Herr Grünewald, bei Gesprächen mit Bekannten fällt mir auf: Viele haben offenbar das Gefühl, in zwei Welten zu leben. Sie sorgen sich vor globalen Krisen, aber im nächsten Satz versichern sie: „Der Urlaub war schön, den Kindern geht es gut.“ Inwiefern lässt sich dieses ambivalente Gefühl zwischen dem krisenhaften Draußen und dem vermeintlich angenehmen Drinnen in Befragungen messen?
Angesichts der multiplen Krisen spalten die Menschen die Wirklichkeit auf – das beobachten wir in qualitativen und…
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der multiplen Krisen spalten die Menschen die Wirklichkeit auf – das beobachten wir in qualitativen und quantitativen Studien. Es existiert eine private Eigenwelt, in der man sich halbwegs geborgen fühlt und meint, alles im Griff zu haben. Bereits in unserer Zuversichtstudie im Sommer 2023 waren erstaunlich viele, nämlich 87 Prozent optimistisch im Hinblick auf ihr Privatleben.
Wirklich erstaunlich.
Auf der anderen Seite der Aufspaltung, also der äußeren Welt werden die Krisen verortet. In der Wahrnehmung haben sie mittlerweile fast so eine Art Zombiequalität – man kriegt sie nicht tot, sie kehren immer wieder: Jeden Herbst flammt Corona auf, der Klimawandel geht nicht weg, die Kriege im Gazastreifen und in der Ukraine auch nicht… Das verstärkt das Gefühl der Unverfügbarkeit. Die Menschen ziehen sich ins private Schneckenhaus zurück und spannen zwischen der eigenen Welt und der Außenwelt einen Verdrängungsvorhang.
Seit wann beobachten Sie das?
Corona hat die Rückzugsbewegung normalisiert. Der Lockdown war ein kollektiv verordneter Stubenarrest. Als Russland 2022 die Ukraine angriff, passierte aber noch etwas anderes: Die Menschen saßen wie die Kaninchen vor der Schlange und hofften, dass sich der Krieg nicht ausbreitet. Doch schon sechs Wochen später schilderten uns Befragte, der ständige Blick in den Kriegsabgrund verstöre sie. Sie gingen also wieder zu ihren Routinen über und guckten wieder weniger Nachrichten, um die Krisen auszublenden.
Für welche Teile der Bevölkerung gilt das? Eine ganze Reihe von Menschen lebt in Armut und kann sich gar nicht in ihr „schönes Privatleben“ zurückziehen. Ist die Aufspaltung in das schöne Drinnen und das krisenhafte Draußen also ein flächendeckendes Phänomen oder eher eines derjenigen, die sich das leisten können?
Tatsächlich haben diejenigen, die im Überlebensmodus sind und sich um Essen und Miete sorgen, hauptsächlich ihren Alltag im Blick. Früher wie heute können sie sich nicht den Luxus erlauben, sich mit äußeren Problemen wie Krieg oder dem Klimawandel auseinanderzusetzen. Aber in der breiten, bürgerlichen Mitte erleben wir jetzt diese Wirklichkeitsverengung: Es geht um eine Maximierung der Zuversicht durch die Minimierung des Gesichtskreises.
Beim Thema „Maximierung der Zuversicht“ haben Sie für das Unternehmen Unilever das Konsumverhalten untersucht und festgestellt: Supermärkte vermitteln uns Sicherheit. Warum gerade Supermärkte?
Menschen erleben gerade große Ohnmachtserfahrungen. Wir kommen ja aus einer technologischen Hybris. Vor Corona hatten wir den Eindruck: Wir haben alle ein Smartphone und können spielerisch die Welt beherrschen – mit einem Handstreich Transaktionen tätigen, tindern, Reisen buchen, das Weltwissen ergoogeln. In dieses „Die Welt wird immer verfügbarer“ rauschte mit Corona das große Unverfügbarkeitsgefühl hinein.
Auf einmal merkten wir: Wir sind sterblich und von unsichtbaren, viralen Feinden umgeben. Das ist traumatisch, weil man einen Feind hat, den man nicht sehen und nicht riechen kann. Was wir dann erlebt haben, war eine große Verlagerungsbewegung: Die Menschen haben erst angefangen zu hamstern, um sich handlungsfähig zu fühlen. Im zweiten Schritt haben sie wie wild geputzt, weil sie den Schmutz und damit sichtbare Feinde zur Strecke bringen konnten und sich sagten: Ich habe die Kontrolle über mein Haus. Im dritten Schritt wurden die Baumärkte gestürmt, um aufzurüsten.
Und dieses Verhalten ist so geblieben, obwohl die Pandemie vorbei ist?
Geblieben ist, dass die Leute uns schildern: „Im Supermarkt ist die Welt noch in Ordnung. Da kann ich wählen und habe Kontrolle.“ Solche Orte der Selbstvergewisserung sind selten geworden. In unserer Verbundenheitsstudie haben wir außerdem festgestellt: 87 Prozent der Menschen haben das Gefühl einer entzweiten Gesellschaft, 89 Prozent sagen, der Ton sei rauer und aggressiver geworden, und nur 9 Prozent haben Hoffnung, dass wir wieder mehr zusammenwachsen.
Wie hängt das mit Supermärkten zusammen?
Kurz gesagt: Egal ob Aldi oder Rewe – im Supermarkt erleben die Menschen noch ein Miteinander.
Weil es ein unpolitischer Ort ist?
Ja, weil es egal zu sein scheint, ob man mit dem Mercedes vorfährt oder mit dem Fahrrad. Und an der Kasse werden auch alle gleich behandelt.
Macht es für das Gemeinschaftsgefühl keinen Unterschied, ob bei jemandem billiges Toastbrot oder teurer Champagner im Wagen liegt?
Anscheinend nicht. Bei Aldi fühlten die Befragten eine Art brüderliche Gemeinschaft. Bei Penny war es sogar quasi eine Willkommenskultur: Alle dürfen rein, alle gehören dazu, die Obdachlose genauso wie der Gutbetuchte. Es gibt sogar Leute, die drei oder vier Mal am Tag einkaufen gehen, weil sie im Penny freundlich empfangen werden und sich damit eine Freude machen können.
Gilt das nur für herkömmliche Supermärkte? Zum Beispiel Bioläden sprechen ja durchaus ein bestimmtes Klientel an.
Wir haben vor allem herkömmliche Supermärkte angeschaut, aber es kann schon sein, dass zum Beispiel Bioläden keine so große Inklusionskraft haben, weil sich nicht alle die Produkte leisten können.
Apropos Produkte: Für den Konzern Unilever haben Sie Verbraucherinnen und Verbraucher auch konkret zu Lebensmitteln und Körperpflege befragt. Was ist Ihnen dabei aufgefallen?
Hautcremes zum Beispiel wurden früher mit Pflege assoziiert. Jetzt dienen sie eher dazu, sich buchstäblich ein „dickes Fell“ gegen die Krise zuzulegen und das sensible Ich zu schützen. Die Bedeutung hat sich für die Befragten also von „schöner leben“ zu „überleben“ verschoben. Auch Eiscreme ist schon immer ein klassisches Trostprodukt in den großen und den kleinen persönlichen Krisen. Menschen berichten uns zum Beispiel, wie sie beim Magnum die harte Schokolade, also sinnbildlich die äußere Problemschicht durchbeißen, dann langsam das Eis zum Schmelzen bringen und schließlich erleben, wie sich im Mund ein süßes Nirwana ausbreitet, das für einen Moment alle Probleme vergessen lässt. Gewissermaßen ein oraldramaturgisches Erlebnis.
Spielt es für Verbraucherinnen und Verbraucher eine Rolle, welche Krise für sie im Vordergrund steht, oder ist die Denkrichtung immer gleich, nämlich: „Es gibt Krisen, welcher Art auch immer. Also brauche ich etwas zum Überleben“?
Vielleicht noch mal zu den grundlegenden Mechanismen. Ich hatte vorhin ja von einem Verdrängungsvorhang gesprochen, den die Menschen zwischen der eigenen Welt und der Außenwelt spannen. Dieser Vorhang ist im unteren Teil transparent. All das, was im Alltag das eigene Schneckenhaus tangiert, nehmen die Menschen durchaus wahr. Wenn man fragt: „Was sind für Sie wichtige Themen?“, sagen 73 Prozent: „Die Inflation.“ 63 Prozent sagen: „Politische Unsicherheit.“ Beim Thema Klima sind es nur 36 Prozent, weil das Thema ausgeblendet wird. Hinzu kommt – für den Gedanken brauche ich jetzt etwas Raum …
Bitte sehr!
Der russische Angriffskrieg folgte einer Eskalationslogik. Die Leute waren kurzzeitig gebannt und ständig mit dem Ereignis beschäftigt. Aber weil die Eskalation in Richtung Weltkrieg ausblieb, schwand die Aufmerksamkeit. Der Klimawandel dagegen folgt einer linearen Logik.
Das heißt?
Es gibt eine Vorhersage: Die Erdtemperatur steigt um 1,5 oder 2 Grad. Das wirkt berechenbar und dadurch beruhigend. Wenn nicht gerade etwas eskaliert und es zum Beispiel eine Flutkatastrophe gibt, wähnen sich die Menschen in einer trügerischen Sicherheit und Berechenbarkeit und hoffen, dass der lineare technische Fortschritt den linearen Fortschritt der Klimakrise überholt.
So nach dem Motto: Ich weiß, was passiert, und wenn ich wollte, könnte ich noch eingreifen?
Ja, aber ich muss ja gar nicht eingreifen. Im Moment ziehen die Leute erst mal einen Gewinn aus dem Klimawandel – das Frühjahr 2025 war warm, man konnte draußen sitzen. Im Winter zuvor haben wir Heizkosten gespart. Es ist wie mit dem Frosch in der Fabel: Wenn man ihn ins kochende Wasser schmeißt, springt er panisch aus dem Bottich. Wenn man ihn ins lauwarme Wasser setzt und linear verkocht, dann lässt er sich verkochen.
Sehr interessant. Und bevor es den Verdrängungsvorhang gab, haben wir rationaler auf den Klimawandel geblickt?
Fridays for Future war ein Weckruf, aber der ging ja sehr entspannt zu – Händchenhalten auf der Straße mit Eltern und Lehrerinnen.
… im Gegensatz zu den Aktionen der Letzten Generation.
Die Letzte Generation belebt zentrale Ängste der Deutschen. Denn die größte Angst der Deutschen ist die Angst vor Ohnmacht. Die zweitgrößte Angst ist die vor sozialem Klimawandel, also der Entzweiung der Gesellschaft. Über beides haben wir vorhin gesprochen. Die drittgrößte ist die Angst vor dem deutschen Substanzverlust, also dass Made in Germany zu Marode in Germany wird. Erst an vierter Stelle steht die Angst vor dem Klimawandel. Das Problem bei der Letzten Generation war, dass ihre Aktionen die erste und zweite Angst belebt haben – und mittelbar sogar die dritte Angst, weil Menschen nicht zur Arbeit fahren konnten und die Produktivität gelitten hat. Das erklärt, warum diese Gruppe so unbeliebt ist. Im Vergleich zur Klimakrise erscheint der festgeklebte Aktivist zudem als Problem, das sich buchstäblich leicht lösen lässt.
Die einen glauben also, man müsse die Klimaktivisten von der Straße entfernen, die anderen gehen drei- bis viermal am Tag zum Supermarkt, um sich kurzfristig besser zu fühlen. Welche langfristigen Lösungsstrategien legen sich Menschen angesichts der Krise zurecht?
Über vieles haben wir schon gesprochen, aber zusammengefasst haben wir sechs Lösungsstrategien beobachtet: Hauptsächlich war das der Rückzug ins Private – das sagten 93 Prozent. 44 Prozent stürzen sich in Betriebsamkeit, also zum Beispiel in ihre Arbeit. 86 Prozent fokussieren sich auf Freizeit und Urlaub. 83 Prozent schaffen sich Ordnung im Kleinen – nicht nur im Haushalt, sondern auch über Vereinsarbeit, um sich zu vergewissern: Wir sind nicht ohnmächtig. 50 Prozent verfolgen mediale Vorwärtsverteidigung. Das bedeutet: Viele haben immer ein Auge am Ticker um von etwaigen Hiobsbotschaften nicht kalt erwischt zu werden. Die sechste Strategie ist die Untergangs-dramatisierung: 43 Prozent der Befragten legen Vorräte an, manche wollen auswandern, weil sie das Schlimmste befürchten.
Manche Strategien klingen nicht so gesund.
Vielleicht am Problematischsten ist die erste Strategie, die oft auch zu einer sozialen Abschottung führt: Der Freundeskreis wird zum Bollwerk. Diese sozialen Bollwerke entwickeln eine Wagenburgmentalität. Wer im Bekanntenkreis andere Meinungen vertritt, wird als „anstrengend“ empfunden und aussortiert. Sich abzuschotten und nicht mehr miteinander im Austausch zu sein ist für eine demokratische Gesellschaft fatal. Es entstehen Meinungssilos, gewissermaßen also eine Silodarität statt einer Solidarität.
Heißt das auch, dass es bei den Parteieintritten nach dem Bruch der Ampelkoalition vielleicht gar nicht darum ging, das private Schneckenhaus zu verlassen und die Demokratie zu stärken? War das in Wahrheit ein „Ich versichere mich der eigenen Meinung und umgebe mich mit Gleichgesinnten“?
Ja, beide Motive spielen sicherlich eine Rolle. Und es ist wirklich die Frage, wie wir wieder eine produktive Streitkultur bekommen, die auf Bereitschaft zu Kompromissen baut.
Was wären konstruktive Lösungsansätze im Kleinen – statt den sechs von Ihnen genannten? Geht man zur Nachbarin und klingelt mal, obwohl man sie nicht mag?
Zumindest sollte man sie nicht runtermachen, wenn man sie trifft, oder sie „aussortieren“. Man sollte seine Sicht klarstellen, aber dem anderen mit Respekt begegnen. Und es gibt ja durchaus noch Situationen, in denen Verbundenheit zu spüren ist.
Nämlich?
Bei der Energiekrise. Es gab ein geteiltes Bedrohungsszenario: Wir werden alle im Kalten sitzen und es werden Blackouts bevorstehen. Das wollten wir nicht erleben, so die kollektive Übereinkunft. Der Sinn, am Thermostat zu drehen, lag unmittelbar auf der Hand. Jede Person konnte dadurch Selbstwirksamkeit erleben. Alle zogen mit, auch Politik und Industrie.
Bis zum Streit um das Heizungsgesetz.
Ja, da ging die gemeinsame Perspektive wieder verloren. Aber was ich sagen will: Es gibt noch Möglichkeiten, der Entzweiung der Gesellschaft entgegenzuwirken. Die Menschen brauchen klare Handlungsoptionen, sie müssen Handlungen als sinnvoll erleben und Selbstwirksamkeit spüren können. Und sie müssen das Gefühl haben, dass es gerecht zugeht. Gerade haben wir einen Wirksamkeitsstau. Es gibt sehr viel Energie in der Bevölkerung, die sich destruktiv in Wut, Lethargie oder Trauer kanalisiert. Das zu ändern ist auch eine Frage der politischen Kommunikation.
Stephan Grünewald ist Psychologe, Sachbuchautor und Marktforscher. Er ist Gründer und Managing-Partner des Rheingold-Instituts für qualitative Markt- und Medienanalysen. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Trend- und Gesellschaftsforschung
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Stephan Grünewald: Wir Krisenakrobaten. Psychogramm einer verunsicherten Gesellschaft. Kiepenheuer & Witsch – erscheint voraussichtlich im Oktober 2025