Frau Gina A. kommt mit ihrem Partner Jochen. Er beginnt: „Wir streiten uns zu viel, mehr als früher, obwohl es uns doch gutgeht, mit dem zweiten Kind hat es bestens geklappt, nach der Tochter ein Sohn, unsere Wunschkinder, aber ich fühle mich oft wie das fünfte Rad am Wagen, ich kann es meiner Frau einfach nicht recht machen.“ Jochen ist ein großer, schlanker, sportlich gekleideter Mann um die vierzig. Er spricht ein gewähltes Hochdeutsch und artikuliert sehr sorgfältig.
„Weil du nie zuhörst“, hakt Gina ein,…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
Er spricht ein gewähltes Hochdeutsch und artikuliert sehr sorgfältig.
„Weil du nie zuhörst“, hakt Gina ein, eine zierliche Person mit schwarzen Locken und einem leichten Akzent. Sie wendet sich an mich. „Mein Mann kann einfach nicht mit Kritik umgehen. Ich sage ja oft schon nichts mehr. Eigentlich müsste ich ihn immer nur loben, loben, loben. Wenn er abwäscht und das Spülbecken danach dreckig ist und die Töpfe nicht wirklich sauber sind, putze ich eben hinterher, damit es keinen Streit gibt. Neulich hat er unserer Natalie, das ist die Große, eine Mohnschnecke in den Kindergarten mitgegeben. Das ist doch nicht gesund! Ihm wäre es egal, wenn sie mit zwei verschiedenen Strümpfen ankommt. Ich bin es leid, als ‚Mama Kontrolletti‘ lächerlich gemacht zu werden, wenn ich das anspreche!“
Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Er rutscht unruhig auf seinem Stuhl. „Ich wünsche mir mehr Gelassenheit von meiner Frau. Warum kann sie mir nicht ruhig sagen, wie sie es haben will? Du hast mich angeschrien vor den Kindern, dass es mir egal ist, wenn Natalies Zähne verfaulen!“
Wenn aus einem Liebespaar ein Streitpaar wird
Die Eheleute haben sich in einer Projektgruppe kennengelernt, sind beide in der Unternehmensberatung tätig, sie hat Jura studiert, er Betriebswirtschaft. Seit der Geburt des zweiten Kindes betreut sie nur noch wenige ausgewählte Kunden von zu Hause aus. Ich hake nach: „Und was hat Ihnen aneinander so gefallen, dass Sie zusammengeblieben sind?“
Sie wollen mehr Geschichten aus der Therapiestunde als Buch lesen?
Das Buch „Wenn Sie wüssten, wie ich wirklich bin“ versammelt die 50 besten „Therapiestunde“-Kolumnen, die in den letzten Jahren erschienen sind.
„Gina ist eine tolle Frau, attraktiv und gescheit, sie kann Leute um den Finger wickeln, ich habe mich gleich in sie verliebt“, sagt Jochen. Gina überlegt kurz. „Ich habe seine Ruhe bewundert. Er kann mit allen Leuten, ich habe Mühe, wenn ich jemand nicht leiden kann. Er war der erste Mann, mit dem ich mir vorstellen konnte, Kinder zu haben. Und er ist ein guter Vater!“ Sie wendet sich zu mir und schaut mir in die Augen. „Können Sie mir sagen, warum ich so mit ihm umgehe? Das ist doch verrückt!“
Narzisstischer Mangelzustand ist keine klinische Diagnose, aber eine erste Hypothese für dieses Paarproblem. Der Ehemann ist stolz auf seine Familie, das zweite Kind hat seinen Lebenstraum erfüllt. Die Ehefrau aber hat die Anerkennung im Beruf verloren und kämpft mit den Unsicherheiten, eine gute Mutter zu sein. Bestätigung im Beruf ist sichtbar und kontrollierbar. Ein Haushalt mit zwei kleinen Kindern bietet einem anspruchsvollen Ego wenig Gratifikationen. Wenn abends alle zufrieden sein sollen, ist das mühsame Arbeit mit unsicherem Ergebnis.
Wo bleibt das Erfolgserlebnis, wenn nach einer unruhigen Nacht am nächsten Morgen die Mühle weitergedreht werden muss? Wenn dann Jochen nicht ernst nimmt, wie Gina das Unternehmen Haushalt organisiert, kann schnell ein Teufelskreis entstehen. Sie wirft ihm sein Streben nach Anerkennung vor („loben, loben, loben“), will aber ihr eigenes Anerkennungsdefizit nicht wahrhaben. Im Gegenteil: Sie macht es ihm zum Vorwurf.
Krisen wie diese sind ein häufiges Thema in der Paartherapie: Die Bindung ist durch Ehe, gemeinsamen Haushalt und Kind so gefestigt, dass sich die Partner angesichts der erlebten Lieblosigkeit des Gegenübers mit dem Rücken an der Wand fühlen. Dann geht es darum herauszufinden, wie es geschehen konnte, dass aus dem Liebespaar ein Streitpaar geworden ist: Zwei Menschen, die sich gegenseitig ermutigten und voller Zuversicht ein gemeinsames Leben planten, entwerten und deprimieren sich.
Neue Rolle als Elternteil
Die Not der Ehefrau scheint mir schwerer zu wiegen. Außerdem hat sie mich direkt gefragt. „Nein, Frau A., das ist gar nicht verrückt, das passiert vielen Paaren. Verliebte lesen sich die Wünsche von den Augen, dann kommt ein Baby und schreit. Dann werden keine Wünsche mehr gelesen – und diese Aufmerksamkeit fehlt dem Elternpaar, das erst einmal gar nicht verstehen kann, wo das Liebespaar geblieben ist. Sie fühlen sich nicht gehört, nicht gesehen, Ihr Mann hat keine Ahnung, wie anstrengend das alles für Sie ist, und dann nimmt er nicht einmal ernst, wie Sie den Haushalt organisieren und die Kinder ernähren wollen. Und wenn Sie ihm klarmachen wollen, wie es Ihnen geht, haben Sie womöglich den Eindruck, es wird nur schlimmer.“
Ich bin erleichtert, dass Herr A. aufmerksam zugehört hat und sogar ein wenig nickt, obwohl ich doch erst einmal die Position seiner Partnerin verdeutlicht habe. „Außerdem ist es doch völlig normal, dass gestritten wird, wenn so viel zu organisieren ist und neue Rollen gefunden werden müssen“, fahre ich fort.
„Streit schadet an sich nicht, das tut er nur, wenn die Versöhnung auf sich warten lässt. Wie kommen Sie denn wieder zusammen, wenn Sie sich gestritten haben?“„Meistens mache ich den ersten Schritt“, meint Jochen A. „Stimmt“, ergänzt seine Frau, „Mir fällt das schwer. Ich bin dann so gekränkt, ich fühle mich so allein, meine Schwester, meine Mutter, alle sind in Mailand, und Jochen will nicht, dass seine Eltern uns helfen!“
„Sie haben mir meine Kindheit verpfuscht und ich will meine Kinder vor ihnen schützen“, sagt Jochen bitter. Das werde ich mir merken. Was hat Jochen derart verletzt, dass er seinen Eltern keine zweite Chance als Oma und Opa geben will? „Ich hätte nur so gerne, dass du es mit mehr Humor nimmst, wenn ich etwas falsch mache im Haushalt oder mit den Kindern“, fährt Jochen fort. „Du bist immer gleich so wütend. Ich meine es doch nicht böse!“ „Aber das schaffe ich einfach nicht. Mir ist oft alles zu viel, verstehst du das nicht?“
Eine Mohnschnecke wird zum Elefanten
Ich wende mich an Jochen. „Ich verstehe gut, dass Sie sich mehr Distanz und mehr Humor von Ihrer Frau wünschen. Aber wenn die Nerven blank liegen, ist auch die Mohnschnecke eine Katastrophe und keine Mohnschnecke mehr. Allerdings – wenn Sie sich fragen, wie Sie Ihre Frau dazu bringen, solche Situationen mit mehr Humor zu meistern: Glauben Sie, dass es besonders förderlich ist, wenn sie kritisieren, dass sie keinen Humor hat?“
Jochen wehrt sich. „Ich habe doch nur gemeint…, ich wollte Gina nur daran erinnern, dass wir früher so viel gelacht haben, sie konnte wirklich komisch sein.“ „Aber Sie könnten doch auch versuchen, der Mohnschnecke die humorvolle Seite abzugewinnen, wenn es Gina gerade nicht schafft. Wann haben Sie Ihre Frau das letzte Mal zum Lachen gebracht?“ „Viel zu lange her“, sagen beide fast unisono, und wir lachen zu dritt. Unsere Zeit ist fast um.
„Wenn Sie sich zu der Paartherapie entschließen“, sage ich, „dann können wir daran arbeiten, dass Sie beide sich in Ihren neuen Rollen unterstützen.“ Ich wende mich noch einmal an Jochen. „Es ist für Ihre Frau einfach sehr schwierig, wieder die Sicherheit und Ruhe zu finden, die sie im Beruf hatte. Ich glaube, dass ihr die Eltern fehlen. Als Beraterin hat sie die Migration gut gemeistert, aber als junge Mutter fühlt sie sich wieder fremd – und natürlich sind Sie überlastet, wenn Sie eine ganze italienische Familie ersetzen sollen.“
Gina scheint jetzt wirklich Ihren Humor wiedergefunden zu haben. „Mein armer Mann kann nicht einmal Spaghetti kochen!“ „Weil du mich nicht in die Küche lässt!“
„Sie haben mich nun kennengelernt“, fasse ich zusammen. „Ich würde gerne mit Ihnen arbeiten, erst einmal fünf Sitzungen, dann machen wir eine Auswertung. Überlegen Sie das gemeinsam, und wenn es für Sie passt, melden Sie sich wieder.“
Die beiden blicken sich an. „Es passt“, sagt Gina, „da muss ich nicht lang überlegen.“ „Finde ich auch“, sagt Jochen, „wann wäre der nächste Termin?“
Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Autor und Psychoanalytiker in München. Sein Buch Du bist schuld! Zur Paaranalyse des Vorwurfs ist im Jahr 2020 bei Klett-Cotta erschienen.