Hat die Natur erst mal die nasskalte Pferdedecke namens Winter abgeworfen, triumphiert sie mit sprießenden Krokussen und Weidenkätzchen. Und noch ein untrügliches Zeichen deutet darauf hin, dass der Frühling Einzug hält: Die Eisdielen öffnen.
Dann kann man sich bald wieder, von einer wärmenden Sonne beschienen, draußen aufhalten und sich auf den bereitgestellten Stühlen und Bänken dem Genuss in Kugelform hingeben. Aber der Eissalon ist so viel mehr als nur ein Saisongeschäft.
Eisdielen schaffen Zugehörigkeit
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hingeben. Aber der Eissalon ist so viel mehr als nur ein Saisongeschäft.
Eisdielen schaffen Zugehörigkeit
Für viele Menschen ist er ein Wohlfühlort, ein favorite place, der sowohl individuelle als auch soziale Bedürfnisse befriedigt. Zudem verbinden wir mit ihm viele positive Erinnerungen, wie der Psychologe Kalevi Korpela 1992 in einer Untersuchung in Finnland bestätigt fand.
Er hatte 17- und 18-Jährige einen Essay über ihre favorite places schreiben lassen. Als Lieblingsorte erwiesen sich außer der Wohnung – und dort vor allem dem eigenen Zimmer – Treffpunkte im öffentlichen Raum wie Bistros und Cafés. Manche Orte sind persönlich wichtig, weil – so die Begründung der Jugendlichen – man sich dort sicher und zugehörig fühlt und gleichermaßen Zuschauerin sein darf.
Wie geraten wir in den süßen Rausch?
Kaum setzt man einen Fuß in das Venezia, Dolomiti, Eiskimo oder Chill Cup, sind alle Sinne aktiviert: Man sieht den kunstvoll dekorierten Eisbecher, hört die Espressomaschine schnauben und hat den Duft von dunkler Schokolade in der Nase. Auch die empirische Forschung lässt die Nascherei, die den Griechen der Antike als Speise der Götter galt, nicht kalt. An vorderster Front befinden sich die Ernährungsfachleute, die sich mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen beschäftigen.
Dass die kühle Köstlichkeit Glücksgefühle hervorrufen kann, lässt sich nach Aussage der ernährungspsychologischen Beraterin Silvia Schmidt aus der Schweiz darauf zurückführen, dass beim Verzehr bestimmte Hirnregionen aktiviert werden und der Botenstoff Serotonin, als „Glückshormon“ bekannt, ausgeschüttet wird.
Schmidt hat Zucker als Treibstoff fürs Gehirn bezeichnet, und zweifellos ist Eis reich an Zucker. Der wiederum triggert unser limbisches Belohnungssystem und versetzt uns in einen süßen Rausch.
Im Labor schmeckt's nicht so gut
Macht es einen Unterschied, wo wir uns an Stracciatella, Schokolade oder Salted Caramel erfreuen? Dieser Frage ging der Psychologe Charles Spence mit seinem Team nach. Der Oxford-Forschende ersann dazu ein Experiment, bei dem er zwar die Sorte festlegte, die Umgebung, in der diese verspeist werden durfte, jedoch variierte:
160 Versuchsteilnehmerinnen bekamen Schokoladeneis entweder im Forschungslabor, an einer Bushaltestelle, auf dem Universitätscampus oder in einer Eisdiele serviert. Die Probanden wurden gebeten, ihr Geschmackserlebnis am jeweiligen Testplatz zu bewerten.
Und siehe da: Die Eisdiele erwies sich als der eating context, in dem die Süßspeise am besten schmeckte. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermuten, dass sich das stimmige Ambiente und die gesellige Atmosphäre positiv auf die geschmackliche Wahrnehmung auswirkten – anders als es an einer unwirtlichen Bushaltestelle oder in einem sterilen Forschungslabor der Fall sei.
Drei Dimensionen des räumlichen Gesamteindrucks
Orte und Umgebungen sind nicht nur Erfahrungs- und Handlungsräume, sondern immer auch gestimmte Räume, die gefühlsmäßig erlebt werden. Entscheidend sind dabei nicht in erster Linie einzelne Merkmale wie zum Beispiel die Farbe der Wände, sondern immer der Gesamteindruck, der im Wesentlichen auf drei Dimensionen beruht:
Man fühlt sich dort wohl, erstens weil die Atmosphäre angenehm ist, zweitens weil man angeregt wird und drittens weil man sich nicht klein und unbedeutend fühlt, weil die Menge anwesender Menschen überschaubar und der Ort „kleinräumig“ ist.
Bei Lieblingsorten stimmt die Größenordnung. Sie schüchtern nicht ein und überwältigen nicht wie beispielsweise eine monumentale gotische Kathedrale oder ein raumgreifender Hochhauskomplex. Der Eissalon ist ein relativ schlichter Ort ohne luxuriöses Ambiente.
Die Eisdiele als perfekter „third place“
Für eine Kugel Eis reicht das Kleingeld oder auch das Taschengeld. Das macht das Lokal geradezu zu einem Musterbeispiel für einen „dritten Ort“.
Third places nennt der US-amerikanische Stadtsoziologie Ray Oldenburg jene Stätten, weil sie hinsichtlich ihrer funktionalen Bedeutsamkeit unmittelbar hinter der Wohnung (first) und dem Arbeits- oder Ausbildungsort (second) rangieren. Oldenburg hat third places als Plätze charakterisiert, die freiwillig, wiederholt und gern aufgesucht werden. Man hat dort positive Erfahrungen gemacht, so dass man immer wieder gern dort hingeht.
Ich würde sie als unspektakuläre, alltägliche, unverwechselbare Orte charakterisieren, die leicht zu erreichen sind. Es gibt nur diesen einen Ort, der so aussieht. Es kann ein Brunnen oder eine Skulptur sein, der den Ort einzigartig macht, oder ein großer Lindenbaum vor der Eisdiele, in dessen Schatten man vor allzu viel Sonne geschützt sitzen kann. Vorher hat man sich noch ein Eis besorgt.
Dr. Antje Flade ist promovierte Psychologin mit Schwerpunkt in der Umweltpsychologie. Ihr neuestes Buch: Psychologie des Alltagslebens. Mehr Selbsterkenntnis und Selbstwirksamkeit ist 2022 bei Springer erschienen.
Quellen
Kalevi M. Korpela: Adolescents’ favourite places and environmental self-regulation. Journal of Environmental Psychology, 12/3, 1992, 249–258
Barbara Buenaventura: Glücklichmacher: 7 Grunde, diesen Sommer Eiscreme zu genießen. National Geographic, 6/2021
Antje Flade: Third Places – reale Inseln in der virtuellen Welt. Ausflüge in die Cyberpsychologie. Springer, Berlin 2017
Ray Oldenburg: The Great Good Place: Cafes, Coffee Shops, Bookstores, Bars, Hair Salons, and Other Hangouts at the Heart of a Community. Da Capo, Boston 1999
Yun Xu u.a.: Changes in flavour, emotion, and electrophysiological measurements when consuming chocolate ice cream in different eating enviroments. Food Quality and Preference, 77, 2019, 191–205