„Wer leidet, hat recht.“

Selbstviktimisierung schafft Stabilität. Wer sich in der Opferrolle fixiert, entzieht sich kritischer Selbstbetrachtung; das stört Daniel Burghardt.

Die Illustration zeigt den Erziehungswissenschaftler und Professor, Daniel Burghardt, den stört, dass wer leidet, recht hat.
Daniel Burghardt ist Erziehungswissenschaftler und Professor am Institut für Erziehungs­wissenschaft der Universität Innsbruck. © Jan Rieckhoff für Psychologie Heute

Es gehört zu den Errungenschaften der Aufklärung, dass Menschen ihr Leiden nicht mehr als gottgewollt oder reines Schicksal hinnehmen müssen, sondern das sprichwörtliche Elend der Welt wie auch ihr eigenes Leid zumindest potenziell infrage stellen können. Philosophischer Ausgangspunkt dafür ist eine begriffliche Bestimmung des Gegenstands. Vor diesem Hintergrund formulierte Theodor W. Adorno in seiner Negativen Dialektik einst die Prämisse, dass Leiden beredt werden zu lassen die Bedingung aller Wahrheit sei.

Zur Dialektik der Aufklärung heute gehört aber auch, dass die Menschen das tatsächliche oder scheinbare Leid als attraktive Position ausmachen, die psychische Stabilität, politische Identität und mediale Aufmerksamkeit verspricht. Diese regelrechte Fixierung auf die scheinbare Opferrolle tritt vor allem dort auf, wo man es zumindest auf den ersten Blick am wenigsten erwartet: in rechten und autoritären Milieus.

Wer sich mit der Agitation rechter Bewegungen und Politikern à la Trump, Orban oder Höcke auseinandersetzt, der stößt schnell auf eine Systematik wider­sprüchlicher Botschaften, wonach man abwechselnd unter der Herrschaft des Establishments, den sogenannten Gutmenschen oder der Klimabewegung leide und gerade deshalb erleuchtet und wehrhaft sei. An diesen Stellen fehlt selten der Hinweis darauf, dass man bereit sei, sich bis zur allerletzten Konsequenz gegen den imaginierten Feind zu stellen, koste es auch die eigene körperliche Unversehrtheit.

Betroffenheit und Wahrheit fallen zusammen

In der Sprache der Sozialpsychologie setzt die autoritäre Reaktion eine ge­wisse Selbstviktimisierung voraus, die Triebenthemmung legitimiert die Notwehr, und die Ohnmacht schützt vor Schuldfähigkeit. Insbesondere der Antisemitismus findet seine psychische Attraktivität darin, dass man sich von unsichtbaren Mächten beherrscht wähnt und sich als Opfer einer „jüdischen Welt­verschwörung“ stilisieren kann. Dieses Weltbild erspart einem die oftmals leidvolle Auseinandersetzung mit den eigenen Widersprüchen, die jedoch Voraussetzung für politische Verantwortung ist – ein Phänomen, welches auch in progressiveren und linken Milieus aufzufinden ist.

So wird die Tatsache, dass die eigene Leiderfahrung nicht durch andere gemacht oder repräsentiert werden kann, häufig zum Ausgangspunkt aller Kritik genommen. Betroffenheit und Wahrheit fallen hier zusammen. Wer leidet, hat recht. Der Widerspruch, dass keine Wahrheit über das Leid ohne Betroffenheit auskommt, Erstere jedoch nicht unmittelbar in Letzterer aufgeht, wird nicht mehr ausgehalten.

Ist deshalb aber Adornos Diktum unwahr? Sollte man über das Leid besser schweigen? Oder sollte man vielleicht versuchen, das Leid analog zu der maslowschen Bedürfnispyramide „richtig“ zu kategorisieren? Nein, denn all diese Versuche müssen scheitern. Die kritische Reflexion auf sich und die Welt hat kein Ranking des Elends zum Ziel und ist dennoch nicht ohne Normativität zu haben. Das individuelle Leid ist vielmehr Einspruch gegen eine Gesellschaft, die, obwohl sie über die Mittel verfügt, das Leiden zu mindern, mehr Elend schafft.

Daniel Burghardt ist Erziehungswissenschaftler und Professor am Institut für Erziehungs­wissenschaft der Universität Innsbruck.

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