Andrea Seiferth, tiefenpsychologische Psychotherapeutin und Autorin, erzählt aus der Praxis:
Manchen Paaren sieht man die Entfremdung an, wenn sie mir gegenüber auf dem Sofa Platz nehmen. Auch zwei Frauen Mitte 40, nennen wir sie Laura und Nadine, die sich möglichst weit weg voneinander in entgegengesetzte Ecken setzen. Sie sind seit 15 Jahren zusammen und haben eine Tochter mit einer Behinderung, um die sie sich liebevoll kümmern. In letzter Zeit gleicht das Zusammenleben allerdings eher einer…
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Behinderung, um die sie sich liebevoll kümmern. In letzter Zeit gleicht das Zusammenleben allerdings eher einer Wohngemeinschaft. Es gibt Streit um dreckiges Geschirr und herumliegende Klamotten.
Zu Hause werde es immer enger, sagen sie. Gemeinsam arbeiten wir heraus, dass schleichend ein sehr negatives Bild voneinander entstanden ist, fast ein Feindbild. Laura erlebt Nadine wie eine „wandelnde Bombe“. Sie laufe ständig mit einer schlechtgelaunten „Fresse“ herum. Nadine ist nur noch genervt von Laura, die seit einem Infekt sehr schwach und bedürftig ist, Laura rede „wie ein Wasserfall“. Nadines Reaktion: Rückzug und Resignation.
Wir nehmen Tempo raus
In der emotionsfokussierten Paartherapie übersetzen wir solche Probleme in eine Sprache der Bindung. Wir sagen: Die Bindung ist nicht mehr sicher. Viele Paare können damit etwas anfangen, es passt zu dem Gefühl, das sie haben. Sie stecken in reaktiven Verhaltenskreisläufen fest. Wir nehmen Tempo raus und ergründen die darunterliegenden Emotionen und Bedürfnisse. Ich biete mich dabei beiden als Bindungsfigur an: schaffe Vertrauen, bewerte ihre Aussagen nicht, frage stattdessen: „Wie fühlt sich das an?“
Im Laufe des Gesprächs wird Nadine klar, dass die kränkelnde Laura in ihr Erinnerungen an ihre eigene Mutter weckt. Nadines Mutter war chronisch depressiv und überforderte sie als Kind mit ihrer Bedürftigkeit, manipulierte und schlug sie. Ihrer Mutter gegenüber hatte Nadine sich einen emotionalen Schutzpanzer zugelegt. Es sei viel um Macht gegangen. Laura möchte sie manchmal sagen, was sie auch ihrer Mutter gerne gesagt hätte: „Reiß dich zusammen und beiß dich da durch!“
Bedürfnisse nach Bezogenheit anerkennen
Laura bemerkt an dieser Stelle, dass Nadine oft ziemlich kühl und dominant auftrete, auch gegenüber der gemeinsamen Tochter. Ich frage Laura, ob sie sich vorstellen könnte, Nadine um die emotionale Zuwendung zu bitten, die sie sich wünscht. Doch Laura verneint das. Sie erwartet, dass Nadine selbst darauf kommt. Gegen Ende der Stunde erkennen die beiden, dass sie sich in Machtkämpfe verwickelt haben, weil sie Angst davor haben, ihre verletzlichen Bedürfnisse nach Anerkennung und Trost auszudrücken – nach einem respektvollen und zugewandten Umgang miteinander inmitten eines Alltags mit einem behinderten Kind, der beiden so viel abverlangt.
Es ist wichtig, überhaupt einmal Worte dafür zu finden, was man empfindet, und die eigenen Bedürfnisse nach Liebe und Bezogenheit anzuerkennen.
In den nächsten Stunden wird es darum gehen, die Emotionen weiter zu ergründen: die Angst, vereinnahmt zu werden, die Angst, die andere zu verlieren. Wir stehen noch am Anfang des Weges. Oft fragt man mich, ob ich denke, dass die Beziehung wieder wird. Aber das weiß auch ich nicht. Ich ermutige das Paar zu ehrlicher Verletzlichkeit und vertraue auf den Prozess der Liebe.
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Andrea Seiferth ist tiefenpsychologisch ausgebildete Psychotherapeutin, Supervisorin und Fachbuchautorin in Hamburg. Mit Paaren arbeitet sie vor allem auf Basis der systemischen und der emotionsfokussierten Paartherapie.