Ein klassischer Text der Psychoanalyse ist Das Unbehagen in der Kultur von Sigmund Freud, selten erreicht und nie übertroffen als Versuch, seelisches Leid mit den Forderungen und Belastungen zu verbinden, welche die Gesellschaft den Menschen auferlegt. Allerdings: Die Gesellschaft verändert sich, jede Generation von Psychoanalytikern und -analytikerinnen ist aufgerufen, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie erträglich oder auch unerträglich die Anpassungsforderungen der Kultur anmuten. Der jüngste und sehr gelungene Text in dieser Reihe ist Krisen auf der Couch. Aufgaben der Psychoanalyse in apokalyptischen Zeiten von Timo Storck, Professor für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Psychologischen Hochschule Berlin.
Es ist ja inzwischen so, dass sich die Psychoanalyse nicht mehr als kritische Bewegung der Kultur gegenüberstellen kann. Sie ist selbst ein Teil der Gesellschaft, sie produziert ihre eigenen Krisen, sie kann sich sozusagen selbst auf die Couch legen lassen oder auch probieren, wie weit der Versuch trägt, den aktuellen politischen Krisen mit psychoanalytischem Denken beizukommen. Denn das von Freud verwendete Wort „Unbehagen“ tönt heute geradezu behaglich. Freuds Kultur ist eine strenge, aber auch verlässliche Mutter, der man mehr Konzessionen an die Tatsache abringen sollte, dass der Mensch auch ein Säugetier ist und Mängel in seinen animalischen Befriedigungen auf Dauer schlecht erträgt.
Storck beschäftigt sich zwangsläufig mit höchst ungemütlichen Belastungen: der Klimakatastrophe, dem wachsenden Hass gegen „andere“ – Migrantinnen, Homosexuelle, Transpersonen, Juden – und dem jeder Erwartung Hohn sprechenden Krieg gegen die Ukraine.
Die Apokalypse auf der Couch
Sein Buch trägt die „Krise“ im Titel, aber er entschließt sich, den Begriff weitgehend aufzugeben. In der Tat wird „Krise“ meist in dem Sinn einer Zuspitzung verwendet, nach der sich wieder ein Normalzustand einstellt. Aber die menschengemachten Veränderungen der Gegenwart sind nicht mehr umkehrbar. Es geht nicht um eine Krise, sondern um eine Apokalypse, die Storck nun mit Vorbehalten und sehr vorsichtig auf die Couch legt.
Im Unterschied zu den frühen Psychoanalytikern, die querbeet Mythen, Dichtungen und Biografien untersuchten, als lägen sie auf ihrer Couch, stellt Storck fest: „Man kann nicht einfach alles und jeden auf die Couch legen, noch dazu jemanden oder etwas, der oder das nicht darum gebeten hat.“
Storck macht nun plausibel, dass die beiden apokalyptischen Drohungen der Gegenwart, der Klimawandel und die wachsenden Ängste und Feindseligkeiten gegenüber „den anderen“, im Unbewussten zusammenhängen.
Wenn die Einsicht eigentlich nicht mehr abgewiesen werden kann, dass die Krise längst zur Apokalypse geworden ist, weil es gewiss nicht in den gewohnten Formen der fossilen Verschwendungswirtschaft weitergehen kann, wächst die Anziehungskraft von Lügen und Lügnerinnen, die gerade das versprechen. Wer diesen Weg einschlägt, vermeidet die notwendige Trauerarbeit über den Verlust der Welt, wie wir sie kennen. Dann werden die unvermeidlichen Ängste in Aggressionen verwandelt und gegen „feindliche Gruppen“ kanalisiert, die sich als Symbole für eine Verunsicherung durch das Unvertraute eignen: Migrantinnen, Geflüchtete, Homosexuelle.
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wie Fremdenangst, Antijudaismus, Homo- und Transphobie wurzelt in Angstabwehr und projektiven Zuschreibungen. Je weniger Fremden man leiblich begegnet, desto gefährlicher sind sie.
Ungewissheit als Offenheit
Abschließend sucht Storck nach dem Beitrag der Psychoanalyse zu einer „gesunden Gesellschaft“, die mit den apokalyptischen Prozessen umgehen kann. Der erste Punkt ist die Anerkennung von Verunsicherung und Ängsten. Wer nicht akzeptiert, dass die Zukunft bestimmt nicht so „great“ sein wird, wie es die Vergangenheit nie war, wird die nötige Trauerarbeit nicht leisten können. Erst wenn wir Ungewissheit als Offenheit sehen und Hoffnung als Vertrauen erleben, dass aus dem Abschied vom Alten etwas Neues, noch Unbekanntes entstehen wird, können wir zu einem „gesunden“ Umgang mit apokalyptischen Zuständen finden.
Timo Storck: Krisen auf der Couch. Aufgaben der Psychoanalyse in apokalyptischen Zeiten. Klett-Cotta 2025, 196 S., € 34,–
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