Widerwille in der Therapie: Wo gehöre ich hin?

Therapiestunde: Die Eltern trennen sich. Der 14-jährige Klaus schimpft sich durch die Therapie. Wie geht der Gestalttherapeut Volkmar Baulig damit um?

Die Illustration zeigt einen Therapeuten als Hütchenspieler, vor ihm steht ein wütend aussehender 14-jähriger Junge, die Hände in seinen Taschen
Kinder aus Trennungsfamilien tragen viel Wut in sich. Das fordert selbst einen erfahrenen Therapeuten heraus. © Michel Streich für Psychologie Heute

Meine inzwischen verstorbene Frau bat mich einmal mit den folgenden Worten, einen Fall zu übernehmen: „Da komme ich nicht weiter. Da muss ein Mann ran, weil Vatererfahrungen fehlen. Da geht es ums Aushalten.“

Die Eltern von Klaus hatten sich vor kurzem getrennt, und der 14-jährige Jugendliche wusste nicht so recht, wohin er gehören sollte. Der ältere Bruder war beim Vater und die ältere Schwester bei der Mutter. Genau genommen wollte ihn keiner haben. Mal beim Vater und öfter bei der Mutter, überall benahm…

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der Mutter. Genau genommen wollte ihn keiner haben. Mal beim Vater und öfter bei der Mutter, überall benahm er sich schlecht und forderte schimpfend seine Rechte ein, aber mit den Pflichten haperte es. Er war bereits auf verschiedenen Schulen gewesen und auch auf der hiesigen Privatschule klappte es nicht gut.

Psychologisches als Neuland

Beim Kontakt mit seinem Psychiater stieß ich auf Schulterzucken. Er hatte auch keine Idee mehr außer einer Klinikeinweisung. Das galt es nach meiner Einschätzung zu vermeiden, zumal sich die Familie dann noch mehr von Klaus distanziert hätte. Mein erster Eindruck von diesem entsprach eigentlich seiner Vorgeschichte. Er wirkte auf mich abweisend. Also suchte ich orientierungslos Kontakt zu den heillos zerstrittenen Eltern und erhielt von der Mutter keine Resonanz zur Mitarbeit und vom Vater nur eine sehr verhaltene Bereitschaft. Klaus’ Dilemma war: Beim Vater, der lax wirkte, bekam er keinen Halt und bei der mir gefühlskalt erscheinenden Mutter prallte er ab. Der Vater schien mir in seiner ganzen Größe wie ein unbeholfenes Kind. Anscheinend war er ganz damit gefordert, beruflich seine leitende Stellung auszufüllen.

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Psychologisches und Pädagogisches schienen dem Vater fremd. In Anbetracht seines Mangels an Empathie und Grundverständnis für andere hatte ich auch bei ihm das Gefühl, elementare Aufbauarbeit leisten zu müssen. Aber immerhin schien der Vater kontaktbereit, wenn auch nur bedingt kontaktfähig. Ohne seine Bereitschaft zur Mitarbeit hätte ich die Arbeit mit Klaus nicht beginnen können. Denn es bestanden ja zwei systemische Baustellen: Es war weder klar, wo Klaus zukünftig wohnen würde, noch war geklärt, auf welche Schule er gehen sollte.

"Ich weiß gar nicht, was ich hier soll"

Ich wusste, dass es sich in der Arbeit mit Klaus vor allem um elementare Aufbauarbeit handelte. Zunächst achtete ich auf die Sitzordnung. Da Klaus sehr emotional war, wollte ich nicht so sehr in den Dunstkreis seiner Emotionen kommen und hielt größeren Abstand als normalerweise zu anderen Klientinnen und Klienten. Da ich wusste, dass er sich von den Eltern geschickt fühlte, setzte ich mich in die Nähe der Tür, um so die Schwelle zum Weggehen zu erhöhen.

Ich wies ihm einen Sitzplatz zu. „Ich weiß gar nicht, was ich hier soll“, platzte es aus ihm heraus. „Na ja, wir könnten überlegen, was in deinem Leben nicht so gut läuft und was du ändern könntest“, entgegnete ich mit dem Bemühen, ruhig zu bleiben. „Wieso ich?“, schimpfte er weiter: „Die anderen, die sind doch scheiße.“ „Mag sein, aber die sind nicht hier. Mein Angebot ist, mit dir hier eine Stunde die Woche zusammen zu sein, um zu überlegen, was du ändern könntest“, so meine etwas unterkühlte Antwort.

Doch mein Bemühen, cool zu sein, hielt ihn nicht davon ab zu schimpfen. „Das ist ja wie im Gefängnis. Ich will gehen. Sie halten mich hier fest.“ „Ich halte dich nicht fest. Aber ich habe eine Absprache mit deinem Vater, dass du jede Woche eine Stunde kommst. Wenn du jetzt gehst, dann musst du das mit deinem Vater ausmachen“, so meine klare Ansprache. „Ich will hier weg!“, schrie er und ich entgegnete mit einer Prise Fürsorglichkeit: „Und ich möchte gerne, dass du bleibst.“

Sein Grundmuster von Attacke, Vorwurf und Fluchtgedanken hielt sage und schreibe zwei Jahre an. Klaus kam aber regelmäßig, ging regelmäßig zur beendeten Zeit und schimpfte regelmäßig. Er zeigte sozusagen im Negativen Beständigkeit. Auch ich reagierte analog mit Kontinuität. Ich ließ mich nicht provozieren und dachte: „Das ist sein Thema. Näher lässt er mich nicht an sich ran.“ Aber insgeheim spürte ich: Er unterstellte mir Nehmerqualitäten, dass ich das mit ihm hier aushielt. Aber er versuchte, sich Sympathien für mich nicht anmerken zu lassen.

Wer hat Verantwortung? Wer hat Schuld?

Die Gespräche mit dem Vater waren zäh. Er wirkte emotional sehr unbeteiligt und schob die Verantwortung für die Zukunft von Klaus von sich. Aber er kam und er klebte mir förmlich an den Lippen. So schafften wir es zunächst noch mit meiner Hilfe, eine Regelschule für Klaus zu finden.

Eines Tages kam der Vater mit einem neuen Thema. Er habe auf einer Reise eine Frau kennengelernt und die sei – man staune – aus dem gleichen Ort. Die frohe Botschaft wandelte sich aber schnell, als er erwähnte, dass diese Frau auch einen schwierigen Jungen habe, und da sei es für ihn noch weniger denkbar, Klaus zeitintensiver bei sich aufzunehmen.

Im Kopf von Klaus entwickelte sich wohl die Fantasie, er könne beim Vater in Anbetracht der neuen Beziehung stärker andocken. Ich sah darin ein Ziel, an dem wir arbeiten könnten. Ich betonte: „Da musst du aber erst einmal an deinem Benehmen arbeiten. Ein erster Schritt dazu ist, dass nicht immer die anderen schuld sind.“ Immerhin schimpfte er nicht zurück.

Nun bin ich Helfer

Mein Vorschlag, die neue Lebensgefährtin des Vaters einzubinden, führte dazu, dass sie beim nächsten Gespräch mitkam. Die Rede kam sofort auf Klaus, wobei sie erwähnte, dass er sich ganz unmöglich benehme. Aber zwischen den Tönen hörte ich keine grundsätzliche Ablehnung heraus. Die Paargespräche zentrierten sich um die Frage, wie denn die schwierigen Jungs eingebunden werden könnten. Denn inzwischen waren sie als Paar in ihrem Haus zusammengezogen.

Mich beeindruckte der Mut des neuen Paares, sich nach schwierigen vorangegangenen Beziehungserfahrungen nochmals auf ein so herausforderndes Projekt einzulassen. Die Frau gab in einer Nebenbemerkung einen potenziellen Schlüssel zu einer tragfähigeren Lösung. „Also diese ganzen schwierigen Jungs unter einem Dach zu haben, das kann ich mir nicht vorstellen.“ So stellte ich den Vorschlag in den Raum, dass für ihren Sohn und Klaus’ älteren Bruder eine nahe Dependance gesucht werden sollte, zumal Letzterer ja schon volljährig sei. Was mit Klaus selbst sei, solle noch offenbleiben. So hätte die neue Beziehung ein Stück weit den Rücken frei, um sich zu entwickeln. Mein Vorschlag blieb ohne ein „Ja, aber“ im Raum.

Ich informierte Klaus von diesem Gespräch. Dann schimpfte er wieder: „Die wollen mich ja doch nicht haben.“ „Aber vielleicht ist das unser Ziel, dass du da ankommst“, entgegnete ich. Von nun an sah mich Klaus eher als Helfer. Er schimpfte weniger, legte aber seinen spröden Charme nicht ab.

Wohnen auf Probe

Die Dependance wurde umgesetzt. Es wurden vom neuen Paar klare Regeln aufgestellt, die zum Teil mit mir abgesprochen wurden. Das Konzept mit der Dependance bewährte sich. Klaus war dort zunächst nur zeitweise und quasi auf Probe da.

Das Mitgefühl für Klaus ihrerseits und die Hoffnungsschimmer – dieser war in der neuen Schule angekommen und es gab in der Patchworkfamilie weniger Konflikte mit ihm – bewegten die Partnerin dazu, seiner Aufnahme in die Dependance zuzustimmen. Mit dieser Lösung lockerten sich die Kontakte. Etwa ein Jahr später traf ich den Vater auf dem Markt. „Wir haben geheiratet“, sagte er, „und es läuft.“ Ich war sehr erfreut, aber irgendwie auch erstaunt.

„Hallo Herr Baulig, wie geht es Ihnen?“, so wurde ich in den nächsten Jahren dreimal freundlich angesprochen. Es war Klaus mit sympathischem Lächeln, der von irgendwelchen Fortschritten erzählte. Und ich konnte die Fortschritte in seinem Gesicht sehen.

Gut zehn Jahre nach Beendigung der Arbeit mit ihm traf ich die Mutter in einer anderen Stadt beim Sonntagsspaziergang. Sie kam von sich aus auf mich zu und erzählte mir, Klaus lebe in einer anderen Stadt und mache gerade seinen Master in Wirtschaft.

Dr. phil. Volkmar Baulig, Diplompädagoge, war über 30 Jahre als Förderlehrer sowie in systemisch-beraterischem Kontext in Regelschulen tätig. Als Gestalttherapeut arbeitet er mit Kindern und Jugendlichen vorwiegend im Lernbereich.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2024: Von hier aus kann ich meine Sorgen kaum noch sehen