Der sanfte Querdenker

Simon Baron-Cohen gehört zu den bekanntesten, aber auch kontroversesten Autismusforschern. Autismus ist für ihn eine sehr persönliche Angelegenheit.

Die Illustration zeigt eine rote Person, die nachdenklich auf einem Felsen im Meer ganz allein sitzt
Ist Autismus die extremste Form des „männlichen“ Gehirns? © Erhui1979/Getty Images

Man muss Simon Baron-Cohen nicht lange bitten, über sein „Graduierte-Eltern-Projekt“ zu sprechen. Die Chance, auf diese Weise Psychologie Heute-Leser als Probanden für die Onlinestudie zu gewinnen, lässt sich der Wissenschaftler nicht entgehen: „Wir bitten alle Mütter und Väter, die einen Universitätsabschluss haben, zu unserer Website www.cambridgepsychology.com zu kommen und ein paar einfache Fragen über die Entwicklung ihres Kindes zu beantworten. Wenn wir dann genügend Daten haben, können wir…

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zu beantworten. Wenn wir dann genügend Daten haben, können wir untersuchen, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Studienfach der Eltern und der Wahrscheinlichkeit, ein Kind mit Autismus zu haben, gibt.“ Baron-Cohen vermutet, dass Absolventen von Fächern, in denen es um Systeme und die unbelebte Welt geht, beispielsweise Mathematik, Ingenieur- oder Computerwissenschaften, ein höheres Risiko als andere haben: „Wir denken, dass eine Neigung oder ein Talent für diese Fächer möglicherweise Teil der Erbanlage von Familien mit autistischen Kindern ist.“

Mehr noch: Die Tatsache, dass heute mehr Frauen in technischen und mathematischen Berufen arbeiten und am Arbeitsplatz ähnlich gestrickte Partner finden, könnte möglicherweise den dramatischen Anstieg von Diagnosen im autistischen Spektrum, also Autismus und Aspergersyndrom, bei Kindern erklären. Es ist eine gewagte Theorie. Doch der 55-Jährige hat sich noch nie gescheut, ungewöhnlichen Hypothesen nachzugehen.

Seine „exzentrischen“ Ideen, wie er sie selbst nennt, haben Baron-Cohen zu einem der bekanntesten, aber auch umstrittensten Vertreter seines Fachgebietes gemacht. „Der einsame Wolf der Autismusforschung“, „kreativer Rebell“, „Held der Populärwissenschaften“, „rotes Tuch für Feministinnen“ – die Medien werden nicht müde, schillernde Beschreibungen für den umtriebigen Wissenschaftler zu finden. Doch im Gespräch wird klar, dass es ihm nicht darum geht, zu provozieren. Was ihn treibt, sind ein sehr persönlicher Draht zu Betroffenen und die Überzeugung, dass man wissenschaftliche Probleme nur mit nüchterner Distanz lösen kann.

Bringen IT-Beschäftigte mehr autistische Kinder zur Welt?

Wenn man Simon Baron-Cohen das erste Mal trifft, fällt einem zunächst auf, wie sanft er ist. Der großgewachsene Brite spricht mit leiser Stimme und strahlt eine angenehm unaufdringliche Warmherzigkeit aus. Man würde nicht denken, dass er der Cousin des schrillen Komikers Sacha Baron Cohen ist. Irgendwie passt er gut in das ruhige und ehrwürdig wirkende Trinity College im englischen Cambridge, wo er ein Büro mit Blick auf einen grünbewachsenen Innenhof inmitten von alten Gemäuern hat. Zehn Autominuten entfernt liegt das Autism Research Centre der Universität Cambridge, dessen Direktor Baron-Cohen ist. Es bringt an Autismus interessierte Wissenschaftler der Universität zusammen und kooperiert mit anderen Hochschulen. An vielen Projekten des Instituts ist Baron-Cohen persönlich beteiligt. Seine Veröffentlichungen erregen oft große Aufmerksamkeit.

Auch eine 2011 publizierte Studie über die erhöhte Zahl von autistischen Kindern in Eindhoven machte Schlagzeilen. Zusammen mit Kollegen hatte Baron-Cohen untersucht, inwieweit in „Hollands Silicon Valley“, wo rund ein Drittel aller Erwachsenen in Hightechjobs arbeitet, mehr autistische Kinder wohnen, als in Haarlem und Utrecht. Die Wissenschaftler werteten Daten von 369 Schulen mit mehr als 62 500 Schülern zwischen 4 und 16 Jahren aus. In der Tat lag die Zahl der als autistisch diagnostizierten Kinder in Eindhoven um ein Vielfaches höher als in den anderen beiden Städten (229 im Vergleich zu 57 beziehungsweise 84 Diagnosen pro 10 000 Kinder). Durch sozioökonomische oder andere Faktoren ließ sich dies nicht erklären. Doch viele Autismusforscher zeigten sich nicht überzeugt. Wirklich schlüssige Belege, warnten sie, stünden noch aus.

Es ist nicht schwierig, Baron-Cohen nach solchen Vorbehalten zu fragen. Defensives Verhalten und Dogmatismus scheinen ihm fremd. Er zeigt Verständnis für die Zurückhaltung von Kollegen: „Von allen Theorien, an denen ich gearbeitet habe, ist diese in mancherlei Hinsicht die am wenigsten erforschte.“ Auch die Studie in Holland, räumt er ein, sei nur ein indirekter Hinweis, denn sie zeige nicht, ob die Eltern der autistischen Kinder tatsächlich IT-Fachleute sind. „Die Beweislage ist noch recht dünn.“ Bislang sei die assortative mating-Theorie nur eine interessante Idee. Man müsse sie testen, und egal welche Resultate sich auch immer zeigten, sei das in Ordnung.

Ein Jahr an einer Sonderschule für Autisten führte Baron-Cohen zur Autismusforschung

Das Phänomen Autismus beschäftigt Baron-Cohen seit mehr als drei Jahrzehnten, buchstäblich sein ganzes Berufsleben lang. Aufgewachsen ist Baron-Cohen in London. Sein Vater, Sohn einer jüdischen Einwandererfamilie aus Polen, arbeitete im gut gehenden Bekleidungsunternehmen des Klans. „Mein Großvater war ursprünglich ein Schneider, eine gute Möglichkeit für arme Immigranten, Fuß zu fassen, denn alles, was man brauchte, war eine Nähmaschine“, erklärt Baron-Cohen. Seine kanadische Mutter dagegen kam aus einem akademisch orientierten Elternhaus. Ein Onkel von ihr, der Wissenschaftler und Endokrinologe Robert Greenblatt, war für Simon ein Rollenmodell. Nach der Schule beschloss er, an der Universität von Oxford Humanwissenschaften zu studieren. Doch nach dem Abschluss wusste er nicht, was tun. „Wie die meisten jungen Leute“, erinnert er sich, „hatte ich keine Ahnung, welche Richtung ich einschlagen sollte.“ Das änderte sich schlagartig, als sich der damals 23-Jährige bei einer Sonderschule für autistische Kinder im Norden von London bewarb.

Der Begriff Autismus war den meisten Leuten damals nicht geläufig. „Wenn man von autistischen Kindern sprach“, erzählt Baron-Cohen, „verstanden viele ‚artistic‘ (künstlerisch).“ Aber nicht nur wegen ihrer Schüler war die Schule ungewöhnlich, sondern auch wegen der Art des Unterrichts. „Es gab nur sechs Schüler und ebenso viele Lehrer. In jedem Klassenraum war eine Videokamera installiert, und jede Interaktion zwischen Lehrer und Kind wurde gefilmt. Am Ende jedes Tages saßen wir im Lehrerzimmer und sahen uns alle Videos an, um herauszufinden, was gut geklappt hatte und was nicht. Wenn ein Schüler einen Wutanfall hatte oder wenn eine Stunde sehr gut verlaufen war, konnten wir das Video zurückspulen und sehen, was die Störung beziehungsweise den guten Fortschritt verursacht hatte. Das Ziel war, systematisch Belege zu sammeln. Obwohl die Ausrichtung der Schule psychoanalytisch war, ging man sehr experimentell und empirisch vor. Es war eine wirklich prägende Erfahrung für mich.“ Noch heute, 30 Jahre später, steht Baron-Cohen in Verbindung mit den Schülern und Familien, die er damals so intensiv kennenlernte. Der Kontakt ist ihm wichtig: „Die Kinder von damals als Erwachsene zu sehen, zeigt mir, ob sie das Potenzial, das sie haben, ausschöpfen können.“

Am Ende des Jahres in der Sonderschule stand seine Entscheidung fest: Er wollte im Bereich Autismus promovieren. So bewarb er sich bei der deutschen Kognitionspsychologin Uta Frith am University College London, einer der wenigen Wissenschaftler in England, die sich damals mit Autismus befassten. Die heute 72-jährige emeritierte Professorin kann sich noch gut an ihren jungen Doktoranden erinnern: „Simon war hochintelligent und außerordentlich begabt“, erzählt sie bei einem Telefonat. „Aber was ihn vor allem von anderen abhob, war seine wunderbare Art, mit autistischen Kindern umzugehen, die Bereitschaft, sich selbst auf sehr persönliche Weise einzubringen.“ Das war ein großes Plus für die wissenschaftliche Arbeit. „Simon hat etwas“, verrät die Doktormutter, „was man bei Gärtnern einen grünen Daumen nennt. Bei ihm sind die Experimente immer gelungen.“

Autismus als „Extremform des männlichen Gehirns“?

Zusammen mit Kollegen führte Baron-Cohen bahnbrechende Arbeiten durch, in denen er nachwies, dass sich bei autistischen Kindern die sogenannte theory of mind (TOM) verzögert oder unzureichend entwickelt und sie sich deshalb nur schwer in die Gedanken und Gefühle anderer hineinversetzen können. Das TOM-Konzept war gerade erst im Entstehen, und Baron-Cohen brachte es mit seinen Beobachtungen in der Sonderschule zusammen. Es stellte sich als ein sehr fruchtbares Forschungsgebiet heraus. Den größten Teil der 1980er und 1990er Jahre brachte er damit zu, die sozialen und kommunikativen Schwierigkeiten von Autisten zu erforschen, die sich gut mit der TOM-Hypothese erklären ließen.

Doch irgendwann war Baron-Cohen das nicht mehr genug. Er fand, es sei Zeit, sich anderen, bis dahin vernachlässigten Symptomen des Autismus zuzuwenden: den Obsessionen, der Vorliebe für unbelebte Objekte, den engen Interessen, den Schwierigkeiten, mit Veränderungen umzugehen. Auch die Tatsache, dass viermal mehr Jungen als Mädchen von Autismus betroffen sind, schien ihm eine genauere Exploration wert zu sein. So begann er mentale und neurobiologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu untersuchen. Männer, postulierte er, seien tendenziell mit einem Gehirn ausgestattet, das die Welt überwiegend systematisierend begreift, während Gehirne von Frauen eher mehr auf Empathie ausgerichtet sind. Autismus erklärte er als Ausdruck einer „Extremform des männlichen Gehirns“, die wiederum ihren Ursprung in einem übermäßig hohen Testosteronspiegel beim Fötus haben könnte. In einem 2003 veröffentlichten populärwissenschaftlichen Buch (die deutsche Übersetzung Vom ersten Tag an anders. Das weibliche und das männliche Gehirn erschien 2004) machte er seine Thesen auch einem breiteren Publikum bekannt.

Es war gefährliches Terrain, das der Autismusforscher da betrat. Insbesondere von Feministinnen wurde er heftig attackiert. Viele sahen es wie die Philosophin Christine Zunke, die ihm in der Zeitschrift Forum Wissenschaft vorwarf, Sexismus biologisch erklären zu wollen. Auch wissenschaftlich war es ein Risiko. „Die Idee des extremen männlichen Gehirns ist zwar sehr interessant“, so Doktormutter Uta Frith, „musste über die Jahre aber sehr modifiziert werden. Simon hat hart gearbeitet, um empirische Belege zu liefern. Es wäre gut, wenn andere Forscher die Tests replizieren würden, aber irgendwie hat die Idee bei anderen nicht so gefruchtet. Wahrscheinlich ist es eine zu krasse Theorie.“ Auch mit seinen anderen Thesen habe er viel gewagt, meint Frith. „Ich persönlich hätte mich mehr zurückgehalten. Und ich hätte ihn gebremst, wenn ich mehr Einfluss gehabt hätte.“ Das sei aber eine Frage des persönlichen Stils: „Es gibt Leute, die riskieren mehr, andere sind ängstlicher. Vielleicht hat er manchmal zu viel gewagt.“ Als Kritik will sie das nicht verstanden wissen: „Es ist eine völlig akzeptable Methode, denn er ist auch bereit zurückzugehen. Er klebt nicht dogmatisch an Ideen.“

„Er ist brillant, wenn es darum geht, neue Forschungsideen zu entwickeln“

Die Bereitschaft, sich intellektuell weit aus dem Fenster zu lehnen, unterscheidet Baron-Cohen von vielen seiner Kollegen. Und das ist ihm selbst natürlich bewusst: „Meine Arbeit fängt oft mit Ideen an, die von anderen als exzentrisch, abwegig oder nebensächlich wahrgenommen werden.“ Was die Forschung zu Männer- und Frauengehirnen angeht, interessierte er sich „nicht in erster Linie für die Unterschiede zwischen den Geschlechtern an sich, sondern für die ins Auge stechende Tatsache, dass Autismus so viel mehr Jungen als Mädchen betrifft. Andere Wissenschaftler haben das einfach ignoriert. Das hat mich praktisch gezwungen zu fragen, wie das Wissen über allgemeine Geschlechterunterschiede zum Verständnis dieser unausgewogenen Relation beitragen kann.“ Seinen Ausflug in dieses heikle Forschungsgebiet bereut er nicht: „Ich war ziemlich besorgt, dass ich eine Menge von Attacken erleben würde. Jetzt bin ich froh, dass ich es gewagt habe, denn ich habe eine Menge gelernt.“ Die extreme male brain-Theorie hat er keineswegs fallengelassen. In einer kürzlich im Magazin Brain veröffentlichten, auf bildgebenden Verfahren basierenden Studie beispielsweise haben er und seine Kollegen neue Erkenntnisse zu neuroanatomischen Unterschieden bei männlichen und weiblichen Autisten gewonnen.

Unter Autismusforschern genießt Baron-Cohen hohes Ansehen – ganz abgesehen davon, dass es schwer sein dürfte, jemanden zu finden, der ihn nicht als äußerst netten und einfühlsamen Menschen beschreibt. Aber es gibt durchaus auch kritische Stimmen. „Viele Kollegen schätzen ihn wie ich sehr“, weiß Uta Frith, „andere haben ein gewisses Misstrauen. Bei manchen hat er den Ruf, zu oberflächlich zu sein, aber das ist leicht gesagt bei so großen und weitreichenden Theorien. Neid ist vielleicht auch dabei.“ Er sei nicht einer jener Wissenschaftler, die sich für die Feinheiten einer statistischen Analyse begeistern können, meint Rosa Hoekstra von The Open University, Milton Keynes, die an der Hollandstudie und anderen beteiligt war. „Aber er ist brillant, wenn es darum geht, neue Forschungsideen zu entwickeln und die Implikationen einer empirischen Studie zu diskutieren. Dann sprühen die intellektuellen Funken. Deshalb mag ich es so, mit ihm zusammenzuarbeiten.“ Sven Bölte, Professor für kinder- und jugendpsychiatrische Wissenschaft am Karolinska Institutet in Stockholm, kennt Baron-Cohen aus diversen Gremien und lobt ihn als „sehr kreativ und originell“. Er sei ein brain teaser, jemand, der die Leute zum Nachdenken anstiftet und zu dessen Arbeiten sie eine klare Meinung haben. Manche in der Forschergemeinschaft fänden, dass seine Thesen etwas populistisch wirkten. „Aber ich empfinde seine Arbeit als sehr inspirierend und spreche auch in meinen Vorlesungen viel darüber.“ Die Daten könnten zwar bisher manche Thesen nicht vollständig unterfüttern, aber das sei bei anderen Wissenschaftlern auch nicht anders: „Weil er so bekannt ist und potenziell kontroverse Themen nicht scheut, ist er stärker der Kritik ausgesetzt. Und seine Theorien sind außerordentlich komplex und deshalb schwer zu testen.“ Wenn Bölte einen Kritikpunkt hat, dann den, dass sein Kollege die Evidenzlage manchmal etwas zu einseitig skizziert: „Es würde der Sache guttun, wenn er mehr inkonsistente Belege erwähnen würde.“ Insgesamt aber habe er großes Vertrauen in die Qualität von Baron-Cohens Arbeit. „Es bräuchte in der Community mehr Querdenker wie ihn, die etwas wagen“, ist er überzeugt. „Eine zu konservative Haltung kann die Forschung auch behindern.“

Nicht konservativ, aber hartnäckig

Konservativ ist Baron-Cohen sicher nicht, hartnäckig aber schon. Als er Ende der 1990er Jahre angefangen hat, den Zusammenhang zwischen einem hohen pränatalen Testosteronspiegel und Autismus zu untersuchen, sind viele Leute der Meinung gewesen, das sei irrelevant. „Aber heute, 16 Jahre später, gibt es eine ausgedehnte Evidenzbasis, die man nicht leicht ignorieren kann“, so Baron-Cohen. Gerade steht eine weitere Studie kurz vor der Veröffentlichung, die auf umfangreichen Daten der Dänischen Nationalen Biobank basiert. Zehntausende Proben von Fruchtwasseruntersuchungen haben erlaubt, die Korrelation zwischen fötalem Testosteron und Diagnosen im autistischen Spektrum direkt zu testen. Dies sei momentan der spannendste Teil seiner Arbeit, bemerkt er, und man spürt, wie sehr er sich trotz seiner nüchternen Herangehensweise auch begeistern kann.

Inwieweit das „Graduierte-Eltern-Projekt“ konsistente Belege für die assortative mating-Theorie liefern wird, bleibt abzuwarten. Noch hat Baron-Cohen nicht genug Daten zusammen: „Unser Ziel sind mehrere tausend Teilnehmer.“ Doch er hofft, in einigen Monaten Resultate vorweisen zu können. Man wird von ihm hören, daran kann kein Zweifel bestehen, ob mit dieser Studie oder einer anderen.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2014: Konzentration