Als Sam geboren wird, nehmen die Ärzte zunächst an, das Mädchen sei aufgrund des verfrühten Geburtstermins so klein. Doch einen Monat später steht die Diagnose fest: Achondroplasie, eine Form von Minderwuchs. Die Eltern sind am Boden zerstört. Selbst ein taubes oder blindes Kind hätten sie lieber gehabt, erinnert sich die Mutter Mary Boggs später: „Alles wäre besser gewesen als Kleinwuchs. Wir fragten uns, warum wir überhaupt noch ein weiteres Kind bekommen hatten.“ Aber bei Mary und ihrem Mann tritt bald eine Wandlung ein. Sie passen das Haus an die Bedürfnisse ihrer Tochter an. Sie bekommen Übung darin, mit den neugierigen Blicken und Fragen von Fremden umzugehen, und bereiten Sam auf die Hänseleien vor, die sie im Kindergarten erwarten. Als das Mädchen fünf ist, nimmt die Familie erstmals an einem nationalen Treffen kleinwüchsiger Menschen teil. Später animieren sie auch Großeltern, Verwandte und Freunde, mit zu diesen Treffen zu kommen. Sie fahren für Sam hin, aber auch damit sich die Familie mit Sams Welt vertraut machen kann; „um es uns leichter zu machen, sie auf die richtige Art zu lieben“. Als die Tochter im Teenageralter ist und ihre ersten Romanzen erlebt, hat die Mutter längst alle Vorbehalte abgelegt. Was Sams Zukunft angeht, ist sie optimistisch. Sie freut sich darauf, irgendwann Großmutter zu werden. Sie werde wahrscheinlich einen kleinwüchsigen Schwiegersohn und kleinwüchsige Enkelkinder haben, vermutet sie. Und das sei eine feine Sache.
Die Boggs aus Washington sind eine der zahlreichen Familien, die der amerikanische Autor Andrew Solomon in seinem Buch Weit vom Stamm (S. Fischer 2013) porträtiert. Es sind durchweg Familien, in denen die Kinder ganz anders sind als ihre Eltern. Dabei ist „ganz anders“ weit definiert. Von…
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