Im Fokus: Fremdenfeindlichkeit

Anderes Aussehen, andere Religion oder Heimat: Ablehnung von Fremden steckt in uns allen. Wie wir das Ausgrenzen verlernen können, zeigt Ulrich Wagner.

Die Schauspieler des Berliner Ensemble stellen auf der Bühne das geheime Potsdamer Treffen von rechtsextremen Kräften im Januar 2024 nach
Das Berliner Ensemble führt das "Geheimtreffen" der Rechten zum Masterplan der Remigration als szenische Lesung vor. © picture alliance/dpa | Carsten Koall

Herr Wagner, ist jeder Mensch ein geborener Fremdenfeind?

Nein. Wir kommen aber mit einer biologisch angelegten Fähigkeit auf die Welt, die wir einerseits brauchen, um zu überleben, und die andererseits eine Grundlage dafür ist, dass wir fremdenfeindliches Verhalten zeigen: die Fähigkeit, die Welt um uns herum zu kategorisieren. Wir teilen ein nach Größe, in Helles und Dunkles, nach Arten von Gegenständen wie Fahrrad oder Auto. Das hilft, sich schnell zurechtzufinden. Aber diese Kompetenz nutzen wir auch…

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wie Fahrrad oder Auto. Das hilft, sich schnell zurechtzufinden. Aber diese Kompetenz nutzen wir auch zur Einteilung von Menschen in verschiedene Gruppen.

Wer wird da wie kategorisiert?

Wir sprechen in der Psychologie von Ingroup und Outgroup, also wer zu den Gruppen gehört, zu denen wir uns zählen – und wer nicht.

Dieses Gruppendenken ist hilfreich, denn es erleichtert uns, uns selbst zu definieren: Wer wir sind, wird in Teilen davon bestimmt, welchen Gruppen wir uns selbst zurechnen und welchen wir von anderen zugewiesen werden: Unser Geschlecht, der Beruf, den wir ausüben, welchen Fußballverein wir präferieren, ist Teil unserer Identität.

Ist das schon Diskriminierung?

Wenn wir anfangen, Menschen zu kategorisieren, und uns dann mit einer bestimmten Kategorie identifizieren – zum Beispiel mit der Nation, der wir angehören –, kommt ein weiterer Mechanismus ins Spiel. Wir versuchen, unsere eigene Gruppe aufzuwerten. Das führt dann zum Beispiel zu einer starken nationalistischen Orientierung und der Abwertung derjenigen, die nicht dazugehören, also zu Fremdenfeindlichkeit. Wir sind toll, die nicht. Dabei werten wir nicht nur die Gruppe, sondern auch uns selbst auf.

Es gibt also kein Kategorisieren, ohne dass wir unsere eigene Gruppe aufwerten?

Wir erleben das Phänomen in den westlichen Gesellschaften in vielen Bereichen, möglicherweise weil es bei uns zum Standard gehört, besser zu sein als andere. Also versuchen wir, auch die eigene Gruppe besser zu machen als andere Gruppen. Manche Einwanderungsländer wie beispielsweise Kanada haben versucht, dem entgegenzuwirken, indem sie Multikulturalismus zur Grundlage ihres Zusammenlebens erklärt haben: Wir sind Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen kulturellen Gewohn­heiten, alle diese haben ihre Berechtigung, aber gemeinsam sind wir Kanadierinnen und Kanadier – und als solche gleich.

Läuft das Kategorisieren in Deutschland genauso wie in, sagen wir, Papua-Neuguinea ab?

Grundsätzlich ja, aber das Ausmaß, in dem wir bereit sind, abfällig über andere zu reden und ihnen so zu begegnen, wird von der Kultur beeinflusst. In einigen asiatischen Regionen fällt es zum Beispiel geringer aus als in Europa oder Nordamerika. Das hat vermutlich etwas damit zu tun, dass wir in der westlichen Gesellschaft mehr auf Konkurrenz ausgerichtet sind. Es gibt also weltweit Variationen von Fremdenfeindlichkeit. Dass sie irgendwo vollkommen fehlt, ist unwahrscheinlich.

Steckt das Verhalten folglich mehr oder weniger in uns allen, auch bei wenig voreingenommenen Menschen?

Wir alle wachsen in einer Gesellschaft auf, in der es fremdenfeindliche Stereotype über andersartige Gruppen gibt, und wir alle lernen diese Stereotype im Verlauf unserer Sozialisation. Menschen aus Afrika wird beispielsweise nachgesagt, sie seien laut und unpünktlich. Besonders alt ist das kulturelle Stereotyp über Menschen jüdischen Glaubens, von denen behauptet wird, sie könnten besonders gut Geldgeschäfte machen. Wir alle kennen diese Stereotype. Aber: Diejenigen unter uns, die wenig Vorurteile haben, unterdrücken das Aufkommen solcher Stereotype aktiv und versuchen, sie nicht zur Grundlage eigener Urteile zu machen.

Und das gelingt?

Es ist kognitiv anstrengend und benötigt aktives Gegenhalten. Kommen wir plötzlich in eine Situation, in der irgendetwas schiefläuft – an der Kasse im Supermarkt drängelt sich zum Beispiel jemand mit einer dunklen Hautfarbe vor –, dann fallen wir vielleicht doch auf fremdenfeindliche Stereotype zurück, nach dem Motto „Die sind ja so“. Uns fehlt in dem Moment einfach die kognitive Kapazität. Emotionen wie Ärger hindern uns daran, die aufkommenden Stereotype weiter zu unterdrücken. Auch Menschen mit wenig Vorurteilen laufen also Gefahr, dass ihnen eine Situation eskaliert.

Gibt es denn einen Sinn hinter der Ablehnung anderer Menschen?

Solche Stereotype werden konstruiert, um soziale Ungerechtigkeiten gegenüber „den Fremden“ zu rechtfertigen. Historische Analysen konnten beispielsweise zeigen, dass sich die rassistischen Bilder von Menschen aus Afrika erst mit dem Aufkommen der Sklaverei entwickelten. Denn natürlich haben die Menschen auch schon im 17. und 18. Jahrhundert erkannt, dass es gegen alle ethischen Vorstellungen verstößt, andere zu versklaven und ihnen sämtliche Rechte zu nehmen.

Wie kann man diese Ungerechtigkeit beseitigen? Indem man sich als weiße Gesellschaft einredet, dass Menschen aus Afrika faul und weniger wert seien als Weiße und an der Grenze zwischen Mensch und Tier anzusiedeln seien. Damit haben die Sklavenhalter legitimiert, die Menschen auszubeuten und zu misshandeln. Auf ähnliche Weise geschieht das heute noch, wenn wir uns die Abwertung von Geflüchteten anschauen, die versuchen, nach Europa zu kommen. Die brutale Abwehr von Menschen an den europäischen Außengrenzen wird damit gerechtfertigt, es handele sich bei ihnen doch in Wahrheit um Wirtschaftsflüchtlinge, die nur in die deutschen Sozialsysteme einwandern und sich die Zähne machen lassen wollten.

Hat Fremdenfeindlichkeit irgendeinen Nutzen für den Einzelnen?

Menschen, die wenig andere Möglichkeiten haben, positive Selbstbilder zu entwickeln, greifen gern auf Gruppenzugehörigkeiten zurück, um sich aufzuwerten: Wenn ich also in Deutschland schlecht zurechtkomme und mich am unteren Ende der Leistungsgesellschaft wahrnehme, dann kann ich mich erhöhen, indem ich auf meine nationale Zugehörigkeit zurückgreife, denn die kann man mir nicht nehmen. Unter anderem dieses Bedürfnis zur Aufwertung veranlasst uns, öffentlich verfügbare Angebote von Stereotypen über „die Fremden“ anzunehmen. Wir machen sie zu eigenen Überzeugungen und tragen zu ihrer Verstärkung bei.

Nun hat jeder Mensch eine andere Haltung gegenüber zugezogenen Menschen, und die verändert sich auch mit den Jahren. Wovon ist so eine Variation abhängig?

Das hängt zum einen davon ab, zu wem wir fremdenfeindlich sind. Denn es ist ja nicht so, dass wir alle Zielgruppen pauschal gleichermaßen diskriminieren und abwerten. Wen wir als nicht zu uns gehörend betrachten, hat sich historisch gesehen insgesamt wenig verändert: Menschen jüdischen Glaubens, Menschen mit dunkler Hautfarbe, Sinti und Roma, jetzt noch Muslime.

Andere zuvor ausgegrenzte Menschen hingegen wurden irgendwann akzeptiert. Denken Sie an die lange Feindschaft zwischen Deutschen und Franzosen. Die ist heute verschwunden, unter anderem auch wegen der gemeinsamen Gruppe, der EU.

Welche Gruppe gerade wie stark ausgegrenzt wird, hängt von zeithistorischen Umständen ab und den jeweils vorherrschenden politischen Überzeugungen. Aktuell sind Flüchtende besonders im Fokus der Ablehnung. ­Ukrainerinnen und Ukrainer werden jedoch nicht in dem Ausmaß abgelehnt wie zum Beispiel aus Syrien Geflüchtete.

Wie kommt es zu diesem Unterschied?

Das ist eine Mischung aus psychologischen und gesellschaftlichen Mechanismen. Sie erinnern sich: Mit Beginn des Ukrainekriegs haben europäische Politikerinnen und Politiker mehrheitlich erklärt, dass die Flüchtenden nach Westeuropa kommen könnten und keinen Asylantrag stellen müssten. Das hat sich positiv auf das Bild von Ukrainer-innen und Ukrainern ausgewirkt. Daran kann man sehen, wie politische Vorgaben auf das Maß an Fremdenfeindlichkeit in einem Land einwirken, nämlich Menschen aus einem anderen Land als befreundete oder befeindete Gruppe beschrieben werden.

Aber selbst die ukrainischen Flüchtenden kommen mittlerweile in den Generalverdacht, dass sie hier nur ihre Zähne machen lassen wollen…

Das stimmt, und das ist ein Beispiel dafür, wie eine immer hitzigere politische Diskussion der Fremdenfeindlichkeit in der Bevölkerung Vorschub leistet. Die Älteren werden sich erinnern: Italiener waren in den 1960er Jahren eine angefeindete Gastarbeitergruppe. Das ist heute völlig verschwunden. Italien ist ein integraler Bestandteil der europäischen Gemeinschaft geworden, weshalb Italienerinnen und Italiener als Ingroup wahrgenommen werden.

Bei Menschen mit einem türkischen Migrationshintergrund ist eine solche Veränderung nicht eingetreten. Dazu können die Bedingungen in Deutschland beigetragen haben: Türkische Migrantinnen und Migranten hatten jahrzehntelang nicht die Möglichkeit, die doppelte Staatsbürgerschaft zu beantragen. Das hat zu dauerhafter Ausgrenzung und Selbstausgrenzung geführt. Gleichzeitig ist der muslimische Glaube wahrscheinlich ein Unterscheidungsmerkmal, das in der Wahrnehmung von Deutschen das Gefühl des „nicht zu uns Gehörenden“ verstärkt. Wie groß die wahrgenommenen Unterschiede sind, spielt also schon eine Rolle. Wobei diese geringer werden oder verschwinden, wenn wir zum Beispiel die gemeinsame Begeisterung für Fußball in den Blick nehmen.

Was kann die Ablehnung vermeintlich fremder Menschen noch befeuern?

Sie nimmt immer dann zu, wenn „die anderen“ als Bedrohung erscheinen. Wir leben in einer Zeit, in der uns viele Dinge beunruhigen. Der Krieg in der Ukraine, Inflation, Pandemie, Klimakrise und so weiter. Unter solchen Umständen neigen wir oft zu einfachen Erklärungen, weil wir die komplexen Zusammenhänge hinter den Phänomenen nicht verstehen. Für viele ist daher die simple Erklärung hilfreich: Es sind die anderen, die Fremden, die dieses ganze Durcheinander veranstalten. Solche simplen Antworten können in Zeiten großer Verunsicherung beruhigen.

Krisen können also die Feindlichkeit verstärken. Was noch?

Fremdenfeindlichkeit ist besonders stark, wenn Konkurrenzgefühle auftauchen. Bis vor zehn Jahren waren Arbeitsplätze ein dominantes Thema. Es hieß dann: „Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg.“ Ob das stimmte oder nicht, war egal – es ging um das Gefühl, dass der eigene Status bedroht sei. Diese Konkurrenz besteht heute nicht mehr, ganz im Gegenteil: Deutschland sucht händeringend Arbeitskräfte.

Plötzlich kommen ganz andere Kon­kurrenzsituationen auf, nämlich eine massive Debatte darüber, dass Menschen aus anderen Ländern nicht in der Lage seien, unsere Werte zu teilen – oder dass sie uns körperlich gefährden könnten, dass Migrantinnen und Migranten also kriminell seien. Zugleich wächst die Furcht, dass Geflüchtete mit Menschen aus Deutschland um Sozial­leistungen und neuerdings auch um Wohnraum konkurrieren. Das sind die Themen, die die Fremdenfeindlichkeit derzeit anstacheln. Wenn es gelingen würde, diese Konkurrenzsituationen einigermaßen in den Griff zu bekommen, würde auch die Fremdenfeindlichkeit wieder sinken – wenn denn nicht wieder neue Bedrohungs- und Konkurrenzthemen aufgebracht werden.

Welchen Einfluss haben Politiker bei dem Ganzen?

Einen großen. Meine Empfehlung an die Politik ist, nicht leichtfertig Pro-bleme auf die Zuwanderung zu schieben. Es gilt, bestimmte Aussagen zu vermeiden – zum Beispiel eben, dass Asylsuchende nur hierherkommen, um sich die Zähne machen zu lassen. Es muss außerdem dringend geklärt werden, wie die Einwanderungspolitik und auch die Fluchtpolitik unter humanitären und ökonomischen Gesichtspunkten geregelt und durchgesetzt wer­den soll.

Die AfD argumentiert praktisch nur über die Frage der Einwanderung, sie schürt Ängste und bietet Scheinlösungen an. Das kann sie tun, weil die Politik der Mitte darauf keine vernünftigen Antworten gibt.

Kann ich Fremdenfeindlichkeit eigentlich auch verlernen?

Ja, man kann sie reduzieren und Beispiele entgegen den stereotypen Vorstellungen entwickeln. Dabei spielt etwa der Schulunterricht eine große Rolle. Die Schule hat auf junge Menschen großen Einfluss und erreicht alle im schulpflichtigen Alter.

Auch direkte Erfahrungen mit den Folgen von fremdenfeindlichen und rassistischen Ideologien sind bedeutsam, etwa durch Besuche von ehemaligen Konzentrationslagern. Sie machen deutlich, was wirklich passiert, wenn Menschen massiv diskriminiert werden.

Gibt es noch andere Ansätze?

Eine Strategie, die in der Sozialpsychologie vielfach empirisch als wirksam dokumentierte wurde, ist, Menschen die Möglichkeit zu geben, „die Fremden“ kennenzulernen. Fremdenfeindlichkeit lebt in starkem Maße davon, dass ich die anderen nicht kenne. Die Ablehnung von Fremden ist beispielsweise im Osten Deutschlands allen Umfragen zufolge höher als im Westen. Eine Erklärung ist: Im Osten Deutschlands leben weniger Menschen mit Migrationshintergrund. Man kennt sich nicht. Im Ruhrgebiet oder in Berlin ist das anders, und deshalb ist die Ablehnung dort auch geringer ausgeprägt. Wenn man „die Fremden“ nicht kennt, ist man für fremdenfeindliche Propaganda offener, weil man ihr keine persönlichen Erfahrungen entgegensetzen kann.

Beißt sich da nicht die Katze in den Schwanz? Gerade die größten Fremdenfeinde verweigern doch den Kontakt aufs Schärfste…

Das stimmt. Echte Fremdenfeinde neigen nicht dazu, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Sie wollen ihre Weltbilder nicht gefährden und immunisieren sich gegen Argumente und Erfahrungen, die ihren Überzeugungen widersprechen. Deshalb wäre es sinnvoll, neu hinzukommende Migrantinnen und Migranten in stärkerem Maße auch in Ostdeutschland anzusiedeln – was ja mittlerweile auch geschieht.

Denn wenn man beieinander lebt, kann man Kontakt oft nicht vermeiden, und das hilft – wenn man zum Beispiel merkt, dass der Kollege oder die Kollegin auf Arbeit eben nicht dem Feindbild entspricht, das ich von ihrer Gruppe hatte. Kontakte helfen besonders dann, wenn man sich auf Augenhöhe begegnet, miteinander kooperiert und gemeinsame Ziele verfolgt. Der Arbeitskampf von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit und ohne Migrationshintergrund ist ein Beispiel.

Ist es eine Utopie, an eine Gesellschaft ohne Fremdenfeindlichkeit zu glauben?

Ja, das ist so. Aber wir sollten diese Utopie weiterverfolgen.

Ulrich Wagner ist Professor für Sozialpsychologie im Ruhestand an der Philipps-Universität in Marburg. Er forscht unter anderem zur Prävention von Vorurteilen, Diskriminierung und Gewalt und ist Träger des Deutschen ­Psychologiepreises 2023.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2024: Aber danach fang ich wirklich an