer brutal. Und ich möchte, dass diese Erkenntnis entsetzt.
Geht es Ihnen also vor allem darum, besonders starke Emotionen zu erzeugen? Sich vor sich selbst zu erschrecken?
Als Jugendlicher habe ich alles von Stephen King gelesen, bin ein großer Horrorfan. Es gibt von ihm eine Erzählung, in der jemand eine Katze in einen Backofen steckt und verbrennt. Ich bin das Bild damals wochenlang nicht losgeworden, es hat mich verfolgt, ich habe mich so darüber aufgeregt, dass ich Stephen King in meinem Kinderzimmer laut angeschrien habe. Aber schon damals habe ich gespürt: Es ist etwas Besonderes, wenn jemand solche Gefühle erzeugt, wenn jemand die schmerzhaften Punkte so stark anstößt. Da entsteht ein Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Die Szene geht einen selbst etwas an.
Im Roman Heilung haben Sie Ihre Affinität für Unheimliches genutzt. Es sind düstere Szenen in dem Kurresort San Vita. Ging es hier auch darum, Entsetzen zu erzeugen?
Ganz am Anfang hatte ich die fixe Idee, dass vorne auf dem Cover „Thriller“ steht. Aber das haben wir schnell wieder verworfen, und es würde dem Buch tatsächlich nicht gerecht werden. Mich hat aber diese Atmosphäre angezogen. Es gibt da Kellertreppen, über die man auf verlassene Schlafsäle und leere Betten stößt. Ich könnte nicht sagen, wofür das steht. Aber es ist etwas da, das dem Protagonisten und den Besucherinnen verschlossen bleibt. Wir selbst würden diese Treppe nicht hinuntersteigen, aber er tut es doch. Warum er das macht? Das menschliche Handeln ist oft unerklärlich. Warum entscheidet er sich so? Warum passiert das und nicht etwas anderes? Was für Zufälle waren bei Entscheidungen am Werk? Rückblickend ist es oft ein riesiges Mysterium, wie unser Leben verlaufen ist. Es hat mich gereizt, dieses Unerklärliche in Bilder zu bringen – ohne jedes einzelne davon aufzulösen.
In der Psychologie, vor allem aber natürlich in der Psychoanalyse würde man hier wohl auch unbewusste Motive vermuten. Wollten Sie zeigen, dass bewusste und unbewusste Anteile oft gegeneinander streben?
Ich sehe mich eher in der Rolle eines Autors, der ein Rätsel hinstellt, zu dem die Menschen sich verhalten können. Je mehr Leute sich diesem Rätsel aussetzen, desto schöner; ich stelle es mir selbst und weiß nicht, was richtig oder falsch ist. Aber: Ich versuche immer, den niederen, geheim gehaltenen Motiven nachzugehen. Was steckt dahinter, wenn man jemandem hilft, wenn jemand sich freundlich zeigt, sich auf den Rat der eigenen Ehefrau in eine Wellnessklinik begibt? Wenn man ehrlich zu sich ist, spielen oft auch hier egoistische Motive eine Rolle.
In meinem Studium haben wir viel über die Theorie der Gabe des Soziologen Marcel Mauss diskutiert. Auch er hebt hervor, dass es nur wenige, vielleicht gar keine selbst-losen Taten gibt, am Ende hat man oft den eigenen Vorteil im Sinn. Auch wenn ich ehrlich in mich reinhorche, hat vieles mit Eigennutz und Geltungssucht zu tun. Und das will ich darstellen. Vielleicht erkennen sich Menschen wieder, entdecken in den Protagonisten eigene Charakterzüge. Aber vielleicht setze ich mich auch in die Nesseln, und das, was ich schreibe, spiegelt primär meinen eigenen Egoismus. Ein Freund sagte mir neulich, es sei ja löblich, dass ich in meinen Texten immer so schonungslos mit mir selbst umgehe, das mache mein Verhalten im Alltag aber noch lange nicht ungeschehen. Da mussten wir beide sehr lachen.
Ich finde, es funktioniert. Beim Lesen habe ich mich oft ertappt gefühlt und mich gefragt, ob ich schon mal so egoistisch gehandelt habe wie die Protagonisten. Die Antwort lautet: ja. Man erkennt in den Figuren eigene Schwächen.
Und genau das ist mir wichtig, dass es Antihelden sind, dass eine Hauptfigur sich so verhält, wie man es selbst auch manchmal tut. Ist man tatsächlich so heldenhaft, wie viele Figuren in Romanen oder Filmen es sind? Ich selbst erlebe mich nicht so. Ich lasse mich von anderen Menschen beeinflussen, bin schwach, ich sage nichts, wenn es nötig wäre, lasse Dinge geschehen, auch wenn sie mir nicht passen. Erst am Wochenende war ich wieder in einer Situation, in der ich dachte: Jetzt hättest du etwas klarstellen müssen. Habe ich aber nicht getan. Danach fühlte ich mich feige.
Besonders der Protagonist in Heilung greift Techniken aus Coaching oder Psychotherapie auf und verdreht sie total. Die Idee, nach einer eigenen Identität zu suchen, treibt ihn zum Beispiel dazu, einem anderen Menschen so stark nachzueifern, dass es ungut wird. Ist das auch eine Kritik an der Optimierungsgesellschaft?
Mir ist das viele Psychologisieren zumindest suspekt. Es ist kein Zufall, dass sich der Protagonist beim Eintreffen in der Kurklinik so stark dagegen wehrt, sich therapeutisch helfen zu lassen. Ich erzähle ja von Figuren, die sich gerade nicht mit sich und ihren wunden Punkten beschäftigen wollen. Im ersten Roman hat der Protagonist gar nicht das Handwerkszeug dazu, sich selbst zu hinterfragen. Und der Erzähler in Heilung wehrt sich explizit dagegen, seinen innerlichen Vorgängen auf den Grund zu gehen, er will sich nicht erforschen, vielleicht weil er ahnt, dass da etwas Dunkles lauert. Die Ärzte und Therapeutinnen in dem Buch haben gute Argumente, und doch wäre es vielleicht besser gewesen, er hätte sich gar nicht erst darauf eingelassen. Die Ereignisse entwickeln sich ja nicht zum Besten. Es muss nicht immer richtig sein, sich noch besser zu kennen.
In vielen Romanen, Filmen und Serien geht es allerdings darum, dass Protagonisten sich entwickeln, etwas an sich entdecken, was sie verändern wollen, über sich hinauswachsen. Man wünscht sich selbst und auch den Figuren solche Momente, aber sie finden nicht statt. Warum?
Ich glaube, es passiert eher selten, dass Menschen sich zum Besseren wandeln. Viel wahrscheinlicher ist doch, jemand verliert den Verstand. Und ich schaue Menschen sehr gern dabei zu, wie sie sich in irgendeinen Wahn, in irgendeine Überzeugung reinsteigern, aus der sie nicht mehr herauskommen, obwohl die ganze Welt ihnen zuruft: „Schau doch mal! Was ist da los?“ Die sehenden Auges in ihr Verderben rennen. Dieses selbstverschuldete Unglück finde ich toll! Denn oft sind es nicht die anderen. Es gibt einen Dokumentarfilm aus den 1980er Jahren über Thomas Bernhard, er lebt in der Zeit in Madrid und wird interviewt. Schlecht gelaunt wie immer sagt er dort: „Am Ende ist man selbst die Ursache allen Übels.“ Das ist natürlich Quatsch, trotzdem stimme ich dem zu. Und ich schließe mich selbst da auch mit ein.
Sie verbringen als Autor viel Zeit damit, unreflektierte Seiten Ihrer Protagonisten herauszuarbeiten, bearbeiten damit zum Teil auch Stationen der eigenen Biografie. Sind Sie selbst beim Schreiben reifer geworden, konnten Sie etwas lernen?
Dadurch, dass ich über die Zeit als Musiker geschrieben habe, fühlt sich dieses Kapitel meines Lebens mittlerweile abgeschlossen an. Aber ich würde nicht sagen, dass ich beim Schreiben etwas lerne. Sobald ich glaube, etwas verstanden zu haben, stehe ich schon mit einem Bein im Abseits. Ich war schon von so vielen Dingen absolut überzeugt, die sich am Ende als absolut falsch herausgestellt haben. Und ich ändere auch meine Meinung häufig.
Im Augenblick bin ich zum Beispiel hitziger Gegner dieser ganzen Aufrüstungsbegeisterung, mir kommt das vollkommen wahnsinnig vor, wie die Leute plötzlich wieder reden. Aber ich würde so etwas nicht zum Romanthema machen. Ich würde nicht versuchen, meiner Position darin zum Recht zu verhelfen. Ich vertraue mir selbst viel zu wenig und würde wohl eher versuchen, jemanden zu zeigen, der sich in die genau entgegengesetzte Richtung bewegt, und dann seinen Rechtfertigungen folgen. Eigentlich, denke ich gerade, dürfte man so jemanden wie mich gar nicht wählen lassen. Ich bin viel zu wankelmütig, viel zu affektgetrieben, ein Fähnchen im Wind. Immer gewesen.
Und heute?
Ist das in Teilen immer noch so. Ich muss nur ein Gespräch führen, einen guten Artikel lesen, und alle Überzeugungen von gestern sind passé. Das immerhin habe ich an mir erkannt, deshalb lasse ich beim Schreiben meine Meinung so gut es geht außen vor. Es darf nur der verführbare Mensch vorkommen, der ich selbst auch bin. In Heilung kommt der Protagonist, der eigentlich keinen inneren Kern hat, an den Punkt, jemand anders werden zu wollen. Und auch wenn das überzogen dargestellt wird: Ich habe in meiner Jugend und im jungen Erwachsenenalter auch nach einem Kern meiner Persönlichkeit gesucht oder nach einer Berufung. Und ich habe nichts gefunden. Ich hatte Freundinnen und Freunde, die wollten unbedingt Ärzte, Anwältinnen oder Architekten werden. Bei mir gab es so etwas nicht.
Man könnte jetzt dagegenhalten und sagen: Es gibt psychologisch gesehen eine Menge Hinweise darauf, dass es so etwas wie eine klare Berufung für viele Menschen gar nicht gibt. Es zieht sich durch: Wenn man Jugendliche und junge Erwachsene heute richtig aus der Ruhe bringen will, dann fragt man sie: „Was willst du denn mal werden?“ Viele wissen es nicht. Eindeutig und klar ist da nichts.
Wenn man so darüber nachdenkt, ist das aber auch eine ziemlich bescheuerte Frage. Und solche bedenkentragenden Stimmen, die scheinbar wissen, wo es langgeht, tauchen auch in meinen Romanen immer mal auf. Professor Trinkl in Heilung gibt sehr selbstbewusst Tipps, wie der Protagonist seine Schlafprobleme lösen kann. Und in der Geschichte eines einfachen Mannes tauchen Lehrer und Unidozentinnen auf, die den Ratschlag geben, die Ellenbogen einzusetzen. Einer sagt dem Protagonisten und den anderen Studierenden immer wieder, dass sie keine Chance haben, je eine Arbeit oder einen Platz im Leben zu finden.
Das sind Positionen, die einen, wenn man auf der Suche ist, komplett verunsichern. Im Rückblick würde ich sagen: Lasst euch keine Angst einreden. Lasst euch nicht einschüchtern. Nichts ist so schlimm, wie es scheint, und alles letztlich egal. Ich selbst hatte während Schule und Studium tatsächlich oft große Angst, litt unter schweren Schlafstörungen, weil alle Welt mir einredete, dass alles sehr schlimm werden würde. Aber das hat überhaupt nicht gestimmt. Vielleicht stimmt es ja auch diesmal nicht.
Sie sprechen freimütig über eigene Ängste und Schwierigkeiten. Wie passt das zusammen mit Ihrer Behauptung, dass Sie die Kindheit und Jugend als harmonisch erlebt haben?
Die Frage kommt immer mal auf. Erst neulich, als ich in Madrid mit den freundlichen Menschen vom Goethe-Institut sprach. Meine erste Behauptung, wenn ich Leute kennenlerne, ist tatsächlich immer: „Ich hatte eine so glückliche Kindheit“, und: „Ich hatte noch nie ein Problem, mir ist alles zugeflogen.“ Eben weil ich es so empfinde. Und dann redet man und redet, und dann sagt das Gegenüber: „Moment, du erzählst mir jetzt seit drei Stunden, was für schlimme Sachen du erlebt hast, und gleichzeitig bleibst du dabei, dass du ein Glückspilz bist.“ Und ich weiß, das ist seltsam, aber für mich ist es so. Es stimmt beides.
Psychologie und Literatur
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Leseprobe von Timon Karl Kaleyta
Den ganzen Vormittag über begleitete mich ein beklemmendes Gefühl. Bei meinem Weg durch die Tunnel hielt ich ständig Ausschau nach dem Professor, unter keinen Umständen wollte ich ihm unter die Augen treten. Ich pirschte mich an die Ecken heran und blickte in die vor mir liegenden Gänge, ehe ich sie betrat. Erst als ich nach dem Mittagessen zu einer Heilmassage aufbrach, tauchte er plötzlich einige Meter vor mir mit zwei seiner Assistenten auf. Ich sah den weißen Kittel wehen, hörte seine kräftige Stimme und machte auf der Stelle kehrt, ganz so, als hätte ich mich im Weg geirrt. Bei der Massage fand ich kaum Ruhe, zu sehr war ich, während kräftige Hände sich tief in meine Rückenmuskulatur gruben, mit der Frage beschäftigt, ob Trinkl meinen Fluchtversuch bemerkt hatte. „Sie sind sehr verkrampft“, sagte der Masseur. „Entspannen Sie sich…“ Es war mir unmöglich.
Aus dem Roman Heilung, erschienen bei Piper 2024
Timon Karl Kaleyta, Jahrgang 1980, studierte in Bochum, Madrid und Düsseldorf Medienwissenschaft, Germanistik und Soziologie. In dieser Zeit und in den Jahren danach veröffentlichte er mit seiner Band Susanne Blech vier Studioalben. Mit dem Bücherschreiben begann er vor zehn Jahren mit dem Sachbuch Die 100 wichtigsten Dinge. Es folgten der Debütroman Die Geschichte eines einfachen Mannes, der mit dem Fuldaer Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Sein zweiter Roman Heilung stand 2024 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Kaleyta lebt in Berlin, zusammen mit seiner Frau, einer Kunsthändlerin.