Frau Professorin Kast, Carl Gustav Jung hat die Schattenarbeit immer für eine Art Gesellenstück gehalten, eine Art Vorübung in der Erkundung des Unbewussten. Stimmen Sie dem zu?
Nein, da hat Jung sich geirrt. Schattenarbeit ist überhaupt kein Gesellenstück, sondern schwer. Es geht ja darum, bei sich selbst den Schatten zu sehen. Zum Beispiel in den eigenen Vorurteilen, in denen jede Menge Schatten steckt. Ich muss es aushalten, dass ich diese Seiten an mir habe, die ich so gar nicht haben will.
Was ist daran…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
Ich muss es aushalten, dass ich diese Seiten an mir habe, die ich so gar nicht haben will.
Was ist daran so schwer?
Ich kann das nur aushalten, wenn ich ein hinreichend gutes Selbstwertgefühl habe. Ich stehe ja immer wieder in der Auseinandersetzung mit der Welt. Werde ich anerkannt in dem, was ich selbst bin? Werde ich in meiner Identität anerkannt? Das ist schwer.
Manchmal erfahren wir den Schatten der anderen am eigenen Leib. Etwa wenn wir abgelehnt oder negativ beurteilt werden. Welche Erfahrung haben Sie persönlich damit gemacht?
Ablehnung macht etwas mit einem. Etwa wenn einem Neid begegnet. Ich habe sehr gut gelernt, mich im Laufe meines Lebens vom Neid der anderen zu distanzieren. Ich sage mir: Das ist der Situation geschuldet und nicht meiner Person. Ich kann verstehen, dass ich Neid auslöse. Aber diesen ganzen Wust an Aggression, an Hass, den muss ich nicht auf mich nehmen.
Wie distanziert man sich von so einer Situation?
Zunächst hilft eine gute Bindung am Anfang des Lebens, also das Gefühl, ein hinreichend guter Mensch in einer hinreichend guten Welt zu sein, das ist die Basis. Aber auch wenn Sie das haben, geht es weiter. Bleiben wir mal beim Neid als Beispiel. Neider verderben einem die Freude.
Stimmt.
Und das ist ungefähr das Schlimmste, was Menschen tun können, anderen die Freude verderben. Denn die Freude ist eine Emotion, die uns ein gutes Selbstwertgefühl gibt in Verbindung mit anderen. Und genau da haut einem der neidische Mensch hinein. Der neidische Mensch sagt – und da sind wir dann sehr nahe beim Hass: Du solltest verschwinden!
Was hilft dann?
Reflexion ist wichtig. Es ist außerdem sehr wichtig, dass man mit anderen Menschen redet, die auch Neid erregen. Denn am Anfang fragt man sich: Habe ich zu viel über mich geredet?
Verstehe. Man denkt sofort: Vielleicht habe ich zu sehr angegeben?
Wenn man mich nach meinen Büchern fragt, bin ich noch heute wahnsinnig zurückhaltend. Ich habe jahrzehntelang Hass erlebt. Aber wenn mir jetzt jemand so richtig neidisch begegnet, kann ich mir sagen: „Das ist ein armer Kerl.“ Dieser Gedanke hat mir sehr geholfen. Neidische Menschen sind innerlich von einem ungeheuren Müssen ergriffen. Dieses innere Müssen ist manchmal fast wie ein Dämon, unter dem diese Menschen wahnsinnig leiden.
Es kann auch ein kollektiver Schatten dahinterstecken. Etwa in Gesellschaften, in denen Menschen fast Angst vor zu viel Erfolg haben, um nicht den Neid der anderen heraufzubeschwören.
Es ist ja auch unheimlich schwer, sich in einem richtigen Maß zu präsentieren. Wenn ich mich zu groß mache, krieg ich eins auf die Birne. Mache ich mich zu klein, werde ich depressiv. Es ist gar nicht so einfach.
Sie schreiben in Ihrem Buch Der Schatten in uns, dass Jung die Integration unseres Schattens gefordert hat und Sie diese Vorstellung für überoptimistisch halten. Verlangt Jung zu viel von uns?
Jung hat ganz locker gesagt: Wenn man den Schatten integriert hat, kann man sich den tieferen Ebenen der Psyche zuwenden. Ich glaube: Solange man mit Menschen zusammenlebt, haben wir Schatten. Wir haben alle Emotionen, auch die nicht so schönen. Es gibt aber Jungianer, die sagen: „Ich hab jetzt meinen Schatten bearbeitet.“ Die fürchte ich! Ist man dem Schatten gegenüber nicht mehr aufmerksam, reagiert man schattenhaft, ohne es zu merken.
Es ist wie in der körperlichen Welt: Wenn ich die Taschenlampe anknipse, um meinen Schatten auszuleuchten, erschaffe ich dadurch auf der anderen Seite wieder einen neuen. Es geht nicht ohne.
Deshalb geht es darum, den Schatten überhaupt wahrzunehmen, so weit es möglich ist, und ihn auch in die Verantwortung zu nehmen. Eigentlich wollen wir ja nicht hassen. Aber es gibt Situationen, da hassen wir einfach. Wenn zum Beispiel wieder ein Femizid stattfindet in St. Gallen, wo ich wohne, dann packt mich der kalte Hass.
Vielleicht gibt es Situationen, in denen Hass okay ist.
Dann reden wir über Emotionen, die weniger schlimm sind. Zum Beispiel Ärger. Wer sich ärgert, glaubt, dass man die Welt noch verändern kann. Da gehen wir noch in die Auseinandersetzung. Und da bringen wir natürlich Schattenanteile mit ein. Man streitet in der Beziehung und dann sagt zum Beispiel die Frau: „Du dominierst mich immer.“ Und er sagt: „Nein, du dominierst mich.“ Man streitet und irgendwann sagt er vielleicht: „Stimmt, ich habe vielleicht so einen Dominanzschatten. Ich fühle mich besser, wenn ich dominieren kann.“ Und sie sagt vielleicht: „Und ich hab so einen Schatten, dass ich mich schwach mache, damit du mich dominierst.“ Dann können beide miteinander sprechen und dieses Verhalten in die Verantwortung nehmen, dass sie dann vielleicht sagt: „Ich versuche nicht mehr, die Schwache zu spielen und damit deine Dominanz herauszufordern – und du lernst, dass du auf meine Tricks nicht hereinfällst.“
Das heißt, es hilft bereits, wenn ich mir eingestehe: Ja, ich habe eine Seite, die ich nicht sehen kann oder sehen will?
Es ist ja so, dass wir uns auf den Schatten normalerweise nicht ansprechen lassen. Und wenn wir mal von diesem Konzept ausgehen: Es gehört zum Menschen. Es ist nicht schlimm, es ist einfach unsere andere Seite. Und wenn wir uns dann darauf ansprechen lassen, dann können wir zumindest ein bisschen vom Schatten zeigen, das glaube ich schon.
Sie haben vorhin vom Schatten in unseren Vorurteilen gesprochen. Wie haben Sie das gemeint?
Ich hatte dazu mal eine Gastprofessur in Wien. Vorurteile bestehen vor allem aus Projektionen von Schattenaspekten. Das ist sehr schwer zu sehen. Das Vorurteil kommt ja daher als kluge Geschichte.
Das verstehe ich nicht.
Ein Beispiel: Wir haben in der Schweiz viele Leute aus dem Kosovo. Und dann kommen die Vorurteile: „Die Kosovaren sind faul“, „Sie zocken uns ab“ und so weiter. Daraus spricht immer ein Aspekt in uns, der faul ist, der andere über den Tisch ziehen will.
Wir sehen das aber nicht bei uns, sondern schreiben es als ein Vorurteil der Fremdgruppe zu?
Ja, oder nehmen Sie unsere eigene Nicht-Hilfsbereitschaft, auch die wird überwiegend projiziert. Das Thema Schatten ist ohnehin allumfassend. Ich würde auch das, was man „das Böse“ nennt, als Schatten bezeichnen. Alles, was ich von den anderen befürchte, ist mein Schatten.
So einfach ist es?
So einfach würde ich das sagen. Es ist das, was wir projizieren.
Was ist mit der Freude über moralische Ausrutscher der anderen? Wenn der wertkonservative Politiker beim Fremdgehen erwischt wird oder der moralische Saubermann beim Finanzbetrug?
Ich finde, da müsste man unterscheiden. Habe ich einen Freund betrogen mit Geld? Oder hatte ich einen erotischen Ausrutscher?
Sie meinen: Das ist nicht dasselbe?
Es ist nicht dasselbe. Gegen das Verlieben kann man sehr wenig tun. Es gibt gewisse Dinge, die man einfach nicht kontrollieren kann. Ich meine, wir versuchen es natürlich zu kontrollieren, weil wir treu sein wollen. Aber ich habe genug Menschen gesehen in meinem Leben, die sich absolut nicht verlieben wollten und die sich unsterblich verliebt haben – die auch diesem Verliebtsein nicht nachgeben wollten und schwer depressiv wurden. Aber jemanden einfach betrügen? Das ist etwas anderes.
Darüber können wir uns dann gut aufregen.
Man muss davon wegkommen zu denken, dass man diese Gedanken selbst nicht hat. Und wenn man mal aufgehört hat, das zu denken, dann merkt man diese Schattenvorstellungen, diese Fantasien auch in sich. Und dann kommt man sich selbst schon ein bisschen besser auf die Schliche.
In den USA gibt es mehrere relativ neue Ansätze, die Schattenarbeit für den Hausgebrauch anbieten. Wie gefährlich ist das?
Letztlich bleibt einem gar nichts anderes übrig, als sich persönlich um seinen Schatten zu kümmern. Die Menschen hatten schon immer einen Drang, an ihren unangenehmen Seiten zu arbeiten.
Sie meinen: Schattenarbeit kann auch ein Freibrief dazu sein, sich wie ein schlechter Mensch aufzuführen?
Genau, und das finde ich schade. Deshalb finde ich diese amerikanischen Bücher gar nicht so schlecht, die sagen: Du kannst das selbst machen. Schattenarbeit ist ein Konzept, das in den Alltag der Menschen gehört, es ist eine Art von Denken, das uns allen geläufig werden muss. Nur wenn ich merke, dass mich die Arbeit mit dem Schatten destabilisiert, brauche ich vielleicht einen Therapeuten oder eine Therapeutin.
Ich hatte bei meiner Schattenarbeit Momente, wo ich Angst vor mir hatte.
Ja, das gibt’s. Und das ist ja auch das Interessante daran, dass man sich plötzlich sagt: „Ich kenne mich gar nicht mehr!“ Und dann heißt es: nicht weglaufen, sondern hinschauen! Und sich fragen: Was sagt das Interessantes über mich aus? Und das zeigt mir eben etwas auf, was ich dann nicht auf die anderen projizieren muss. Ich denke deshalb: Mit Schattenakzeptanz werden wir friedfertiger.
Verena Kast, Jahrgang 1943, wirkte als Professorin für Psychologie an der Universität Zürich, war Dozentin und Lehranalytikerin am dortigen C.-G.-Jung-Institut und mehrere Jahre seine Präsidentin, außerdem als Psychotherapeutin tätig. Kast ist Autorin zahlreicher Bücher.
Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Dann lesen Sie auch, wie drei verschiedene Bücher die Schattenarbeit aufgreifen und konkrete Übung ableiten in Meine verborgenen Seiten und ich.
Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Wir freuen uns über Ihr Feedback!
Haben Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Beitrag oder möchten Sie uns eine allgemeine Rückmeldung zu unserem Magazin geben? Dann schreiben Sie uns gerne eine Mail (an: redaktion@psychologie-heute.de).
Wir lesen jede Nachricht, bitten aber um Verständnis, dass wir nicht alle Zuschriften beantworten können.