Halbes Hähnchen, ganzer Kerl

Männlichkeitsideale sind eng mit Fleischkonsum verknüpft. Was geschieht, wenn Fleischessen in die Kritik gerät, erklärt der Soziologe Martin Winter.

Die Illustration zeigt einen Ur-Mensch mit Keule in der Hand, der am Kugelgrill sich ein Stück Fleisch brät
© Martin Krusche für Psychologie Heute

Herr Winter, Emanzipation hin oder her: Wenn man sich im Sommer in Parks umschaut, stehen an den Grills meistens Männer, vor sich Würstchen und Steaks. Wie lässt sich dieses Phänomen erklären?

Das scheint tatsächlich bemerkenswert, denn traditionell gilt die Zubereitung von Essen eher als „Frauensache“. Beim Grillen geht es allerdings nicht primär darum, andere zu versorgen und Care-Arbeit zu leisten. Es handelt sich um eine außeralltägliche Situation, die es erlaubt, sich als etwas Besonderes darzustellen.…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

Es handelt sich um eine außeralltägliche Situation, die es erlaubt, sich als etwas Besonderes darzustellen. Wenn Männer Fleisch grillen, ist das also ein steinzeitliches Symbol für die Herrschaft über die Natur – über Tiere und Feuer.

Aber Frauen könnten doch genauso den Drang haben, über Tiere und Feuer zu herrschen.

In der Soziologie gehen wir davon aus, dass ein Geschlecht nichts Naturgegebenes ist, sondern zum Beispiel durch bestimmte Handlungen entsteht. Man nennt das doing gender. Das Grillen als Handlung verschafft dem Mann demnach eine dominante Position und festigt diese, so wie es patriarchale Ordnungssysteme jahrhundertelang vorsahen. Man könnte Grillen als Referenz auf die „gute alte Zeit“ sehen und damit auch als Referenz für die Herrschaft von Männern über Frauen.

Ich bin kein Mann, aber als solcher würde ich mir nie unterstellen lassen wollen, dass ich auf Frauen herabblicke, weil ich Würstchen grille.

Wir schauen uns das als Muster an. Das heißt nicht, dass Frauen nicht gern grillen und kein Fleisch essen. Rein von den Zahlen her ist es aber so, dass Männer fast doppelt so viel Fleisch essen wie Frauen [siehe dazu auch Kasten unten] und dass Fleischkonsum oft mit sexistischen Referenzen gekoppelt wird. Ein paar Beispiele: In der Werbung sieht man Fleisch, das wie ein nackter Frauenkörper inszeniert ist; umgangssprachlich hört man, dass Frauen als „Stück Fleisch“ bezeichnet werden – ganz schlimm! 

Auch bei Lifestylemagazinen kann man diesen Zusammenhang entdecken: Der Chefredakteur des Kochmagazins Beef! sagte, er orientiere sich in der optischen und ästhetischen Aufmachung seines Magazins am Playboy. All das unterstellt jetzt nicht, dass Männer gegenüber Frauen und der Natur absichtlich Dominanz zeigen wollen, indem sie Fleisch grillen. Aber es stellt eine Ordnung her, die dann sichtbar wird, wenn man sie herausfordert.

Wenn jemand als Mann sagt: „Ich möchte kein Fleisch essen. Bitte grill meinen Tofu in Alufolie, damit er nicht mit dem Fleisch in Berührung kommt“, dann muss er mit Sanktionen rechnen. Es fallen Begriffe wie „Mangelernährung“ und Aussagen, dass das nicht gesund sei.

Kann man beziffern, wie oft solche Bemerkungen tatsächlich vorkommen?

Vegetarismus und Veganismus korrelieren ganz klar mit Bildung. In akademischen Milieus ist es deshalb wesentlich anerkannter, kein Fleisch zu essen. Gleichzeitig gab es aber auch Protest-Grillaktionen vor Unimensen, als die Grünen den Veggieday in Kantinen vorgeschlagen haben. In meinen Interviews haben Männer häufiger berichtet, dass zum Beispiel ältere Familienmitglieder mit Unverständnis auf ihren Vegetarismus reagiert hätten.

Bei meinen Interviewpartnerinnen wurde der Fleischkonsum nicht in der Form mit dem Geschlecht in Zusammenhang gebracht – oder wenn, dann nur in verklausulierter Form, dass sie sicher wenig Fleisch essen wollten, um sich gesünder zu ernähren. Von Frauen wird allgemein eher erwartet, sich zurückzuhalten und diszipliniert auf den Körper zu achten. Insofern kann der Fleischverzicht bei Frauen sogar positiv bewertet werden. Bei Männern heißt es oft: „Du brauchst Fleisch, um stark zu sein.“ Die Assoziation, dass nur Fleisch groß und stark macht, ist sehr gängig.

Aber wirkt sich das Geschlecht wirklich so stark auf den Fleischkonsum aus, stärker als zum Beispiel Gesundheits- oder Klimabewusstsein?

Ich würde Geschlecht nicht als schwerwiegenderen Faktor bezeichnen, sondern als etwas, das quer zu diesen Kategori­en liegt: Statt zu analysieren, ob die Höhe des Fleischkonsums am Geschlecht oder am Klima- oder Gesundheitsbewusstsein liegt, muss man sich eher angucken, wie Geschlecht als gesellschaftliche Struktur mit anderem zusammenhängt. Moralisches Handeln und Klima­bewusstsein korrelieren auch in anderen Bereichen stark mit Weiblichkeit, so dass Vegetarismus in der gegenwärtigen Form ein stärker weibliches Phänomen ist. Man sollte sich fragen: Was bedeutet es als Mann oder als Frau, auf seine Gesundheit zu achten?

Das heißt: Wenn Männer auf ihre Gesundheit achten, essen sie Fleisch, um stark zu werden. Wenn Frauen das machen, essen sie Salat?

Oder Huhn. In der Logik „Frauen sollen schlank sein“ darf Hühnerfleisch am ehesten konsumiert werden, weil es mager ist. Außerdem ist es nicht so blutig wie das Rind- und nicht so fett wie das Schweine­fleisch. Männer und Frauen haben komplett unterschiedliche Körperideale. Frauen achten eher auf einen schlanken Körper, Männer eher auf Muskeln. Deutlich wird das etwa anhand des Fitnessbooms – es ist für Männer viel wichtiger geworden, ihren Körper in bestimmter Weise zu bearbeiten.

Platt gesagt: Es geht darum, das Ideal eines muskulösen Körpers zu erreichen. Und weil man dafür auch Eiweiß braucht, ist es für Männer legitim, Fleisch zu essen?

Genau. Oder aber: Sofern sichergestellt ist, dass man auch ohne Fleisch das Männlichkeitsideal erreichen kann, etwa durch andere Eiweißquellen, ist es legitim, auf Fleisch zu verzichten. Sozusagen: Ich achte auf meinen starken Körper, aber dazu brauche ich nicht unbedingt Fleisch, sondern esse andere eiweißhaltige Produkte.

Das heißt, es ist akzeptabel, wenn Männer kein Fleisch essen, sofern es mit dem Körperideal begründet wird?

Das ist zumindest die Strategie, die auch viel von vegetarischen NGOs genutzt wird, so zum Beispiel von PETA und ProVeg. PETA hat mit dem Kraftsportler Patrik Baboumian ein männliches Idealbild geschaffen, das zeigen soll: Du kannst auf Fleisch verzichten und trotzdem ein starker Mann sein. Die NGOs haben erkannt, dass es gerade die Männer sind, die für fleischfreie Ernährung abgeholt werden müssen. Männern geht es nicht um Tiere und Umwelt. Die spielen auch eine Rolle, stehen aber nicht im Vordergrund. Die Botschaft der NGOs lautet: Du kannst auch ein harter Kerl sein und als Mann attraktiv, wenn du kein Fleisch isst.

Könnte man sagen: Der Zusammenhang von Fleischkonsum und Männlichkeit löst sich gerade auf – statt um Fleisch und Männlichkeit geht es jetzt vor allem um Stärke und Männlichkeit, und wie man diese Stärke erreicht, ist nicht mehr so wichtig?

Fleisch verliert an Selbstverständlichkeit. Die verzehrten Men­gen sprechen noch eine andere Sprache, aber im Bereich von Lebensmittelproduktion und -forschung passiert gerade extrem viel. Fleischalternativen werden immer wichtiger. Im Alltagswissen manifestiert sich nach und nach, dass wir Proteine brauchen, aber nicht unbedingt Fleisch. Hier in Frankfurt habe ich bei Schnellimbissen schon beobachtet, dass man Gerichte nach Nährstoffen zusammenstellen und als Protein­quelle dann zum Beispiel Huhn, Shrimps oder Tofu auswählen kann.

Gerichte nach Nährstoffen zusammenzustellen klingt anspruchsvoll. Nicht alle kennen sich damit aus.

Das Wissen über Nährstoffe gewinnt definitiv an Bedeutung. Durch Ernährung auf den Körper zu achten ist ein populäres Phänomen. Interessanterweise gilt das aber vor allem für einkommensschwächere Gesellschaftsschichten. Für obere Schichten steht körperliche Gesundheit gar nicht so im Vordergrund. Da geht es eher um Kulinarik und Exklusivität: dass es seltenes Fleisch ist, vielleicht sogar selbst gejagt und im eigenen Ofen geräuchert. Da zeigt sich wieder das Ideal der Ursprünglichkeit. Gleichzeitig grenzen sich obere Schichten mit seltenem Fleisch von denen ab, die für alle zugängliche Würstchen aus dem Supermarkt grillen.

Sie haben nun viel von Abgrenzung gesprochen, die durch eine bestimmte Art von Fleischkonsum oder Vegetarismus entsteht. Warum ist Abgrenzung gegenüber anderen Schichten sowie Abgrenzung von Männern gegenüber Frauen überhaupt wichtig?

Es geht um die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Positionen. Wenn Männlichkeit infrage gestellt wird, steht sehr viel auf dem Spiel – wie viel Anerkennung man von anderen bekommt, welche Position man einnehmen kann, was man im Job erreicht und wie viel Geld man verdient. Auf gesetzlicher Ebene gibt es kaum noch Grenzen zwischen den Geschlechtern, aber auf gesellschaftlich-kultureller Ebene geht es immer noch um solche Fragen wie: Welche Wege stehen mir überhaupt offen? Wozu habe ich Zugang? Was wird mir als legitim vermittelt? – Um männliche Dominanz aufrechtzuerhalten, entsteht Komplizenschaft.

Das bedeutet in Bezug auf den Fleischkonsum: Auch wenn Männer unterer Klassen eher größere und fettreichere Mengen an Fleisch essen und Männern höherer Klassen Exklusivität wichtig ist, so dass sie zum Beispiel selbst jagen und räuchern, verteidigen Männer durch alle Schichten hinweg gemeinsam Fleischkonsum gegen moralische Angriffe. Fleisch wird verteidigt als etwas, das notwendig und gut ist.

Der Wandel ist ja unaufhaltsam. Welche Folgen hat es generell, wenn Geschlechtergrenzen sich auflösen?

Die Aufrechterhaltung der Zweigeschlechtlichkeit hat Bedeutung, weil sie Orientierung und Halt gibt. Sie scheint zu beantworten, wo man hingehört. Auch andere Strukturen wie: „Der Mann arbeitet Vollzeit und ist der Familienernährer“, lösen sich zunehmend auf, schon weil ein Einkommen oft gar nicht mehr ausreicht. In dieser Situation der Unsicherheit scheint die Arbeit am eigenen Körper Halt zu geben: Sie sichert die Geschlechterdifferenz ab.

Fleischkonsum und Männlichkeit sind also in der Krise. Wie geht jetzt weiter?

Wenn man sich die Folgen für Klima, Gesundheit und Tiere anschaut, ergibt es natürlich Sinn, weniger Fleisch zu essen. Deshalb hoffen viele auf die Weiterentwicklung von In-vitro-Fleisch, also Fleisch, das im Labor gewachsen ist. Das wird nicht in Verbindung gebracht mit veganen Lebensmitteln, die immer einen Ökotouch haben.

Es bringt also nichts, wenn man Tofuwürstchen als „Würstchen“ bezeichnet, weil Tofu generell nicht als echte Alternative zu Fleisch wahrgenommen wird?

Als ich Interviews zu veganem Essen geführt habe, sagte mir eine Köchin, dass man durch die Imitation von Fleisch Männer von veganen Lebensmitteln überzeugen will. Man orientiert sich am Geschmack von Männern, also an der Bevorzugung von tierischen Lebensmitteln und einer bestimmten geschmacklichen Zubereitung. Man muss Männern etwas bieten, das sie kennen und mögen – so wie man früher den Braten so zubereitet hat, dass er dem Familienoberhaupt schmeckte.

Und deshalb muss das Tofuschnitzel „Schnitzel“ heißen, nicht nur „Tofu“. Und es muss etwas Vertrautes sein, das nicht nach Ausland klingt wie indische oder asiatische Lebensmittel. Man orientiert sich an dem, was man kennt. Und das ist in Deutschland eben Schnitzel.

Literatur

Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft: Deutschland, wie es isst – der BMEL-Ernährungsreport 2021 bmel.de/DE/themen/ernaehrung/ernaehrungsreport2021.html

Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung: 57,3 Kilogramm Fleisch pro Person: Verzehr sinkt weiter (Presseinformation, 2021)
ble.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/210322_Fleisch.html

Forsa: Ernährungsreport 2021. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung

Heinrich-Böll-Stiftung: Fleischatlas 2021. Daten und Fakten über Tiere als Nahrungsmittel;
boell.de/de/fleischatlas

Martin Winter forscht als ­wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Darmstadt unter ­anderem zur Ernährungs- und ­Geschlechtersoziologie. Er ist stellvertretender Leiter im Projekt ProteinBioTech, das sich mit der Entwicklung einer nachhaltigen und gesundheitsfördernden Ernährungskultur befasst

Fleischkonsum in Deutschland

Die Fleischmengen. 33 Prozent der Männer sowie 18 Prozent der Frauen essen mindestens einmal täglich Fleisch oder Wurst. Insgesamt nimmt der Konsum stetig ab: Im Jahr 1995 aßen die Deutschen pro Kopf 62,1 Kilogramm Fleisch (davon 39,8 Kilogramm Schweinefleisch, 11,5 Kilogramm Rindfleisch und 8 Kilogramm Geflügel). Im Jahr 2020 wurden mit 57,3 Kilogramm pro Kopf fast fünf Kilogramm weniger verzehrt. Der Konsum von Geflügelfleisch wuchs, der Konsum von Schweinefleisch nahm ab (32,8 Kilogramm Schweinefleisch, 13,3 Kilogramm Geflügel und 9,8 Kilogramm Rindfleisch)

Vor allem Jüngere ernähren sich lieber fleischlos oder fleischarm: Laut dem Fleischatlas 2021 aßen 25 Prozent der 15–29-Jährigen manchmal Fleisch („Flexitarier“), 10,4 Prozent ernährten sich ausschließlich vegetarisch, 2,3 Prozent vegan. Diese Altersgruppe ist auch besonders aufgeschlossen gegenüber Sojadrinks, Tofuwurst oder veganem Käse, die tierische Produkte ersetzen. Dem Ernährungs­report 2021 zufolge konsumierten 17 Prozent der 14–29-Jährigen täglich oder mehrmals täglich vegane Alternativen. Im Jahr zuvor waren es in dieser Altersgruppe nur 7 Prozent gewesen 

Neugier und Stadtleben. Insgesamt werden Alternativprodukte vor allem aus Neugier gekauft (71 Prozent der Befragten). Für 59 Prozent sind Tierschutzgründe ausschlaggebend. Je größer der Wohnort, desto mehr Leute kaufen regelmäßig vegane Fleischersatzprodukte. In Orten mit weniger als 5000 Einwohnern liegt der Anteil bei 20 Prozent, in Städten mit mehr als 500000 Einwohnern bei 46 Prozent

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2022: Das Tempo der Liebe