„Politik ist psychologisch“

Verhandlungen, Kompromisse, Niederlagen – Psychologie könnte viel zur Politik beisteuern. Hier sieht Arbeits- und Sozialpsychologe Dieter Frey großen Nachholbedarf.

 Zwei Personen in dunklen Anzügen geben sich die Hand.
Ein Handschlag besiegelt das Geschäft. In der Politik geht es oft darum, Interessen abzugleichen und zu verhandeln. Vieles davon hat auch mit Psychologie zu tun. © Anchalee Phanmaha/Getty Images

Herr Professor Frey, haben Sie politisch die Seiten gewechselt?

Dieter Frey: Nun, ich bin ein Mensch, der sich selbst immer wieder kritisch auf die Probe stellt. Das ist mir ein Bedürfnis und ein Prinzip – auch in meiner beruflichen Arbeit als Forscher, als Dozent, als Berater von Unternehmen und Organisationen und als Trainer: Ich praktiziere Selbstreflexion; ich gleiche den Status meiner Ziele und Überzeugungen ab mit meinen eigenen Maßstäben und mit einer sich ständig verändernden Umgebung.

Und ich…

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und Überzeugungen ab mit meinen eigenen Maßstäben und mit einer sich ständig verändernden Umgebung.

Und ich empfehle das auch dringend meinen Studenten oder Klienten, also etwa Führungskräften in der Wirtschaft oder Professoren an der Münchner Universität: Prüft euch! Stellt euch infrage! Fordert andere auf, euch zu kritisieren! Besinnt euch! Reflektiert! Aber wie Sie von solchen Prinzipien auf den Gedanken kommen, ich könnte politisch das Lager gewechselt haben, ich könnte überhaupt einem Lager zuzuordnen sein – das müssten Sie mir schon etwas näher erläutern.

Da waren zwei Interviews, zwischen denen sich offenbar eine Menge an Ihrem politischen Weltbild getan hat. Im ersten, 2008 im Manager Magazin erschienen, bezeichnen Sie es neben einer wachsenden Zahl von Nichtwählerinnen und -wählern als weiteren Beleg für Politikverdrossenheit, dass viele Menschen die Linken wählen. Im zweiten, 2011 in einem Münchner Kulturmagazin erschienen, beziehen Sie sich auf einen Artikel von Frank Schirrmacher, der in der Frankfurter Allgemeinen grübelte: „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“ – und schließen sich dem an, sinngemäß: Ich beginne zu glauben, dass Schirrmacher recht hat. Das ist doch ein Kurswechsel, oder?

Frey: Könnte man so sehen. Aber – warum eigentlich nicht? Schirrmacher hat da ja auch eine ganz ordentliche Strecke zurückgelegt. Und denken Sie an die Kurswechsel, die wir in der Politik erlebt haben: die Affäre zu Guttenberg, in der die ach so redlichen Bürgerlichen plötzlich als schäbige Betrüger dastanden. An die Atompolitik nach Fukushima, für die alle vermeintlichen Sicherheiten nichts mehr galten. Für einen Konservativen – der ich, nebenbei, nie war – stürzte da ein ganzes Überzeugungssystem zusammen. Plötzlich sagte selbst die Kanzlerin: „Atomkraft, nein danke!“ Oder denken Sie an die Turbulenzen im Finanzmarkt, den Absturz der Mittelschicht, die erkennbar und rapide sich vergrößernde Kluft zwischen Armut und zynischem Reichtum.

Da fragt sich wohl jeder, ob der Markt wirklich alles so perfekt regelt. Genau das war uns immer wieder vorgebetet worden, und viele hatten es zur Prämisse ihres Weltbildes erhoben. Wer da nicht seine Koordinaten immer wieder überdenkt und sie auch mal behutsam revidiert, der muss schon außerordentlich stur sein.

Sie sind also Wechselwähler?

Frey: Immer gewesen! Und zwar aus freudiger Überzeugung! Genau darin liegt doch die Gestaltungsmacht des Bürgers. Ich habe auch keine Probleme, da Flagge zu zeigen: Ich habe jahrelang SPD gewählt, aber auch schon mal die Grünen oder die FDP. Einmal sogar die CSU – offen gestanden. Weil einer ihrer Minister in meiner Nachbarschaft wohnt und ein sehr anständiger Kerl ist. Aber genau so funktioniert doch Demokratie: Ich wähle mir einen Vertreter, von dem ich glaube, dass er meine Interessen als Bürger ernsthaft und effektiv vertritt. Ich gebe ein Mandat. Unter meinen Doktoranden ist einer, der für den Bundestag kandidiert. Für die CSU. Andere sind für die FDP nach Brüssel gegangen. Grüne und Sozialdemokraten sind auch dabei, eine Menge. Und ich glaube, wenn man sie alle an einem Tisch zusammenbrächte, würde sich herausstellen, dass sie ganz ähnlich ticken: Das sind lauter gute, integre Leute.

Jedenfalls ein bunter Haufen. Lässt sich so Politik machen?

Frey: Wir reden hier nicht vom Bundestag, sondern von Psychologinnen und Psychologen, deren Doktorarbeiten ich betreut habe oder noch dabei bin. Aber natürlich: In der Politik müssen unterschiedliche Interessen abgeglichen und verhandelt werden, müssen Konzepte entwickelt und innovative Lösungen gefunden werden. Das ist ihr Geschäft. Und es ist ein Geschäft, in dem Psychologie eine entscheidende Rolle spielt.

Was ist psychologisch an der Politik?

Frey: Sehr viel: Es sind die Werte, die verhandelt werden. Es sind die Techniken des Verhandelns. Der Kompromiss, der Umgang mit Niederlagen, die Kalkulation von Erfolg und die Konstruktion von Realität. Der Einfluss von Gruppenstrukturen auf problemlösendes Denken und auf Kreativität. Kooperation und Motivation. Die Notwendigkeit, ständige Rückmeldung zu organisieren und zu verarbeiten. Die Herausforderung, Strukturen zur Innovation zu schaffen und Menschen darin den Raum zu geben, in dem sie Exzellenz entwickeln können. Wie es auch für jede Führungskraft in der Wirtschaft geboten ist. Um nur ein paar Stichworte zu nennen.

Es gab eine Studie der Europäischen Zentralbank, in der die wirtschaftliche Situation von Bürgern in unterschiedlichen Ländern der EU verglichen wurde. Deutschland kam dabei nicht allzu gut weg – ich zitiere mal die International Herald Tribune: „Die Studie der EZB räumt implizit mit dem Klischee von den reichen Deutschen auf, die im Mercedes die Autobahn runterbrettern. Obwohl extreme Armut relativ selten ist, wohnen Millionen Deutsche in tristen Betonblöcken, fahren U-Bahn und kaufen bei Aldi ein, der allgegenwärtigen Lebensmittel-Discountkette.“ Das mag ein bisschen überzeichnet sein, aber es macht den Ärger verständlich, den viele empfinden, wenn Deutschland als Zahlmeister für Europa auftritt: Wir knausern und legen auf die hohe Kante – und finanzieren damit griechische Reeder oder spanische Banker.

Frey: Schon. Aber es ist immer schwierig, passende Kriterien für Wohlstand zu definieren. Ist ein Land wohlhabend, wenn es sich ein paar märchenhaft reiche Reeder oder Bankiers leistet, aber sonst im Chaos versinkt? Ich möchte bei uns nicht die Arbeitslosigkeit von Spanien oder Griechenland erleben, 30, 40, bei den Jugendlichen sogar bis über 50 Prozent! Es mag auch sein, dass in England oder Frankreich vergleichsweise mehr Menschen in Eigenheimen leben. Dem halte ich unsere Infrastruktur entgegen, die Sicherheitssysteme, die Ökologie, das öffentliche Schulsystem, das Gesundheitswesen, die persönliche Zukunft, die sich bei uns insgesamt doch sehr viel verlässlicher planen lässt …

Wir sprechen jetzt nicht von Hartz IV, von Kindern als Armutsrisiko für alleinerziehende Eltern oder von fehlenden Kitaplätzen…

Frey: Das gibt es anderswo ganz ähnlich. Und irgendwas ist immer zu verbessern. Mein Gegenargument lautet in solchen Diskussionen: Ist euch klar, wie gut es uns geht? Wollt ihr italienische, griechische oder portugiesische Verhältnisse in Deutschland haben? Fakt ist, dass viele Menschen bei uns in Angst leben, von den Verpflichtungen der Politik in einen Strudel gerissen zu werden – so in dem Sinn: Wir müssen schuften, und die nehmen uns das Geld weg. Es geht mir ja selbst so, dass ich nicht weiß, wohin die Reise geht. Und die Politik erklärt es uns auch nicht. Frau Merkel macht Zugeständnisse nach der Salamitaktik, scheibchenweise. Und sie wird mitgerissen von einer chaotischen Entwicklung und ohne erkennbare Herrschaft über die Resultate. 

Kann die Politik ihre Wege nicht erklären? Oder will sie es nicht?

Frey: Ich fürchte, sie kann es nicht, weil sie von vielen Ereignissen selbst überrollt wird. Denken Sie an Fukushima. Denken Sie an die Finanzkrise. Die Politik kann ihre Pläne nicht erklären, weil diese Ereignisse eine ungekannte Dimension und eine ganz eigene Dynamik haben. Weil zu viele Faktoren im Spiel sind, zu viele Interessen und weil niemand von seiner Position abrücken will. Ich vermute aber auch, dass viele Politikerinnen und Politiker keine Transparenz schaffen wollen – weil nämlich die Wahrheiten, die sie mitzuteilen hätten, extrem unpopulär wären. Denken Sie etwa an die Wahrheit, dass es immer der deutsche Steuerzahler ist, der am Ende die Zeche zahlt. So etwas erzählt man nicht so gern vor einer Wahl.

Und jetzt kommt Psychologie ins Spiel.

Frey: Tatsächlich: Psychologie könnte da einiges beisteuern, Techniken wie Konzepte. Ganz allgemein: Es braucht Kompetenz zur Koordination, Leistung muss organisiert werden. Es braucht Werte und die Fähigkeit, sie zu vermitteln. Eine Kultur von Offenheit und Fairness, Freiräume auf allen Ebenen und den Mut, Konzepte zu entwickeln und zu gestalten – kurz: Es braucht Change Management. Die Politik steht vor Riesenproblemen. Ich bin deshalb nicht sicher, was ich mir für die Wahlen wünschen soll. Wir können uns ein Patt nicht leisten, also eine Situation, in der nahezu gleich große Blöcke einander lahmlegen. Das wären italienische Verhältnisse. Wir sehen, wohin das führt. Und die Krise verlangt entschlossenes Handeln. Könnte sein, dass eine große Koalition nicht die schlechteste Lösung wäre.

Als Professor unterweisen Sie Studierende darin, einen Betrieb, eine Arbeitsgruppe oder auch eine politische Operationseinheit zu führen. Sogar Professoren anderer Fakultäten an der Ludwig-Maximilians-Universität München [LMU] können bei Ihnen lernen, ihre wissenschaftlichen Teams besser zu motivieren und zu koordinieren. Klassische Themen für ein Managementseminar im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften. Sie aber sind Psychologe. 

Frey: Genau das ist doch Psychologie! Wie wir uns auf dem Markt bewegen, wie wir unsere Interessen verhandeln, wie wir Politik gestalten, wie wir uns zu Gruppen finden und in diesen Gruppen zielgerichtete, erfolgreiche Zusammenarbeit organisieren – das ist psychologische Kernkompetenz. Sie kennen Daniel Kahneman?

Behavioral economics, also Verhaltensökonomie, Autor des Buches Schnelles Denken, langsames Denken, 2002 ausgezeichnet mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften …

Frey: Ein Psychologe! Weil es Menschen sind, die da agieren und interagieren. Was hat Kahneman uns gelehrt? Dass der vielzitierte, konsequent rational handelnde Homo oeconomicus ein Konstrukt ist, weit entfernt von der Realität auf den Märkten, in den Schulen, an Universitäten. Aber da, fürchte ich, haben viele Psychologinnen und Psychologen die Signale überhört. Sie mischen sich nicht ein in diese Diskussionen. Wir haben so viele nicht besetzte Hügel, von denen die Psychologie sagt: Das ist nicht unser Terrain. Wie unklug! Und wie falsch!

Politik, Wirtschaft, Kultur – alles hat mit Mentalität zu tun, mit Verhalten, mit Werten, mit Vorurteilen, mit eingefahrenen Gewohnheiten. Und was tun die Psychologen? Drängen sich auf ihren drei, vier Hügeln und beschäftigen sich mit dem Mainstream – cognition, neuro … Da ist viel Pipifax dabei. Was die Gesellschaft wirklich bewegt, was wirklich Lösungen erfordert – das überlassen sie anderen Disziplinen. Ich sage Ihnen: 80 Prozent der Psychologen lösen Probleme der Literatur statt Probleme der Realität. Und das ist schade.

Also: Auf in die Politik, auf in die Wirtschaftsunternehmen, auf in die Medien?

Frey: Und das bitte schon in der Forschung! Mein Thema ist Innovation – in der Wirtschaft, aber natürlich auch in Systemen wie der Wissenschaft oder in der Politik: Wie erreiche ich so etwas? Indem ich Räume öffne und eine Vielfalt von Quellen zusammenführe. Wir werden immer größere Vielfalt erleben, in Herkunft, Kultur und Sprache, in der Altersverteilung an einem Arbeitsplatz und sogar, langsam, auch in der Aufteilung zwischen den Geschlechtern – also nutzen wir sie!

Was muss ich mit Erfindern tun? Ihnen Freiräume schaffen. Was muss ich in einem Team tun? Möglichst alle mit ihren Fähigkeiten einbeziehen. Wie kann man Menschen begeistern? Wie kriegt man Exzellenz und Menschenwürde verbunden? Stichwort: ethikorientierte Führung. Deren Prinzipien würde ich gern übertragen auf Kindergarten, Universität, Familie, Schule – wenn’s sein muss, auf den Zirkus. Auf Wirtschaftsunternehmen sowieso. Und da, denke ich, ist Psychologie die Wissenschaft par excellence.

Denn Psychologie sorgt dafür, dass gute Leute ihre PS auf die Straße kriegen?

Frey: Das wäre eine ihrer Aufgaben. Wir praktizieren es zum Beispiel an der Bayerischen Elite-Akademie, deren akademischer Leiter ich mehr als zehn Jahre lang war. Dort werden besonders begabte Studierende bayerischer Hochschulen neben ihrem Studium gefördert in Themen wie Ethik, Menschenführung und Unternehmensführung, in interkulturellen Kompetenzen, interdisziplinärem Denken und Teamarbeit.

Fördern Sie damit diejenigen, die es am bittersten nötig haben? Oder diejenigen, bei denen der Erfolg ohnehin schon sehr wahrscheinlich ist?

Frey: Die Hoffnung ist, dass wir dort Leute fördern, die sich fachlich für eine Führungsposition empfehlen, die daneben aber auch menschlich geeignet sind, ihr Verhalten in einer solchen Position nach ethischen Maßstäben auszurichten. Wir diskutieren mit ihnen die Grundlagen einer wertorientierten Kooperation und trainieren, wie man konstruktives Feedback gibt, wie man Konflikte auf anständige Weise löst oder einfach zuhört. Ich nenne es mal „die etwas andere Führung“, also offen, fair, kommunikativ, ökologisch und ökonomisch nachhaltig, verantwortungsbewusst, sozial – eben wertorientiert.

Lassen sich solche Einstellungen denn fördern? Und lassen solche Fähigkeiten sich vermitteln?

Frey: Ich denke, wir geben ein ganz überzeugendes Beispiel. Die Elite-Akademie ist fast volljährig, rund 400 Studierende haben sie bisher durchlaufen – und es sind richtig gute Leute darunter. Solche, deren Führungskompetenz auch ich mich ohne Zögern anvertrauen würde.

Wie sieht das Programm dort praktisch aus?

Frey: Wir fördern Studierende aus allen Schichten und Studiengängen. Die sind viermal vier Wochen an der Akademie zusammen: Maschinenbauer, Theologinnen, Literaturwissenschaftler – alle gemeinsam. Die Dozenten sind Wissenschaftler, Vertreter des öffentlichen Lebens, Führungskräfte aus Unternehmen, und sie vermitteln Überzeugungen und Skills, die eigentlich an den Universitäten vermittelt werden sollten. Was aber leider nur sehr selten geschieht.

Weil die Hochschulen nun mal Durchlauferhitzer für fachliche Kompetenz sind, aber die Fragen nach Persönlichkeit, Verantwortung und sozialem Engagement außen vor lassen.

Frey: So ist es. Die Frage nach den Werten kommt zu kurz – in der Praxis: wie man auf der Ebene des Teams ein innovationsfreundliches Klima schafft, wie man Menschen zusammenführt, den Einzelnen einbindet und die Bereitschaft zu Spitzenleistung fördert. Aber auch daran arbeiten wir. Als die LMU den Rang einer Exzellenzuniversität zugesprochen bekam, haben wir das Center for Leadership and People Management eingerichtet …

Das klingt aber breitspurig…

Frey: … und ist eine großartige Sache. Gibt es nirgendwo sonst auf der Welt, auch nicht an den anderen Exzellenzunis. Hintergrund war die Erkenntnis: Wir haben großartige Fachleute an der LMU, aber wir müssen auch etwas für sie tun. Wissenschaft ist nun mal Teamarbeit, eine Wissenschaftler muss mit unterschiedlichen Menschen aus unterschiedlichen Disziplinen und Kulturkreisen zusammenarbeiten; er hat Mitarbeitende zu führen und Kollegen zu koordinieren – dazu sollte er ausgebildet sein.

Das Center for Leadership and People Management bietet also so etwas wie pädagogischen Nachhilfeunterricht für Hochschullehrer.

Frey: Das ist jetzt aber arg verkürzt. Unser Center will alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der LMU ausbilden in Führung, Motivation, Kommunikation, in der Aktivierung von Synergieeffekten im Team – das ist ein Riesenprogramm. Den Probelauf hat es übrigens erfolgreich absolviert: Wir werden weitermachen.

Wenn einer schon Professor ist, in der Forschung erfolgreich und in der Lehre engagiert: Warum sollte der mitmachen?

Frey: Wie wär’s mit Überzeugung? Ich würde es machen, weil ich mir etwas davon verspreche, wenn ich das Potenzial meines Teams noch weiter entwickle. Viel mehr natürlich, wenn ich da leichte Schwierigkeiten habe: Stellen Sie sich vor, ich kriege mein Team nicht so recht in den Griff. Wir sind so unterschiedlich in der Persönlichkeit, in der Disziplin, in der Kultur, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Und dann kommt jemand und sagt: Wenn du da zehn Prozent zulegst, kannst du in der wissenschaftlichen Arbeit eine nächste Stufe erklimmen; du kannst deinen wissenschaftlichen Output ganz deutlich erhöhen. Ist doch toll!

Aber welcher gestandene Professor setzt sich wie ein Schüler in ein Seminar?

Frey: Appetit und Überzeugung wachsen auf unseren Exzellenzforen. Da laden wir die Leitenden unserer Exzellenzcluster ein, und die berichten: Wie führe ich? Wie binde ich meine Mitarbeiter ein? Wie diskutieren wir unser Vorgehen? Viele von diesen Wissenschaftlern – nicht alle, zugegeben, aber viele – sind da sehr engagiert und sehr erfolgreich. Der Physiker Theodor Hänsch zum Beispiel, 2005 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet: Ich kenne niemanden, der so gut zuhören kann, der so gut Fragen stellt, die Neugier fördert und andere groß werden lässt. Das bestätigen alle in seiner Umgebung. Wenn so einer in einem unserer Foren Einblick in seine Arbeitsweise gibt und hundert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hören zu – da ist manch einer, der sagt: Toll, da kann ich auch noch was übernehmen. Wir lernen also voneinander.

Und die Psychologen moderieren das?

Frey: Ein bisschen mehr ist es schon. Es sind ja sehr konkrete Dinge, die in solchen Foren angesprochen und in Seminaren oder Beratungsrunden auch eingeübt werden. Ich bleibe Realist: Den Kern einer Persönlichkeit werde ich nicht ändern können. Wenn einer ein Egozentriker ist, dann ist er eben ein Egozentriker. Davon gibt es manche im Hochschulbetrieb. Aber meine Hoffnung ist, dass ich den Wissenschaftlern einige Methoden beibringe, die zur kontinuierlichen Weiterentwicklung hilfreich sind. Zum Beispiel: Selbstreflexion.

Denk am Freitag mal darüber nach: Was hast du diese Woche gut gemacht? Was hast du nicht gut gemacht? Ruf deine Leute regelmäßig zur Teamreflexion zusammen, und seien es nur zehn Minuten, in denen ihr darüber nachdenkt: Was läuft gut, was läuft nicht gut, und wie kann man’s verbessern? Sprich mit den einzelnen Mitarbeitenden über Soll und Ist, alle paar Wochen für fünf Minuten. Bring ihnen Vertrauen entgegen. Psychologisches Grundwissen – aber ich sage Ihnen: Das hat prima eingeschlagen.

Wenn Wissenschaft tatsächlich ein Elfenbeinturm ist, dann sitzt Dieter Frey zumindest immer irgendwo am Fenster: Der Psychologe, Jahrgang 1946, ist wie wenige seiner Kollegen offen für die Phänomene des Alltags in Wirtschaft und Politik, in Betrieben und Organisationen, an der Börse und an der Hochschule. Und wie wenige Wissenschaftler ist er auch bereit, die Erkenntnisse seiner Disziplin zur Lösung ganz praktischer Probleme aufzubereiten und zur Verfügung zu stellen.

Diese Offenheit liegt sicher in seinem Spezialgebiet begründet, der Sozial-, der Arbeits- und Organisationspsychologie. Sie entspricht aber auch seinem Naturell: Der Inhaber des Lehrstuhls für Sozialpsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München scheint zu platzen vor Ideen und Lösungsvorschlägen.

Neben Management und Führungsstrategien gehören Motivations- und Kreativitätsforschung zu seinen Spezialgebieten, ebenso die psychologischen Grundlagen von Innovation und Entscheidung, von werteorientiertem Handeln und Förderung von Spitzenleistung.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2013: Was haben wir falsch gemacht?