PSYCHOLOGIE HEUTE Sie haben, so schreiben Sie in Ihrem Buch Geben und Nehmen, einen „revolutionären Ansatz“ gefunden, um Karriere zu machen. Ist das nicht ein sehr großes Versprechen?
ADAM GRANT Das mag sein, aber, ganz klar, ich stehe dahinter.
PH Und das Revolutionäre ist: Man kann auch als gebender Mensch, sozusagen als guter Mensch an die Spitze von Unternehmen oder Organisationen oder was auch immer kommen?
GRANT Genau so ist es. Das ist das Ergebnis jahrelanger Forschungen, was mich wirklich überrascht…
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kommen?
GRANT Genau so ist es. Das ist das Ergebnis jahrelanger Forschungen, was mich wirklich überrascht hat. In meinen drei Lieblingsstudien wurden beispielsweise Hunderte Ingenieure, Medizinstudenten und Verkäufer untersucht. Meine Kollegen und ich haben uns einerseits angesehen, wer die besten Leistungen abliefert. Andererseits haben wir beurteilt, wer anderen mehr hilft, als ihm geholfen wird. Die Ergebnisse waren beeindruckend. Viele Medizinstudenten mit den besten Leistungen halfen anderen viel öfter als umgekehrt – und genossen das auch noch. Statistisch gesehen war der Zusammenhang zwischen Gutmenschentum und Erfolg größer als zwischen Zigarettenkonsum und dem Risiko, Lungenkrebs zu bekommen. Ähnlich gestalteten sich die Resultate der beiden anderen Studien.
PH Das Leben, glauben wir zumindest, lehrt uns aber eigentlich eine andere Lektion: Beruflich erfolgreiche Leute sind hochmotiviert, begabt, fleißig, haben das nötige Glück – und sind vor allem selbstsüchtig.
GRANT Das dachte ich auch. Und klar: An der Spitze stehen oft solche Typen. Fakt ist aber auch: Unter bestimmten Bedingungen schaffen es auch gebende Menschen nach ganz oben. Sie fallen nur nicht gleich auf. Wir haben den Erfolg dieser Menschen unterschätzt. Unter den Gebenden existiert eine Gruppe von Menschen, die ihre Eigenschaft auf eine ganz bestimmte Weise kultivieren.
PH Sie teilen die Menschen in drei Kategorien ein: Die, die so viel wie möglich von anderen nehmen und nichts zurückgeben, weil sie meinen, das sei der einfachste Weg, um voranzukommen. Die, die nach dem Prinzip „wie du mir, so ich dir“ handeln und die Sie als „Matcher“ bezeichnen; sie merken sich, wer ihnen wann geholfen hat und umgekehrt. Und dann gibt es die dritte Gruppe, eben die, die mehr gibt, als sie empfängt.
GRANT Auf dieses grundlegende Muster weisen die Forschungsergebnisse der vergangenen Jahre hin, und zwar in allen darauf hin untersuchten Kulturen weltweit. Es scheint universell zu sein. Selbst in einem afrikanischen Stamm, dessen Mitglieder kaum mit der Zivilisation in Berührung gekommen sind, finden Sie diese drei Arten des Umgangs. In der Arbeitswelt hat zuerst mein Kollege Richard Huseman die drei Stile nachgewiesen – in einer Studie, in der es darum ging, wie Leute auf Gehaltskürzungen oder Gehaltserhöhungen von Kollegen reagieren. Margaret Clark hat die Kategorien auch innerhalb privater Liebesbeziehungen beschrieben. Dabei ist es so, dass eigentlich Nehmende und Matcher zuweilen einen gebenden Stil annehmen, wenn sie eine Partnerschaft mit einem Gebenden eingehen. Unter bestimmten Umständen handelt es sich offenbar in gewissen Grenzen um ein flexibles Verhalten.
PH Was ist dieses Gebertum eigentlich, psychologisch gesehen? Ein Charaktermerkmal?
GRANT Man kann es als Kennzeichen des Charakters sehen. In dem Sinne, dass es Menschen gibt, die in allen oder den meisten Lebensbereichen Gebende sind – im Beruf, in Partnerschaften, in ihrer Freizeit. Meist aber hängt es vom Lebensbereich ab: Sie können zu Hause ein Gebender sein und im Job ein Nehmender oder ein Matcher. Es kann von Situation zu Situation variieren.
PH Was ist denn konkret mit Geben gemeint?
GRANT Das Geben, um es klar zu sagen, bezieht sich nicht darauf, dass jemand Geld spendet oder so. Es bezieht sich auf konkrete Hilfeleistungen: sein Wissen zu teilen, als Mentor zu fungieren, ohne dass man eine Gegenleistung erwartet. Dafür ist das berufliche Umfeld ideal geeignet. Das Problem aber ist: Üblicherweise geben die meisten Leute am Arbeitsplatz erst etwas, wenn sie schon erfolgreich sind. Auf dem Weg dahin sparen sie sich ihre Geberqualitäten auf für Familie, Freunde und Freiwilligendienste in ihrer Freizeit. So werden im Job die meisten Menschen zu Matchern.
PH Aber wie viele Gebende bewegen sich dann im beruflichen Umfeld?
GRANT Das hängt ab von der Branche und von der Kultur. Nach meinen Studien würde ich sagen: Die Matcher stellen mit durchschnittlich 45 bis 50 Prozent die Mehrheit. Knapp 30 Prozent sind Nehmende. Der Rest, also etwa 20 bis 25 Prozent, sind mehr oder weniger Gebende. Aber das sind nur ungefähre Zahlen. Nun könnte einem der gesunde Menschenverstand sagen: Die puren Nehmer schaffen es nicht oft an die Spitze, weil sie rücksichtslos ihren eigenen Weg gehen und Brücken zu anderen Leuten abbauen. Und dass die Gebenden es sowieso nicht schaffen, weil sie sich immer ausnutzen lassen. So müssten es vor allem die Matcher sein, die es packen, weil sie so großzügig sind wie die Geber, aber gleichzeitig ihre eigenen Interessen wahren. Aber genau das geben die Forschungsergebnisse nicht her. An der Spitze sind zwei Gruppen überrepräsentiert: die Nehmenden und die Gebenden.
PH Dass es die Nehmer schaffen, lässt sich ja nachvollziehen. Aber wie erklären Sie sich den Erfolg der Gebenden?
GRANT Nun, erst einmal kommen da die Matcher ins Spiel. Ein Matcher glaubt an eine Welt, die irgendwie gerecht und ausgeglichen ist: Ich tue dir einen Gefallen, dafür revanchierst du dich irgendwann! Selbstverständlich verletzt ein Nehmender diese Prinzipien. So missfällt es den Matchern, wenn ein Nehmender vorankommt, indem er andere Leute nur ausnutzt. Die Forschung sagt uns, dass die Matcher die Nehmenden unter solchen Umständen bestrafen, oft indem sie Gerüchte streuen und dem Ansehen der betreffenden Personen schaden. In gleichem Maße stört es die Matcher, wenn Gebende für ihre Leistungen nicht belohnt werden. Solche Prozesse wiederum befeuern eine Dynamik, die zum Aufstieg von so manchem Gebenden führten.
PH Das allein kann es aber doch nicht sein, dass die Gebenden allein vom Wohlwollen oder Gerechtigkeitssinn der Matcher an die Spitze gespült werden. Abgesehen davon, dass viele Gebende ausgenutzt werden und ganz unten bleiben.
GRANT Ja, es steht außer Zweifel, dass viele der Gebenden nicht vorankommen. Sie bleiben stecken – platt gesagt, weil sie meinen, sie müssten wie Gandhi oder Mutter Teresa allen helfen, und das am besten die ganze Zeit. Das ist der erfolglose Teil der Gebenden, zumindest wenn man es im beruflichen Sinne betrachtet. Diese Menschen reiben sich als wahre Altruisten wirklich auf, lassen alles stehen und liegen, um zu helfen, und kommen zu nichts. Sie werden häufig von anderen für ihre Zwecke missbraucht. Ich habe das wieder und wieder in meinen eigenen Forschungen beobachtet, dass es diesen Leuten fast unmöglich erscheint, ihre eigenen Interessen zu vertreten. Langfristig gesehen, das ist interessant, können sie anderen dann nicht mehr helfen, weil ihnen aufgrund vieler schlechter Erfahrungen die Energie ausgeht (siehe auch Heft 8/2012: Fragwürdige Nächstenliebe).
PH Diese Menschen hat man für gewöhnlich vor Augen, wenn es um Geben und Helfen geht.
GRANT Genau. Die Gebenden, von denen ich spreche, machen vieles entscheidend besser, obwohl ihre Motive ähnlich sind. Auch sie wollen helfen. Sie entwickeln aus ihrer Neigung eine bewusste Strategie und denken darüber nach, wem sie wann am besten nutzen können. Sie sind dabei sehr produktiv. Eines der besten Konzepte in dieser Hinsicht, die mir bei meiner Recherche begegnet sind, ist der Fünfminutengefallen. Anstatt die ganze Zeit behilflich zu sein, sagen sich die Gebenden, die ihn anwenden: „Kann ich einer anderen Person etwas anbieten, das ihr erheblich nutzen würde, das mich aber nur fünf Minuten meiner Zeit kosten würde?“ Es geht also um effektives Helfen: möglichst geringer Aufwand bei möglichst hohem Nutzen.
PH Netzwerke sind in der heutigen Arbeitswelt kaum zu überschätzen. Inwieweit sind die Gebenden gute Netzwerker?
GRANT Sie sind keine guten, sie sind exzellente Netzwerker. Wenn wir die zwei Kriterien betrachten, mit denen wir ein soziales Netzwerk üblicherweise bewerten – Größe des Netzwerks und die Tiefe der Beziehungen –, schneiden diese Menschen am allerbesten von allen ab. Das liegt zum einen daran, dass sie vielen unterschiedlichen Menschentypen helfen. Wenn sie jemanden treffen, loten sie aus: „Wie kann ich das Leben dieses Menschen bereichern, und wie könnte ich ihm möglicherweise nutzen?“ Sie stecken also eine Menge guten Willen in soziale Beziehungen, wovon diese profitieren. Und sie haben einen so guten Ruf, dass andere leichter auf sie zugehen. Auch Nehmer verfügen über breite Netzwerke. Warum? Wenn sie mal wieder verbrannte Erde hinterlassen haben, suchen sie sich gezielt neue Leute, von denen sie profitieren können. Die Netzwerke der Matcher sind am kleinsten. Typischerweise interagieren sie nur mit Menschen, die ihnen in der Vergangenheit geholfen haben oder von denen sie erwarten, dass sie ihnen in Zukunft helfen können.
PH Zeichnen sich die Gebenden an der Spitze durch eine andere Philosophie aus als die Nehmer oder die Matcher?
GRANT Allerdings! Sie loten aus, wie sie auch in ihren Führungspositionen andere erfolgreicher machen können. Steigt ein Gebender auf, geht es für etliche andere mit nach oben. Die aufgestiegen Gebenden wollen, dass sich ihr Erfolg multipliziert, was ihnen langfristig in jedem Falle nutzt. Infolgedessen habe ich festgestellt, dass Gebende sich für gewöhnlich länger an der Spitze halten als pure Egoisten. Obwohl sie am Anfang in ihrer Art auch Rückschlage einstecken müssen.
PH Rückschläge sind ein gutes Stichwort. Ist es nicht gefährlich, ein Geber zu sein, angesichts der vielen Nehmer?
GRANT Selbstverständlich! Aber meist nur für diejenigen Geber, die ihre Eigenschaft nicht strategisch umsetzen. Menschen aus dieser Gruppe, das habe ich klar gesehen, haben ein erhöhtes Risiko, einen Burnout zu erleiden. Auf der anderen Seite sehen wir bei den strategisch Gebenden, wie dieser Lebensstil Kraft und Energie verleiht. Das Geben feuert sie regelrecht an, statt sie auszubrennen. Das kann nur daran liegen, dass sie Grenzen setzen. Dass sie zum Beispiel sagen: Ich helfe in den Vormittagsstunden an zwei oder drei Tagen in der Woche, und im Rest der Zeit bekomme ich meine Arbeit gebacken.
PH Was raten Sie Menschen, die versuchen wollen, strategisch Gebende zu werden?
GRANT Die erste Frage, die man sich stellen sollte, lautet: Was ist mein eigener Stil? Auf meiner Homepage (www.giveandtake.com) habe ich ein paar Fragen vorbereitet, die bei dieser Einschätzung helfen können. Damit verbunden ist die selbstkritische Frage: Wie behandele ich andere Menschen überwiegend? Bei der Beantwortung ist es wichtig, sich zu spiegeln oder viel besser noch: sich von anderen spiegeln und beurteilen zu lassen. Der zweite Ratschlag, der sich aus Studien und meinen Beobachtungen ergibt: Konzentrieren Sie Ihren Drang zu helfen auf bestimmte Bereiche und ihre besten fachlichen Expertisen. Viele Gebende haben sich gerade das noch nie klargemacht und wissen gar nicht, wo genau sie anderen am effektivsten helfen können. Manche Leute sind am besten darin, andere zu vernetzen. Manche eignen sich besser als Mentor in bestimmten Bereichen. Und so weiter. Fragen Sie andere Leute: „Was glaubst du, auf welchen Gebieten bin ich besonders hilfreich?“ Fragen Sie sich auch, welche Art der Hilfe Sie am meisten befriedigt. Und legen Sie zumindest weitgehend feste Zeiten fest, an denen Sie helfen, und seien Sie darin einigermaßen konsequent.
PH In einem Unternehmen finden sich ja alle drei Typen. Wäre es von Vorteil, wenn es mehr Gebende gäbe?
GRANT Ein Geber zu sein, dient oft nicht nur dem eigenen Erfolg. Wir wissen inzwischen ziemlich sicher, dass diese Typen auch eine Firma erfolgreicher und produktiver machen können. Das bestätigt eine aktuelle Studie, in der 3600 Unternehmen beleuchtet wurden. Je mehr sich die Mitarbeiter engagierten und ihren Kollegen halfen, desto mehr entwickelte sich der Profit und desto zufriedener waren die Kunden.
PH Wie können Unternehmen und Organisationen den Gebenden helfen, ihre guten Impulse produktiv einzusetzen?
GRANT Sie sollten zuallererst ein Klima schaffen, das ihre Mitarbeiter ermutigt, Hilfe zu suchen. Wir alle brauchen von Zeit zu Zeit Hilfe, trauen uns aber oft nicht, darum zu bitten, weil wir uns dadurch verletztlich und inkompetent fühlen. Das gilt ganz besonders für die Gebenden selbst, die sich häufig schlecht fühlen, wenn sie selbst um Rat bitten wollen und in ihren Augen zu Nehmenden werden. Sie denken dann oft, sie nutzen jemanden aus, was de facto selten so ist. Ein Klima, das die Mitarbeiter ermutigt, nach Hilfe zu suchen, würde dieser Gefahr begegnen – und den Weg zum Erfolg für Gebende erleichtern. Hinzu kommt: Da draußen sind jede Menge Gebende, die nicht einen Schimmer davon haben, wer optimalerweise von ihrer Hilfe profitieren könnte. Sie wissen nicht, was andere wirklich brauchen. Sinnvoll wären Marktplätze in Unternehmen, wo Hilfesuchende Rat finden.
PH Nun ist die Welt ja so, wie sie ist, voll mit Blendern allenthaben. Wie lässt sich denn ein Nehmer erkennen, der sich als Geber tarnt?
GRANT Das ist eines meiner Lieblingsthemen! Es gibt eine alte Regel, die noch heute gilt: Wenn du etwas über den Charakter eines Menschen herausfinden willst, frag jemand, der ihm untergeben oder von ihm abhängig ist. Nehmer teilen gerne nach unten aus. Es lohnt sich auch, genau auf die Sprache zu achten. Wörter wie „ich“, „mich“ oder „mir“ nutzen Nehmer häufiger als Matcher und Geber. Das drückt aus, wie wichtig sich diese Menschen nehmen. Und schauen Sie sich an, wer wem hilft: Wenn Nehmer so tun, als würden sie helfen, dann nur einflussreichen Leuten, die ihnen nutzen.
Adam Grant, geboren 1981, ist Professor für Organisationspsychologie an der Wharton Business School (University of Pennsylvania). Seine Forschungsbeiträge im Bereich Motivation und Produktivität wurden vielfach ausgezeichnet. Als Berater war er unter anderem für die Vereinten Nationen, das Weltwirtschaftsforum, Google, IBM, Goldman Sachs und die Citigroup tätig. Sein Buch Geben und Nehmen. Erfolgreich sein zum Vorteil aller ist im Droemer-Verlag, München, erschienen.