Meine verborgenen Seiten und ich

„Shadow Work“ von C. G. Jung wird alltagstauglich. Es soll uns kreativer, authentischer und stärker werden lassen. Wie funktioniert Schattenarbeit?

Die Illustration zeigt eine nackte Frau mit einem Handy, die ein Selfie von sich macht
Von ihren dunklen Seiten will sie nichts wissen. Die nackte Wahrheit: Wir alle haben einen Schatten. © Thit Thyrring für Psychologie Heute

Eine Geschichte aus dem Kreis meiner Bekannten: Ole spielt seine Gitarrensoli virtuos und sauber. Mitglieder anderer Bands kommen zu seinen Konzerten, um sich Tricks bei ihm abzugucken. Er bringt immer für alle Bier zur Probe mit und erzählt gute Witze. Dann aber ereignet sich dieser Zwischenfall: Direkt vor einem Auftritt kürzt der Veranstalter die Spielzeit von Oles Band. Oles Gesicht wird rot. Seine Stimme verändert sich. Er tobt, er schreit und droht. Dann fängt er an, mit Gegenständen zu werfen. Am…

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Stimme verändert sich. Er tobt, er schreit und droht. Dann fängt er an, mit Gegenständen zu werfen. Am nächsten Tag steht sein Ausraster sogar in der Zeitung. Ole ist nicht der nette Typ, für den ihn alle gehalten hatten.

Manchmal fallen unsere Mitmenschen aus der Rolle. Sie zeigen dann ein anderes Gesicht, als wir es sonst bei ihnen sehen. Harte Kerle fangen an zu weinen. Sanfte Wesen werden böse. Tugendhafte Zeitgenossen tun etwas Unmoralisches. Sie alle wissen hinterher nicht mehr so recht, was sie da eigentlich geritten hat. „Ich war nicht ich selbst“, sagen sie dann.

Ohne Schatten sind wir halbe Menschen

Niemand hat sich mit diesem Phänomen prominenter befasst als der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung. Er ging davon aus, dass in jedem Menschen eine dunkle Seite wohnt. Er nannte all das Verdrängte, Verleugnete und Ungeliebte in uns den „Schatten“.

Jung hielt es für unsere Aufgabe, diesen Schatten anzuerkennen und zu „integrieren“. Bedeutsam werde das vor allem in der zweiten Lebenshälfte, wenn traditionell die wichtigsten Karriereschritte gemacht und etwaige Kinder aus dem Gröbsten raus sind. Den Kämpfen im Außen folgt die Reifung im Innen. Nur so, glaubte Jung, könnten wir zu einem vollen und wahrhaft authentischen Menschen reifen und mehr Tiefe im Leben erfahren. Wer sich vor dem Blick auf den eigenen Schatten drückt, bleibt in den Augen Jungs ein flacher und im Grunde halber Mensch. Schattenarbeit war für ihn eine Art Menschenpflicht.

Seine erste Gedanken zu diesem Thema entstammten dem Geist Ende des 19. Jahrhunderts, einer Zeit der gesellschaftlichen Enge: Je strenger die Sitten, desto mehr Regungen der inneren Natur muss der Mensch in fensterlose Kammern sperren. Doch ausgerechnet heute, wo der Mensch so individuell und frei zu sein scheint, feiert die Schattenarbeit ein fulminantes Comeback.

Jungs Werk ist nicht immer leicht zu lesen. Vor allem in den USA haben zuletzt mehrere Autorinnen und Autoren versucht, seine Gedanken in Texte und Übungen zu übersetzen, bei denen man sofort mitmachen kann. So entstanden einige psychologische Bestseller. Diese Schattenarbeit 2.0 holt unsere dunklen Persönlichkeitsanteile heraus aus dem beschützten Raum der Psychotherapie und versetzt sie in die Welt von Netflix, TikTok und Instagram.

Die Maske fällt

Psychologie Heute hat vier der bekanntesten Ansätze dieser Art aus den USA unter die Lupe genommen. Wie funktioniert die neue Schattenarbeit? Und: Bringt sie uns wirklich weiter? Da ist etwa der US-Autor Robert Greene. Er ist kein Psychologe, als Wissenschaftsjournalist aber gut mit der psychologischen Forschung vertraut. Mit dem Schatten befasst er sich in seinem Bestseller Die Gesetze der menschlichen Natur. Jung wusste, dass Schattenarbeit schmerzt. Greene lockt uns in diese Arbeit mit einem erzählerischen Kniff: Wäre es nicht toll, die Schatten der anderen besser erkennen und entlarven zu können? Wer diese Kunst beherrsche, lasse sich nicht länger täuschen von der „Maske“ der anderen. Doch warum tragen wir diese Masken überhaupt?

Als kleine Kinder, erklärt Greene, lebten wir frei und erstaunlich egoistisch. „Wir waren nicht die unschuldigen Engel, für die man Kinder so gerne hält.“ Doch unsere frühen Jahre durchwirke noch eine zweite Kraft: Unser Überleben hing vom Wohlwollen der Eltern ab. Wir lernten deshalb schnell, selbst die feinsten Regungen in ihrer Stimme und ihrer Körpersprache zu lesen: Mochten sie das, was wir taten? Oder reagierten sie mit Missbilligung? So erzogen uns die Eltern und die Welt um uns herum zu Fairness, Rücksichtnahme und Mäßigung. „Der Wunsch, Teil der Gruppe zu sein, wurde eine Hauptmotivation. Deshalb lernten wir, die dunkle Seite unserer Persönlichkeit zu unterdrücken.“

Weder Robert Greene noch Jung kritisiert diesen Prozess. Den meisten von uns gelingt diese Anpassung an die Kultur. Doch wir zahlen dafür einen Preis: „Wir verlieren die Intensität, die wir in der Kindheit erlebt haben, das volle Spektrum an Emotionen und sogar die Kreativität, die mit dieser wilden Energie einhergeht“, schreibt Greene. Deshalb lockt uns immer wieder das Verbotene. Es ist anstrengend, stets eine Maske zu tragen. So würden Robert Greene und Carl Gustav Jung auch den Ausraster erklären, den der Gitarrist Ole am Anfang dieser Geschichte erlebt hat.

Ist der Schatten dasselbe wie ein blinder Fleck?

Carl Gustav Jung glaubte: Wir sehen uns so, wie wir gerne wären. Er nannte dieses Selbstbild unser „Ich-Ideal“. In den Schatten verschieben wir alles, was dazu nicht passt. Manches davon ist uns bewusst, anderes nicht. Die unbewussten Anteile nennen wir in der Alltagssprache manchmal unseren ­„blinden Fleck“. Der blinde Fleck ist nicht dasselbe wie Jungs Schatten, sondern nur ein Teil davon. Darunter lagert laut Jung noch der „kollektive Schatten“: das unbewusst Verdrängte, das alle Menschen teilen.

Wo der Schatten durchbricht

Greene beschreibt sechs typische Situationen, in denen wir den Durchbruch des Schattens bei anderen und uns entdecken können:

Die Projektion ist das Ventil, mit dem der Schatten sich am häufigsten Luft verschafft. Erklären kann man sie sich mit einem Gleichnis: Ein Mann fegt sein Wohnzimmer, nur eine Ecke davon, dann ist das Kehrblech voll. Er schleudert den Haufen aus Schmutz, Staub und Ruß in den Hof, wo die Bettwäsche der Nachbarin zum Trocknen hängt. Dann sitzt er am Fenster und denkt: „Meine Güte, was ist das Laken meiner Nachbarin dreckig! Wie kann man nur so schmutzig schlafen!“ Anschließend blickt er zufrieden auf die gefegte Ecke seines Wohnzimmers und denkt: „Ein Glück, dass ich so sauber bin.“

Carl Gustav Jung hielt die Schattenarbeit für die „unerlässliche Grundlage jeglicher Art von Selbsterkenntnis“. Im Rahmen einer Psychotherapie sei das „eine mühsame Arbeit, die sich auf lange Zeit erstrecken kann“.

Die Illustration zeigt ein Frauengesicht von vorne
Sie ist immer hilfsbereit. Keiner kann sich vorstellen, dass auch sie mal die Beherrschung verliert.
Die Illustration zeigt ein Frauengesicht von vorne
Sie ist immer hilfsbereit. Keiner kann sich vorstellen, dass auch sie mal die Beherrschung verliert.

Debbie Ford: Eine gefallene Frau zurück im Leben

Es wäre ein Wunder, wenn es gelänge, diese „mühsame Arbeit“ nicht nur abzukürzen, sondern daraus auch noch einen Bestseller zu zaubern. Genau dieses Wunder ereignet sich erstmals im Herbst des Jahres 2000. Die bekannte US-Talkmasterin Oprah Winfrey hat eine bis dahin unbekannte Buchautorin in ihre Sendung eingeladen. Sie heißt Debbie Ford, ist damals Mitte 40, hat einen Universitätsabschluss in Psychologie und bewegte Zeiten hinter sich. Mit 28, so schreibt Ford in ihrem Buch Schattenarbeit, sei sie eines Morgens auf dem kalten Boden ihres Badezimmers erwacht. „Mein Körper schmerzte und mein Atem stank. Ich hatte wieder eine Nacht mit Partys und Drogen hinter mir, gefolgt von Erbrechen.“ An dem Tag habe sie beschlossen, ihr Leben zu ändern. „Ich war an einem Scheideweg in meiner Drogensucht.“

Das Publikum liebt diese Story: Eine gefallene Frau kämpft sich zurück ins Leben – und verrät nun der Welt, wie ihr dieses Kunststück gelungen ist. Debbie Ford wird zu einem Star der Coachingszene. Bis zu ihrem Krebstod im Jahr 2014 verkauft sie mehr als eine Million Bücher. Mit ihr gelangt der Begriff „Schattenarbeit“ in den Mainstream. Ihr geht es – ähnlich wie Carl Gustav Jung – nicht darum, den Schatten loszuwerden, „sondern darum, die positiven Seiten dieser Aspekte zu finden und sie in unser Leben zu integrieren“. Ihr Buch ist gut lesbar und anekdotenreich. Nicht immer folgt es den Lehren der Tiefenpsychologie.

Denn um die Drogen hinter sich zu lassen, hat Debbie Ford so ziemlich alles ausprobiert, was der kalifornische Markt damals hergibt: Gruppentherapie und Hypnotherapie, Akupunktur und Rebirthing, waghalsige Sprünge von Berggipfeln, Retreats bei Buddhisten und Sufis, zahllose Visualisierungs- und Meditationskassetten. Als sie ihr Buch schreibt, gibt Ford Seminare an dem Institut des Spiritualitätslehrers Deepak Chopra.Viele ihrer Übungen sind dann auch geführte Meditationen, bei denen man zum Beispiel einen imaginierten Fahrstuhl besteigt, darin in eine „siebte Etage“ fährt, um dort in einem Garten seinem „heiligen Selbst“ zu begegnen. Mehrfach empfiehlt sie den Duft von Aromalampen und Räucherstäbchen. Der esoterische Anstrich gefiel damals nicht allen. Zwar schrieb die New York Times durchaus respektvoll über Debbie Ford, kritisierte aber gleichzeitig, sie habe „die Antworten auf die Herausforderungen des Lebens auf einfache Phrasen reduziert“. Dennoch: Ford hat einem Millionenpublikum den Weg in die Schattenarbeit eröffnet.

„Ich bin hinterhältig.“

Bei einigen ihrer Übungen genügen Stift und Papier, eine davon erprobe ich im Selbstversuch. Ford präsentiert dafür eine Liste aus über 230 negativen Begriffen. Ich soll den Satzbeginn „Ich bin…“ nacheinander mit all diesen Begriffen vervollständigen. Also beschimpfe ich mich am Küchentisch selbst und bezichtige mich laut der Gier, des Geizes, der Lüge oder der Drückebergerei. All das lässt mich kalt. Fords Anweisung lautet: „Wenn Sie das ohne emotionale Reaktion aussprechen können, dann gehen Sie zum nächsten Wort.“ Sobald ich bei einem Satz aber eine starke emotionale Reaktion verspüre, so Ford, habe ich einen Schattenaspekt bei mir gefunden. Und tatsächlich kommt nach etwa 20 Begriffen der erste Volltreffer: „Ich bin hinterhältig.“ Als ich den Satz ausspreche, verspüre ich ein jähes Ziehen in der Magengegend. Offenbar liegt hier ein „abgespaltener Aspekt“ meiner selbst, wie Debbie Ford behauptet.

Was fange ich an mit diesem Wissen? Ford würde bei meiner Frage wohl gütig den Kopf schütteln. „Schattenarbeit ist nicht intellektuell“, schreibt sie. Man müsse sie „mit dem Herzen erfahren“. Dazu empfiehlt sie folgende Übung: Ich soll mich vor einen Spiegel stellen und meinen schmerzvollen Satz laut aussprechen. „Sagen Sie es so lange, bis die Energie, die für Sie in diesem Wort steckt, nicht mehr da ist.“ Jetzt sage ich meinem Spiegelbild also wieder und wieder den neu entdeckten Schattensatz: „Ich bin hinterhältig.“ Der Trick funktioniert wirklich. Nach ungefähr 15 Wiederholungen merke ich, wie mein Körper sich entspannt und der innere Schreck verschwindet. Mein Kopf akzeptiert: Ich könnte hinterhältig sein, wenn ich wollte. Ich habe diese Eigenschaft in mir, auch wenn ich sie nicht auslebe. Sie gehört zu meinem Schatten.

Dieser Spiegeltrick scheint eine Art Hit in Debbie Fords Seminaren gewesen zu sein. Sie schreibt: „Ich habe nie erlebt, dass die Übung schiefgeht, wenn die Person entschlossen ist, einen bestimmten Zug anzunehmen.“ Zugegeben: An Debbie Ford selbst könnte man vieles kritisieren. Ihre Krebserkrankung ignoriert sie über Jahre, weil sie glaubt, einer so verdienten Person wie ihr könne das Universum so etwas Gemeines niemals antun. Doch manche ihrer Übungen sind gut handhabbar und sinnvolle erste Schritte in die düstere Welt des eigenen Schattens.

Keila Shaheens Shadow Work Journal

Wenn kommerzieller Erfolg ein Gütekriterium ist, kommt man auch an Keila Shaheen nicht vorbei. Die Texanerin ist Mitte zwanzig und hat einen Bachelorabschluss in Psychologie und Marketing. Ihr zunächst selbstverlegtes Ausfüllbuch The Shadow Work Journal verkaufte sich mehr als eine Million Mal – vor allem über das Social-Media-Portal TikTok. Shaheens Übungen sind ausgesprochen niedrigschwellig. Fünf bis zehn Minuten pro Woche müsse man dafür opfern, um die eigenen Schatten zu erkennen, heißt es dort. Ihre Botschaft: Für die ersten Schritte in die Welt unserer Schatten brauchen wir keine Therapie. Einige Presseartikel haben sich – nicht ohne Erfolgsneid – über Keila Shaheens Buch lustig gemacht. Es stecke voller „Selfcare-Romantik“ und 130 Seiten ihres Buches müsse „man selbst schreiben“.

Solche Kritik macht es sich zu einfach. Kein Buch wird zum Bestseller, wenn es den Menschen nicht etwas gibt. Dennoch bin ich skeptisch. Ich mache einen Selbstversuch und spiele einige der Übungen durch. Meine erste doppelseitige Schreibübung stellt mir eine einfache Frage: Was habe ich als Kind nicht bekommen? Darüber habe ich so nie nachgedacht. Hatte ich nicht alles, was ein kleiner Junge braucht? Doch dann fallen mir wirklich ein paar Dinge ein. Als Kind und Jugendlicher hatte ich zum Beispiel nie einen festen Platz, um meine Hausaufgaben zu machen. Mal saß ich im Wohnzimmer, mal am Esstisch, mal am Schreibtisch meines Bruders, mal an dem meines Vaters. Ich war das einzige von vier Kindern ohne eigenen Arbeitsplatz.

Die Übung fragt weiter: Wie hat mich das beeinflusst? Ich überlege und schäme mich fast ein bisschen. Denn in der Tat plagt mich seit einigen Jahren das Gefühl, keinen eigenen Ort in der Welt zu haben. Dann folgt die letzte Frage dieser Übung: Was wäre anders, wenn ich damals bekommen hätte, was mir verwehrt wurde? Wäre ich entspannter und verwurzelter? Hätte ich mehr Tiefe im Leben? Das ist schwer zu sagen. Aber ich nehme mir vor, diesen Gedanken mit in meinen Alltag zu nehmen, und gehe aus der Do-it-yourself-Übung heraus wie aus einer guten Coachingsitzung.

59 solcher Übungen finden sich in Keila Shaheens Schattentagebuch. Manche klingen ein wenig zu schlicht. Und doch merke ich, dass ich anders über mich selbst nachdenke, wenn ich die Übungen mache. Die Schweizer Tiefenpsychologin Verena Kast sagt, der Schatten sei „ein Konzept, das in den Alltag der Menschen gehört, es ist eine Art von Denken, das uns allen geläufig werden muss“. Das Ausfüllbuch von Keila Shaheen leistet dazu einen ersten Beitrag.

The Tools von Stutz und Michels

Doch aus den USA kommt noch eine andere Popversion der Schattenarbeit. Sie geht weniger behutsam mit uns um und stammt aus der Feder der Therapeuten Phil Stutz und Barry Michels aus Los Angeles. Viele Hollywoodgrößen waren und sind bei ihnen in Behandlung. Auch Stutz und Michels glauben: Um wahrhaft selbstsicher und kreativ zu werden, muss man sich mit seinem Schatten verbünden, statt ihn beschämt zu verstecken.

Wie diese Kooperation mit der Finsternis gelingt, verraten die beiden in ihrem Buch The Tools. Sie erzählen darin die Geschichte von Jennifer, der Mutter eines fußballbegabten Jungen, die sich am Spielfeldrand von den anderen Müttern ausgegrenzt fühlt. Wenn sie sich ihnen vorstellen will, fühlt sie sich „wie gelähmt“: Ihr Mund wird trocken, ihre Stimme zittrig, ihr Kopf fühlt sich leer an, sie kann keinen vollständigen Satz mehr sprechen. Jennifer kennt solche Aussetzer nur zu gut. Als Schauspielerin ist sie häufig beim Vorsprechen gescheitert.

Stutz und Michels machen mit ihr folgende Übung: Sie soll den Zustand der Unsicherheit noch einmal in sich aufleben lassen. „Bringen Sie jetzt dieses Gefühl aus sich heraus und vor sich und geben Sie ihm ein Gesicht und einen Körper. Diese Gestalt verkörpert alles, was Sie so verunsichert.“ Jennifer visualisiert ein dreizehn oder vierzehn Jahre altes Mädchen, pummelig und ungepflegt, „die totale Verliererin“, sagt Jennifer und schneidet eine Grimasse. Sie hat, so schreiben Stutz und Michels „gerade ihren Schatten gesehen“.

Stutz und Michels empfehlen diese Technik immer, wenn man sich unsicher fühlt, etwa bei einem Vortrag. „Sehen Sie neben sich auf der Seite Ihren Schatten, der Sie anschaut. Verlagern Sie Ihre Aufmerksamkeit von Ihrem Publikum ganz auf Ihren Schatten.“ Man soll „das unzertrennliche Band“ zum eigenen Schatten spüren, denn: „Gemeinsam sind Sie furchtlos.“ Das bedeutet: Mit diesem Begleiter an ihrer Seite kann Jennifer mit einer anderen Stimme sprechen, einer „inneren Autorität“, wie Stutz und Michels es nennen. Sie empfehlen die Übung überall dort, wo man unter Leistungsdruck steht. Danach könne man sein Selbst „völlig frei zum Ausdruck bringen“. Allerdings funktioniert diese Hauruck-Schattenarbeit made in Hollywood offenbar nur nach einiger Übung.

Heil und ganz werden

Ich wage auch hier einen Selbstversuch und erinnere mich an einen Vortrag, den ich vergeigt habe, wofür ich mich lange Zeit geschämt habe. Ich schließe die Augen. Wer hat zu mir gesprochen in diesem Moment? Vor mir erscheint ein Bild: eine Figur wie aus dem Disney-Film Ratatouille, in dem einer Wanderratte in Paris der Aufstieg zum Sternekoch gelingt. Meine fantasierte Cartoonratte ist jedoch alles andere als süß. Ihr Fell ist schmutzig-weiß und ungepflegt, unterhalb der Sonnenbrille glimmt in ihrem Mundwinkel eine Zigarette, in der linken Vorderpfote hält sie ein halbvolles Whiskeyglas, sie trägt ihren dicken Bauch mit der schmierigen Arroganz eines Mafiachefs. Die Ratte heißt Carlos. Sie ist der lässige, coole Gangstertyp, der früher auf dem Schulhof in der Raucherecke stand. Sie hält mich für ein Weichei.

Ein paar Tage lang stelle ich mir Carlos als Begleiter vor. Es ist ein Fantasiespiel, mehr nicht. Wir gehen zusammen in den Supermarkt, zum Tanzen, zum Sport. Tatsächlich verändert der neue Freund meinen Blick auf die Welt und mich selbst. Ich werde ein bisschen mehr wie er. Weniger rücksichtsvoll. Klarer in meinen Wünschen und Forderungen. Wie jemand, der besser für sich sorgt und Grenzen setzt. Beim Tischtennis spiele ich jetzt mehr Angriffsbälle und gewinne auf einmal Matches, die ich zuvor verloren hätte.

Das ist die eine Seite.

Doch es gibt auch eine andere: Ich registriere, dass ich manchmal Angst vor mir selbst bekomme. Es gibt offenbar einen Grund, warum ich Carlos so lange in den Schatten geschoben habe. Das Leben war bequemer ohne ihn. Für Stutz und Michels ist das nicht ungewöhnlich. Einige Menschen in ihrer Klientel hatten wohl Angst davor, sich bei der Schattenarbeit selbst zu verlieren. „Wenn Sie sich auf den Weg machen“, schreiben die beiden, „sollten Sie sich nicht von der Angst aus der Bahn werfen lassen, es stimme etwas nicht mit Ihnen. Sobald Sie auch nur einige Wochen durchhalten, werden Sie das Gegenteil erleben – nämlich, dass Sie heil und ganz werden.“ Für mich jedenfalls steht fest: Die Schattenarbeit von Stutz und Michels ist die intensivste und ruppigste, die mir bei meinen Selbstversuchen begegnet ist. Aber auch diejenige, bei der ich die schnellsten Veränderungen an mir bemerke.

Dennoch: Die vielen Verfahren der neuen Schattenarbeit zum Selbermachen sind kein Therapieersatz. Sie kratzen lediglich an der Oberfläche und sind deutlich enger, als von Jung gefasst. Und doch bringen sie etwas in unseren Alltag, das dort hingehört: ein erstes Gespür dafür, dass auch bei glücklichen und funktionierenden Menschen längst nicht alles in Butter ist. Vielleicht hören wir danach auf, jeden Groll und jede Verunsicherung der bösen Welt zuschieben zu wollen? Etwas weniger blinde Projektion, dafür mehr selbstbewusste Demut? Und mehr Tiefe im Leben. Damit wäre eine Menge gewonnen.

Dem Schatten auf der Spur

Diese Übung stammt mitsamt den beispielhaften Antworten aus dem Shadow Work Journal von Keila Shaheen. Sie eignet sich für Momente, in denen uns aus unerfindlichen Gründen negative Gefühle und Gedanken heimsuchen oder wir glauben, die ganze Welt hätte sich gegen uns verschworen

Begeben Sie sich an einen ruhigen Ort mit gedämpftem Licht. Verbinden Sie sich mit ihrem Schatten.

Was triggert meinen Schatten?
Mein Job und die Präsentation, die ich morgen halten muss.

Welche Gedanken kommen mir dabei?
Ich möchte kündigen. Dieser Job raubt mir alle Lebensfreude. Ich kann diese Präsentation nicht halten, ich fühle mich unvorbereitet.

Welche Emotionen empfinde ich?
Angst, Furcht.

Schließen Sie Ihre Augen. Hören Sie auf Ihre innere Stimme. Welche drei Wörter kommen Ihnen in den Sinn? Schreiben Sie sie auf. Sie bedeuten etwas.
Gefangen – nervös – schwer.

Welche Erinnerungen und Bilder kommen Ihnen in den Sinn, wenn Sie sich auf diese Begriffe konzentrieren? Verbinden Sie sich mit Ihrem inneren Kind.
Ich denke an einen Vogel in einem Käfig, der durch die Gitterstäbe nach draußen schaut. Ich weiß: Da draußen ist Freiheit, aber ich habe Angst loszufliegen. Ich habe Angst vor meinen eigenen Fähigkeiten. Was, wenn ich mich auf den Weg mache und dann nicht weit komme? Ich fühle mich schwer, etwas zieht mich nach unten. Ich habe mich als Schulkind so gefühlt. Ich habe immer aus dem Fenster geschaut und hatte Probleme, dem Unterricht zu folgen.

Nehmen Sie sich vor, sich anzunehmen und zu lieben. Lassen Sie los.

Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Dann lesen Sie außerdem das Interview zu Schattenarbeit mit Psychologieprofessorin und Psychotherapeutin Verena Kast in „Mit Schattenakzeptanz werden wir friedfertiger“.

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Quellen

Jordan Peterson: 12 Rules for Life: Ordnung und Struktur in einer chaotischen Welt. Goldmann 2019

Robert Greene: Die Gesetze der menschlichen NaturThe Laws of Human Nature. Finanzbuch Verlag 2019

Carl Gustav Jung: Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst. Edition C. G. Jung 1995

Byron Katie: Lieben was ist. Wie vier Fragen Ihr Leben verändern können. Goldmann 2002

Joshua N. Hook u. a.: Inquiry-based stress reduction: A systematic review of the empirical literature. Journal of Clinical Psychology, 77/6, 2021, 1280–1295

Tzofnat Zadok-Gurman u.a.: Effect of inquiry-based stress reduction (IBSR). Intervention on well-being, resilience and burnout of teachers during the COVID-19 pandemic. International Journal of Environmental Research and Public Health. 18/7, 2021, 3689

Soheila Tajnia u.a.: Investigating the effect of inquiry-based stress reduction on mortality awareness and interpersonal problems among intensive care unit nurses. BMC Psychiatry, 22, 2022, 106

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2025: Meine verborgenen Seiten und ich