„Das Impostorsyndrom wird überinterpretiert.“

Als Hochstapler entlarvt zu werden, ist eine Angst vieler, aber nicht von jedem. Das Impostersyndrom wurde zur Modediagnose, das stört Michaela Muthig.

Die Ilustration zeigt Michaela Muthig, die findet, dass das Impostorsyndrom überbewertet wird
Michaela Muthig ist Fachärztin und ärztliche Psychotherapeutin. Sie ist heute als Onlinecoach selbständig. © Jan Rieckhoff für Psychologie Heute

Ständige Selbstzweifel, die Überzeugung, nicht gut genug zu sein, und die Angst davor, deshalb irgendwann als Hochstapler oder Hochstaplerin entlarvt zu werden, das zeichnet das Impostorsyndrom (zu Deutsch Hochstaplersyndrom) aus. In den letzten Jahren gewann dieses Phänomen zunehmend an Bekanntheit. Und das ist auch gut so. Denn viele Menschen – nach Studienlage ist es etwa jeder zweite – sind betroffen. Unentdeckt kann es zu einer Menge Leid führen, da die Betroffenen an sich selbst verzweifeln und ihre Reaktion nicht verstehen können.

Nur anfängliche Unsicherheiten

Doch die zunehmende Bekanntheit hat auch ihre Schattenseiten: So wird dieses Phänomen zu einer Art Modediagnose aufgebauscht, und immer mehr Menschen identifizieren sich damit, auch solche, die eigentlich gar nicht betroffen sind. Dies führt dazu, dass der Begriff unscharf verwendet und infolgedessen das Syndrom nicht mehr als ernstes Problem wahrgenommen wird. Zudem suchen Menschen Hilfe, die sie gar nicht bräuchten, und machen sich so kränker, als sie sind. Viel zu oft werden anfängliche Unsicherheiten falsch ausgelegt und überinterpretiert.

Wohlgemerkt: Etwa die Hälfte der Bevölkerung ist vom Impostorsyndrom betroffen. Aber die andere Hälfte ist es nicht!

Es ist völlig normal, zu Beginn einer neuen Aufgabe, eines neuen Jobs oder generell vor einer unbekannten Situation unsicher und ängstlich zu sein. Dies gehört zu einer gesunden psychischen Entwicklung. Denn wie sollte man auch bei einer neuen Herausforderung einschätzen können, ob man die Fähigkeiten hat, diese Situation zu bewältigen. Dass wir in solch einer Lage ängstlicher sind, jede Kritik uns aus der Bahn wirft und wir uns noch nicht auf unsere Fähigkeiten verlassen können, ist völlig normal. Oftmals wird diese anfängliche Unsicherheit jedoch mit dem Impostorsyndrom verwechselt.

Bin ich tatsächlich betroffen?

Dabei gibt es eine ganz einfache Mög­lichkeit, gesunde Selbstzweifel von dem Impostorsyndrom zu unterscheiden: Während normale Selbstzweifel mit der Zeit und mit zunehmenden Erfolgserlebnissen abnehmen, ist beim Impostorsyndrom das Gegenteil der Fall: Je erfolgreicher die Betroffenen werden, desto stärker wird die Angst, andere zu enttäuschen und die an einen gestellten Erwartungen nicht erfüllen zu können. Denn Menschen mit Impostorsyndrom lernen nicht aus ihren Erfolgen. Sie führen diese nicht auf ihre Fähigkeiten zurück, sondern denken, dass sie einfach Glück hatten. Dadurch meinen sie weiterhin, unfähig zu sein, während sie gleichzeitig erleben, dass andere immer mehr von ihnen überzeugt sind.

Es ist daher wichtig, sich zu fragen: Bin ich tatsächlich vom Impostorsyndrom betroffen? Wenn die Selbstzweifel vor allem zu Beginn einer neuen Aufgabe groß sind und dann im Verlauf abnehmen, handelt es sich in der Regel um ganz normale Selbstzweifel. Werden die Selbstzweifel dagegen trotz Anerkennung und Erfolgen nicht besser, sondern nehmen sogar noch zu, so leiden die Betroffenen wahrscheinlich unter dem Impostorsyndrom.

Michaela Muthig ist Fachärztin für Allgemeinmedizin sowie für Psychosomatik und ärztliche Psychotherapie. Sie war ärztliche Leiterin einer psychosomatischen Tagesklinik und ist heute als Onlinecoach selbständig.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2023: Intensiver leben
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