Das Rätsel des Weinens

Kein anderes Lebewesen vergießt emotionale Tränen, nur der Mensch. Was weiß die Forschung über das Weinen? Ein Tränenkompendium entlang von 15 Fragen.

Ein junger Mann weint
Frust, Trauer, Schmerz, Verlust: Es gibt viele Gründe, warum man zu weinen beginnt. Und eins ist sicher: Danach fühlt man sich erleichtert. © Maud Fernhout für Psychologie Heute

Die wohl größte Heulsuse der Weltgeschichte kam im Jahr vor der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus auf die Welt und ist ein Zeitgenosse Martin Luthers. Er heißt Ignatius von Loyola, sieht seine Tränen als göttliche Gnadengabe und führt sogar eine Art Tränentagebuch. Allein die ersten 40 Tage notieren unglaubliche 175 Weinattacken – so ergriffen ist Ignatius von der Güte des Herrn, wenn er öffentlich betet und die Bibel zitiert. Dann jedoch verbieten ihm die Ärzte, täglich die Messe zu lesen. Sie fürchten,…

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er öffentlich betet und die Bibel zitiert. Dann jedoch verbieten ihm die Ärzte, täglich die Messe zu lesen. Sie fürchten, der Auserwählte könnte sich buchstäblich die Augen ausweinen.

Die moderne Wissenschaft verweist nur selten auf Gott, um körperliche Phänomene zu beschreiben. Doch selbst Charles Darwin gab achselzuckend auf, als er nach einer Erklärung für unsere Tränen fahndete. Er hielt das Weinen für ein zufälliges Nebenprodukt unserer Emotionen, einen überflüssigen Schmutzrest des Lebens, der beim Großputz der Evolution nicht mit fortgefeudelt worden war.

Wenn jemand bessere Antworten kennt, dann der Grandseigneur der psychologischen Tränenforschung, Ad Vingerhoets, ein emeritierter Psychologieprofessor an der Universität Tilburg in den Niederlanden (Spitzname: The Crying Dutchman). Seine Berufung fand er durch einen Zufall. Auf einer Party fragte ihn jemand, ob Weinen gesund für uns sei. „Es war mit peinlich, aber ich wusste keine Antwort“, verrät er. Also habe er beschlossen, die Sache persönlich zu untersuchen. Bis heute haben Vingerhoets und andere Forschende die folgenden 15 Erkenntnisse zutage gefördert, die das Geheimnis unserer Tränen ein wenig lüften.

1. Wie hat sich das Weinen überhaupt entwickelt?

„Das Weinen kleiner Kinder ist sehr gut erforscht“, sagt Ad Vingerhoets. „In den ersten Lebensjahren sind wir extrem hilfsbedürftig. Tränen signalisieren den Erwachsenen, dass wir ihre Unterstützung benötigen.“ Das erklärt unser Weinen aber nur zum Teil. Schließlich rufen auch Tierkinder nach ihren Eltern. Doch nur bei uns Menschen fließt dabei eine Flüssigkeit aus den Augen.

„Aus Sicht der Evolution ist das sinnvoll“, sagt Ad Vingerhoets. Denn mit seinen Tränen kann ein Kind die Eltern alarmieren, ohne durch Geräusche einen Feind auf sich aufmerksam zu machen. Tränen sind also ein stummer Schrei nach Hilfe. „Wir wissen, dass auch Tiere Tränenflüssigkeit produzieren können. Aber der Mensch ist das einzige Wesen, das aus emotionalen Gründen weint“, erklärt Ad Vingerhoets. Auch die Tatsache, dass beim Homo sapiens noch die Erwachsenen heulen, hält der Psychologe für eine kuriose Seltenheit im Reich der Biologie. „Menschen vergießen Tränen von der Wiege bis zur Bahre.“

2. Weinen Erwachsene anders als kleine Kinder?

Ja, denn Kinder weinen häufig, wenn sie Schmerzen empfinden. Erwachsene tun das nur selten. Die beiden wichtigsten Gründe für das Weinen im Erwachsenenalter? „Das ist zum einen das Gefühl der Ohnmacht“, sagt Ad Vingerhoets, „und zum anderen das Erleben von Trennung und Verlust.“ Natürlich werden unsere Augen auch beim Zwiebelschneiden wässrig. Solche „Reflextränen“ interessieren Psychologen wie Ad Vingerhoets aber nicht.

3. Frauen können weinen, Männer eher nicht – stimmt das?

Dieser Frage ging Ad Vingerhoets in einer Umfrage in den Niederlanden nach. Dabei konfrontierte er Menschen aus 2000 Haushalten mit einer klassischen Aussage aus der Depressionsforschung: „Früher konnte ich weinen; aber jetzt kann ich das nicht mehr, selbst wenn ich das gerne möchte.“ 8,6 Prozent der Männer stimmten der Aussage zu – ebenso 6,5 Prozent der Frauen. Männer und Frauen ähneln einander also stärker, als man glaubt.

Dennoch ergab die Studie einige Unterschiede zwischen den Geschlechtern: Frauen, die nicht weinen können, berichten signifikant häufiger davon, dass sie den eigenen Vater nie haben weinen sehen und dass sie Tränen für ein Zeichen von Schwäche deuten. Bei tränenlosen Männern findet man diesen Effekt nicht. Möglich also, dass die Unfähigkeit zu weinen bei Männern und Frauen unterschiedliche Ursachen hat.

4. Macht es unglücklich, wenn man nicht weinen kann?

Dieselbe Studie untersuchte auch, wie glücklich oder unglücklich Menschen sind, die nicht weinen können. Ergebnis: Wer nicht weinen kann, fühlt sich mit anderen weniger verbunden, hat weniger Mitgefühl und bekommt auch weniger Hilfe von seinen Mitmenschen. Doch überraschenderweise scheint dieser Mangel unterm Strich wenig zu schaden. Denn besagte Studie zeigte auch: Wer nicht weinen kann, ist im Durchschnitt genau so glücklich oder unglücklich wie der Rest der Bevölkerung. Dasselbe gilt vermutlich auch für Tränen, die wir bewusst zurückhalten. „Es ist keine gute Idee, permanent seine Gefühle zu unterdrücken“, sagt Ad Vingerhoets. „Aber die meisten von uns weinen ja nur wenige Male pro Monat. Wenn wir die Tränen dann zurückhalten, wird das kaum unser gesamtes Wohlergehen ruinieren.“

5. Ist es ein schlechtes Zeichen, wenn man jeden Tag weinen muss?

In einer italienischen Studie wurden mehr als tausend Bewohnerinnen und Bewohner von Altenheimen danach gefragt, wie häufig sie weinen müssten. „Jeden Tag“, antworteten rund 16 Prozent von ihnen. Sollten die Betroffenen und ihre Angehörigen sich Sorgen machen? In der Studie heißt es: Die Betroffenen sehnen sich vermutlich nach menschlicher Verbindung, sind gestresst oder unglücklich.

Ad Vingerhoets kennt noch einen anderen möglichen Grund: „Manche Menschen leiden an einem Hirndefekt und brechen immer wieder in Tränen aus, ohne traurig zu sein oder sonst einen Grund dafür zu haben.“ Studien zeigen, dass diese pathologisch Weinenden sehr gut auf Antidepressiva ansprechen – dafür genügt bereits eine viel kleinere Dosis, als man üblicherweise bei einer Depression verschreiben würde. „Aber das ist eine ziemlich seltene Krankheit“, sagt Ad Vingerhoets.

6. Wie häufig weinen wir eigentlich?

Dafür hat Ad Vingerhoets mehrere tausend junge Erwachsene aus verschiedenen Ländern befragt. Männer weinen demnach viel weniger als Frauen: 6- bis 17-mal pro Jahr vergießen sie emotionale Tränen. Frauen weinen dagegen 30- bis 64-mal. Weinen wir Deutschen häufiger oder seltener als andere?

Die Antwort findet sich in dem Kleingedruckten der Studie. Unter 37 Ländern landen die deutschen Männer auf einem überraschenden fünften Platz. Lediglich in Italien, der Türkei, Brasilien und Peru weinen Männer noch häufiger als bei uns. Die deutschen Frauen schaffen es sogar auf den dritten Platz. Tränenreicher ist das weibliche Leben offenbar nur in Schweden und Brasilien. Verblüffend: Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern fallen umso größer aus, je wohlhabender, demokratischer und individualistischer eine Gesellschaft ist.

7. Was passiert im Gehirn, wenn wir weinen?

„Das würde ich auch gerne wissen“, sagt Ad Vingerhoets und lacht. „Aber ich kenne keine einzige Studie, die das im Hirnscanner untersucht hätte.“ Sein deutscher Kollege Janis Zickfeld von der Universität Aarhus in Dänemark nennt einen Grund: „Für die Erforschung emotionaler Tränen gibt es so gut wie keine Fördergelder.“ Das liege zum einen daran, dass es sich bei der Wissenschaft der Tränen um zähe Grundlagenforschung handele, und zum anderen daran, dass aus der kleinen Gemeinde der Forschenden insgesamt nur wenige Anträge gestellt würden. „Viele Fragen ließen sich klären – aber uns fehlen dafür einfach die Mittel.“

8. Wie reagieren andere, wenn wir weinen?

Tränen sind ein gutes Mittel, andere auf unsere Seite zu bekommen. Janis Zickfeld, Ad Vingerhoets und andere Forschende haben das mit folgendem Trick untersucht: Sie zeigten mehr als 7000 Freiwilligen auf der ganzen Welt eine Reihe von Porträts. Manchen Gesichtern hatte man digital Tränen auf die Wangen montiert. Und siehe da: Diese kleine Veränderung führte zu mehr Empathie, einem stärkeren Gefühl der Verbundenheit und höherer Hilfsbereitschaft. „Tränen sind sozialer Klebstoff“, sagt Janis Zickfeld.

Doch der Trick klappt nicht immer. Befragt man Menschen nach ihrer jüngsten Tränenepisode, geben rund 70 Prozent an, von ihren Mitmenschen getröstet und unterstützt worden zu sein. 16 Prozent der Befragten erlebten aber das glatte Gegenteil: Ihr Umfeld reagierte auf die Tränen mit offener Ablehnung oder gar Feindseligkeit. Woran liegt das?

Womöglich empfanden ihre Mitmenschen die Tränen als unangemessen. Man kennt das aus dem Alltag: Statt zu helfen, winken wir genervt ab und raten der oder dem anderen, sich doch bitte zusammenzureißen. Und dann sind da noch die tatsächlich oder vermeintlich geschauspielerten Tränen, von denen sich niemand gerne austricksen lässt. Dabei sind allerdings häufig Geschlechterrollenerwartungen mit am Werk. So hat eine US-Studie aus dem Jahr 2022 entdeckt, dass Männer solche Krokodilstränen völlig ungestraft vergießen dürfen. Wirklich empfindlich reagieren wir erst, wenn eine Frau vermeintlich falsche Tränen weint.

9. Sind emotionale Tränen dicker als Zwiebeltränen?

In einigen Büchern findet man folgende Behauptung: Emotionale Tränen enthielten besonders viele Proteine, flössen deshalb langsamer, blieben auf unseren Wangen lange sichtbar und erhöhten die Chance, dass andere uns helfen. Die Biochemie der emotionalen Tränen hätte also eine direkte soziale Funktion. Das ist eine hübsche Geschichte. Einziges Problem dabei: Man weiß nicht so genau, ob sie auch wirklich stimmt. „Es gibt dazu nur ein paar ältere Studien, die allesamt methodische Schwächen aufweisen“, so Janis Zickfeld. Noch fehlt also der letzte Beweis dafür, dass emotionale Tränen wirklich ein ganz anderer Saft sind als die Zwiebeltränen.

10. Was nützen Tränen, die wir allein vergießen?

Emotionale Tränen fließen vor allem vor Menschen, die uns nahestehen – oder wenn wir allein sind. Doch wenn, wie Ad Vingerhoets meint, die Macht der Tränen im Sozialen liegt – warum gehen wir dann zum Weinen in den Keller, warum also weinen wir gerade dann, wenn niemand unsere Tränen sieht?

Ad Vingerhoets glaubt, dass das Soloweinen eine „selbsttröstende“ Funktion erfüllt. Vielleicht ist es so ähnlich wie bei den pawlowschen Hunden, denen beim Klang von Glocke oder Metronom das Wasser im Mund zusammenlief, auch wenn ihnen dabei überhaupt kein Futter gereicht wurde. Entsprechend haben wir als Kinder gelernt, dass man uns hilft, wenn wir weinen. Und später stellt sich der gefühlte Trost auch dann ein, wenn gar niemand da ist, um uns zu trösten. Das gute Gefühl überkommt uns wie ein helfender Schatten aus der Vergangenheit.

11. Weinen Depressive besonders häufig?

„Bei manchen Betroffenen bewirkt eine Depression sogar die Unfähigkeit zum Weinen“, sagt Ad Vingerhoets. Ohnehin ist die Verbindung zwischen dem Weinen und einer Depression komplizierter, als man vermuten würde. So führt eine Depression bei Frauen im Durchschnitt nicht zu mehr Tränen, bei Männern aber schon. Auch eine zweite Erkenntnis aus den Studien von Ad Vingerhoets betrifft lediglich Vertreter des männlichen Geschlechts: Depressive Männer fühlen sich im Durchschnitt nicht besser, nachdem sie geweint haben. Die Verlaufskurve ihrer Stimmung verläuft messbar anders als bei nichtdepressiven Männern.

Das heißt: Eine Depression führt bei Männern dazu, dass sie mehr Tränen vergießen, die Tränen aber weniger heilsam sind. Der Rat – gerade an Männer gerichtet –, die eigene Trauer doch „endlich mal rauszulassen“, klingt zwar plausibel, scheint sein Ziel aber zu verfehlen.

12. Weinen wir, um bestimmte Giftstoffe aus dem Körper zu waschen?

Es gibt tatsächlich ein paar ältere Untersuchungen, die sich in diese Richtung interpretieren lassen. Janis Zickfeld ist jedoch skeptisch: „Man müsste diese Studien unter modernen Bedingungen wiederholen. Und außerdem: Wir verlieren beim Weinen ja nur relativ wenig Flüssigkeit. Wenn das für unseren Körper der wichtigste oder gar einzige Weg wäre, um Giftstoffe loszuwerden, wären viele von uns längst gestorben.“ Viel effektiver als über unsere Tränen erledigt unser Organismus diesen Job über Schweiß und Urin.

13. Weinen wir besonders oft vor dem Fernseher?

Eine Studie der Universität Ulm hat kürzlich ermittelt, aus welchen Anlässen wir eigentlich weinen. Wie zu erwarten spielen negative Erfahrungen eine wichtige Rolle: Wir weinen aus Einsamkeit, Überforderung oder Ohnmacht. Doch die Forschenden aus Ulm fanden noch zwei weitere Anlässe für emotionale Tränen: Manchmal weinen wir auch aus Rührung, und wenn solche Tränen trocknen, fühlen wir uns außergewöhnlich glücklich.

Am häufigsten zum Weinen rühren uns Filme, Serien oder berührende Musik. Denkbar, dass wir all die Kränkungen und schmerzlichen Momente des Alltags stumm ertragen, um dann bei einer TV-Schnulze hemmungslos die Papiertaschentücher vollzuflennen. Und vermutlich ist das eine kluge Strategie: Laut besagter Studie geht es Menschen nach diesem „medial ausgelösten Weinen“ deutlich besser als nach einer Weinattacke, die unmittelbar durch negative Gefühle allein ausgelöst wurde.

14. Wann tut das Weinen gut?

Offenbar hängt das davon ab, weshalb uns eigentlich die Tränen kommen. Weinen wir über einen Streit oder einen Konflikt, also wegen etwas, das wir einigermaßen kontrollieren und verändern können? Dann berichten Betroffene tendenziell davon, sich nach dem Weinen besser zu fühlen. Oder weinen wir wegen einer Sache, die wir nicht im Griff haben oder beeinflussen können – etwa den Verlust eines geliebten Menschen? Dann verbessern die Tränen unseren Zustand eher nicht. Oder zumindest nicht direkt. „Wenn wir wegen des Weinens Trost und Unterstützung erfahren, fühlen wir uns besser“, sagt Ad Vingerhoets. „Wenn andere wütend werden oder uns auslachen, bessert sich unsere Laune nur selten.“

15. Warum wissen wir so wenig über die Psychologie der Tränen?

All das sind interessante Ergebnisse und zugleich bleibt ein fader Beigeschmack. Tränen sind die Flüssigkeit, aus der Kunst, Musik und Literatur seit je ihre berauschenden Cocktails mixen. Was hingegen die Psychologie bislang zur Aufklärung beitragen kann, ist ernüchternd dünn. Woran liegt das? Ad Vingerhoets zuckt mit den Achseln. „Die Erforschung des Weinens ist ein ziemlich einsamer Job“, sagt er. Die psychologische Beforschung emotionaler Tränen fristet ein unverdientes Schattendasein.

Die Tränen des Therapeuten

Darüber wundert sich auch Cord Benecke von der Universität Kassel, einer der wenigen deutschen Hochschullehrer mit psychoanalytischer Ausbildung. Er selbst habe in seiner Lehranalyse „sehr viel geweint“, verrät er im Gespräch. „In der Psychotherapieausbildung lernt man aber nichts über das Weinen, was vollkommen absurd ist.“ Denn die größten Alltagsexperten für das Weinen sind seiner Meinung nach „Pfarrer, Bestattungsunternehmer und Psychotherapeuten“.

Seit Jahren sammelt Benecke deshalb Videoaufzeichnungen psychotherapeutischer Sitzungen. „Mehrere Generationen von Bachelor- und Masterleuten“ hätten die Filme bereits gesichtet. Welche Formen des Weinens gibt es eigentlich? Was machen die Therapeutinnen und Therapeuten, bevor geweint wird? Wie reagieren sie darauf? Sind Tränen vielleicht ein Anzeichen für einen späteren Behandlungserfolg? Noch haben Cord Benecke und seine Studierenden nur wenige dieser Fragen beantwortet. Zum Beispiel: dass Therapeutinnen und Therapeuten je nach Diagnose ganz anders auf Tränen reagieren. Bei einer Angststörung fragen sie neugierig nach. Bei einer Depression reichen sie lediglich Taschentücher. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass ihnen diese Tendenz gar nicht bewusst ist“, sagt Cord Benecke.

Insgesamt begreift Benecke das Weinen als einen „Lötvorgang in der Psyche“. Man hat etwas oder jemanden verloren und fühlt innerlich den Schmerz über den Verlust. Tränen fungieren dabei wie das flüssige Lötzinn, das den Verlust und den inneren Schmerz darüber miteinander verbindet. „Man findet dadurch einen inneren Platz dafür und kann gut damit weiterleben.“

Und was ist mit seinen eigenen Tränen als Psychotherapeut? „Die allermeisten Therapeutinnen und Therapeuten haben schon einmal während einer Sitzung geweint“, sagt er. Auch ihm selbst sei das schon widerfahren. „Da musste ich einer Patientin sagen, dass ich in eine andere Stadt ziehe und wir nicht weiter miteinander arbeiten können.“ Sein Supervisor habe ihn damals ausgeschimpft. Heute hält Benecke solche Tränen aber für angemessen.

„Natürlich soll man nicht die ganze Zeit flennen. Aber meiner Ansicht nach ist es sicherlich ein Wirkfaktor, wenn man zeigt, dass man selbst auch emotional betroffen ist.“ Ist ein weinender Therapeut also ein hilfreicher Therapeut? Cord Benecke seufzt. Einen handfesten empirischen Beleg dafür hat noch nicht. Im nächsten Jahr wird er 60 Jahre alt. „Dann will ich mich diesen Fragen intensiver widmen“, sagt er. „Es ist mein Herzensprojekt.“

Quellen

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Janis Zickfeld u.a.: Tears evoke the intention to offer social support: A systematic investigation of the interpersonal effects of emotional crying across 41 countries. Journal of Experimental Social Psychology, 95, 2021, 104137

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Alvisa Palese, Arianna Simeoni, Antonio Ranieri Zuttion, Barbara Ferrario, Sandra Ponta, Elisa Ambrosi: Daily crying prevalence and associated factors in older adult persons living in nursing homes: findings from a regional study, International Journal of Geriatric Psychiatry, 33/1, 2018, e85–e93

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Asmir Graanin, Lauren Bylsma, Ad Vingerhoets: Is crying a self-soothing behavior? Frontiers in Psychology, 5, 2014, 502

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Dianne van Hemert, Fons van de Vijver, Ad Vingerhoets: Culture and Crying: Prevalences and Gender Differences. Cross-Cultural Research, 45/4, 2011, 399–431

Cord Benecke: Lachen, um nicht zu weinen. Psychotherapeut, 54, 2009, 120–129

Jonathan Rottenberg, Annemarie Cevaal, Ad Vingerhoets: Do mood disorders alter crying? A pilot investigation. Depression and Anxiety, 25/5, 2008, S. E9-E15

Lauren Bylsma, Ad Vingerhoets, Jonathan Rottenberg (2008): When is crying cathartic? An international study. Journal of Social and Clinical Psychology, 27/10, 2008, 1165–1187

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2024: Meine Grenzen und ich