Wir hören, was wir fühlen

Was verändert sich, wenn Menschen einander zuhören? Diese Frage beschäftigt den Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen seit Jahren

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen sitzt freundlich schauen in einem Zimmer
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen ist heute Professor an der Universität Tübingen. © Daniela Reske für Psychologie Heute

Seit ich das erste Mal hier war, fasziniert sie mich, die Golden Gate Bridge, diese Ikone architektonischer Schönheit. Immer wieder kehre ich hierher zurück. Mitunter bin ich schon früh vor Ort, kurz vor Sonnenaufgang, noch in der Dunkelheit. Und manchmal, in besonderen Momenten, wirkt der Himmel über der Brücke, kaum ist die Sonne dann da, als stünde er in Flammen. Dann rasen Wolkengebilde, Wesen der Luft und des Himmels, über die Bucht von San Francisco, verhüllen für Momente das orangerote Leuchten der…

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der Luft und des Himmels, über die Bucht von San Francisco, verhüllen für Momente das orangerote Leuchten der Brücke, umspielen die stählernen Träger und Trossen dieses Jahrhundertbauwerks, das sich hier mehr als zwei Kilometer lang über das Wasser spannt, ein eigentümlich filigran wirkendes Monument aus 900000 Tonnen Stahl und Beton, das Menschen rund um den Globus in seinen Bann schlägt.

Über zehn Millionen Besucherinnen und Besucher kommen Jahr für Jahr hierher. Und vielleicht ist die Schönheit der Brücke einer der Gründe, warum man das Leid und das Sterben ignorierte, das sich hier abspielte, vor aller Augen und von Anfang an.

Ein Jahr vor der Eröffnung am 27. Mai des Jahres 1937 prahlt der Chefingenieur Joseph Strauss, das Bauwerk sei praktisch suizidsicher. Zehn Wochen nach der feierlichen Eröffnung springt Harold Wobber, Veteran des Ersten Weltkriegs, in den Tod. „Weiter gehe ich nicht“, lautet nach allem, was man weiß, sein letzter Satz, den er einem Fremden zuruft. Seit diesem Tag stürzten sich nach offiziellen Angaben 1800 Menschen von der Brücke, die Dunkelziffer dürfte höher sein. Viele sprangen in der Erwartung eines schnellen, sicheren Endes, manche gefangen in der Illusion, in das eiskalte Wasser wie in eine andere, bessere Welt einzutauchen.

Eine Abschiedsnotiz an die Brücke selbst

Die Fakten sprechen eine brutalere Sprache: Wer in den knapp 70 Meter tiefen Abgrund springt, dessen Körper schlägt nach drei bis vier Sekunden mit einer Geschwindigkeit von 120 Kilometern pro Stunde auf einer Wasseroberfläche auf, die hart ist wie Beton. Lungen und andere Organe werden von zersplitterten Rippen durchbohrt, man wird von der Strömung in die Tiefe gerissen, ertrinkt im eigenen Blut. Und doch: Über die Jahre entsteht ein bizarrer Suizidkult rund um die Brücke, befeuert von grau­samen Initiativen. Es gründet sich etwa ein Wettclub, die Golden Gate Leapers Association, gruppiert um die Frage, an welchem Tag der Woche der nächste Mensch in den Tod springen wird. Wieder und wieder muss jemand von dem Versuch abgehalten werden, über das nur 1,20 Meter hohe Geländer zu klettern. Einmal hinterlässt einer der Verzweifelten, bevor er in die Tiefe stürzt, eine Abschiedsnotiz, die er nicht an Familie oder Freunde richtet, sondern an die Brücke selbst. „Warum“, will er wissen, „machst du es so einfach?“

Der 21. Juni 2021, früher Abend. Ich bin erneut auf der Golden Gate Bridge, dieses Mal ohne Blick für die monumentale Eleganz des Bauwerks, sondern mit einem Buchplan im Gepäck und einer Forschungsfrage im Kopf. Es ist eine Frage, die mich schon Jahre umtreibt, ohne dass ich zu diesem Zeitpunkt sagen kann, warum sie mich so fasziniert und was sie eigentlich mit mir selbst zu tun hat; das alles ist noch unklar. Aber die Frage ist da, immerhin. Sie lautet: Wie kann Zuhören das Leben verändern, in neue Bahnen lenken? Und was heißt es überhaupt, wirklich zuzuhören? Donnernder Verkehrslärm. Kalter Wind bei immer noch tiefblauem Himmel. Und hier stehe ich nun, fast in der Mitte der Brücke, nicht weit von jenem Ort entfernt, den sich die meisten Menschen für ihren Todessprung aussuchen; neben mir Kevin Briggs, ein eher kleiner, muskulöser Mann mit einem von der Sonne gegerbten Gesicht.

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hält eine Fotografie in den Händen
„Schutzengel von der Golden Gate“: Polizist Kevin Briggs versucht täglich suizidale Menschen zu retten
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hält eine Fotografie in den Händen
„Schutzengel von der Golden Gate“: Polizist Kevin Briggs versucht täglich suizidale Menschen zu retten

Briggs hat in seinen knapp zwanzig Dienstjahren als Verkehrspolizist der California Highway Patrol über zweihundert suizidgefährdeten Menschen geholfen, den entscheidenden Schritt zurück zu tun. Nur zwei Menschen konnte er nicht vom Sprung abbringen. Als „Schutzengel von der Golden Gate“ ist er weit über die Region hinaus bekannt. Und ich bin hier, um seine Form der existenziellen Krisenkommunikation zu begreifen, die er sich selbst beigebracht hat, ohne ein Psychologiestudium. Wie hat er, der Polizist in der beigefarbenen Uniform, sich den Menschen genähert, die da – verstört, verzweifelt, hoffnungslos – auf dem schmalen Vorsprung unterhalb des Geländers einen Schritt weit vom Abgrund entfernt standen? Wie hat er verhindert, dass die prekäre Situation plötzlich kippt, ein falsches Signal den letzten Faden zum Leben zerreißt? Und wie ist es ihm gelungen, eine Verbindung zu schaffen, Vertrauen aufzubauen, so viel, dass die Menschen am Ende die ausgestreckte Hand ergriffen und zurück über das Geländer stiegen?

Kevin Briggs, heute Berater für Suizidprävention, zeigt mir Schritt für Schritt und Wort für Wort wie er so viele Male vorgegangen ist. Er läuft jetzt ganz langsam auf einen imaginären Todesspringer zu, vorsichtig, konzentriert. Ich gehe neben ihm her, mache mir Notizen. Er würde sich nun die Jacke ausziehen, sagt er, weil auch der andere, den wir uns vorstellen, nur ein T-Shirt trägt und im Wind zittert und friert und Briggs spüren will, was der andere spürt, so weit das eben geht. Dann erst einmal stehenbleiben, so sagt er, vielleicht ein stilles Gebet sprechen, die Hand heben. Die erste Frage stellen: „Hallo, ich bin Kevin; ist es okay, wenn ich ein Stück näherkomme und mit dir spreche?“ Es ist eine Frage, die ermächtigen soll, gerade im Moment des erlebten Kontrollverlustes.

„Du hast viel durchgemacht, wirklich“

Niemals die eigene Anspannung herausschreien, sagt Briggs. Niemals durch Kalendersprüche – „Morgen ist wieder ein neuer Tag!“ – die Gefühle des anderen kleinreden. Es gilt vielmehr, diese Gefühle zu bestätigen und zu normalisieren, zum Beispiel so: „Du hast viel durchgemacht, wirklich…, das klingt echt hart.“ Nicht von sich erzählen. Die Polizistenrolle abstreifen. Vornamen verwenden; je persönlicher die Kommunikation, desto besser. Dann die Kollegen anmorsen, dass sie den Verkehr in beide Richtungen stoppen, die Schaulustigen zurückdrängen, die äußeren Ablenkungen reduzieren. Das Tempo rausnehmen. Zeit gewinnen. Im Zweifel ein paar Sekunden warten, bevor man selbst wieder etwas sagt.

Und erneut: Bloß nicht moralisieren! Niemals Vorwürfe machen! Irgendwann die Wahrnehmung durch knappe Zwischenfragen weiten, die dem anderen in seiner Not signalisieren, dass er wertvoll ist und Verantwortung trägt, für sich und für andere, die ihn vielleicht brauchen. Und dann vor allem zuhören. Erst durch das Zuhören, die untergründig wirksame Supermacht der Kommunikation, sagt Briggs, entsteht eine Verbindung, über die ein Mensch ins Leben zurückkehren kann.

Einmal spricht er mit einem Obdachlosen, der ihm erzählt, dass er einen Goldfisch besitzt. Und da ist er, der Ansatz, der die Aufmerksamkeit von den Todesgedanken wegzieht. Er fragt nach. Er will wissen, wie der Goldfisch heißt. Er will wissen, wer ihn in der Notunterkunft füttern wird, wenn er jetzt springt. Schließlich klettert der Mann auf die Brücke zurück, um seinen Goldfisch zu retten, an den er in seiner Verzweiflung nicht gedacht hatte.

Ein andermal wird Kevin Briggs durch einen Funkspruch alarmiert. Dieses Mal ist ein junger Mann mit Namen Kevin Berthia über das Geländer gestiegen, steht auf dem Vorsprung unterhalb des Gehwegs, klammert sich, mit dem Rücken zum Abgrund, an den Eisenstäben des Geländers fest, starrt auf seine Füße. Eineinhalb Stunden lang hört Briggs ihm zu, die Arme auf das Geländer gelegt, das Gesicht zu Berthia so tief hinabgebeugt, wie es geht, ein halber Meter Abstand zwischen ihren Köpfen. Er hört, wie der junge Mann von seiner kleinen Tochter erzählt, die krank ist, von den Arztkosten, die sich wie ein Berg vor ihm auftürmen, von der Scheidung seiner Adoptiveltern, die ihn belastet, von seinem Gefühl, ein Versager zu sein. Briggs fragt Berthia schließlich, was sein Kind denken würde, wenn es älter wäre und erfahren müsste, dass es keinen Vater mehr hat.

89 Minuten einfach nur zuhören

Exakt 92 Minuten später lässt sich Berthia von Briggs und seinen Kollegen über das Brückengeländer helfen. 89 Minuten dieser Zeit habe Briggs einfach nur zugehört, wird Berthia später sagen, um dann hinzuzufügen, dass ihm diese Art des Zuhörens ein Gefühl des Angenommenseins gegeben habe, das er nicht kannte. Und dass es dieses Gefühl war, das ihn vom Sprung in die Tiefe abhielt. Erneut: Worin besteht sie, die eigentümliche Macht des Zuhörens? Was ist hier passiert?

Es gibt, so mein Grundgedanke, eine Art egozentrische Aufmerksamkeit, ein Ich-Ohr, geleitet von der Frage, ob das, was der andere mir sagt, mit dem übereinstimmt, was ich selbst glaube. Hier sind die eigene Weltwahrnehmung und das System der eigenen Urteile und Vorurteile bestimmend. Man hört mit dem Ich-Ohr vor allem sich selbst, geprägt von eigenen Filtern, Sehnsüchten, Ängsten. Und es gibt ein Du-Ohr nichtegozentrischer Aufmerksamkeit, regiert von einer ganz anderen Frage. Sie lautet: In welcher Welt ist das, was der andere mir sagt, sinnvoll und wahr? Hier verlieren die eigenen Urteile und Vorurteile an Bedeutung; hier versucht man, in die Welt des anderen einzutauchen, ihn wahrzunehmen.

Erkenne das andere als anderes – in seiner Fremdheit, seiner Schönheit, seinem Schrecken, so lässt sich der kategorische Imperativ des Du-Ohr-Zuhörens formulieren. Existenzielles, über das Selbst hinausweisendes Zuhören ist so betrachtet eine „Metapher für Offenheit“, für „innere Gastfreundschaft“ und für die „Bejahung des anderen“, so die Sozialwissenschaftlerin und Musikerin Christine Thürmer-Rohr. Der Polizist Kevin Briggs hat mit dem Du-Ohr zugehört, aber auch – im unbedingten Bemühen, den anderen von seinem Vorhaben abzubringen – ein klares Ziel vor Augen gehabt, stets auf der Suche nach Ansatzpunkten, um ihm zu helfen. Aber wie gelingt es, vom gängigen Ich-Ohr-Zuhören in den Du-Ohr-Modus zu wechseln? Wann enden Ignoranz und Egozentrik? Wie entsteht geistige Offenheit?

Zuhören als Lebensrätsel

Das sind meine Forschungsfragen, die sich aber immer mehr zu einem Lebensrätsel wandeln und mich schließlich in den Kosmos eigener Erfahrungen hineinführen. Aber noch immer ist es nicht so weit. Noch immer verstehe ich nicht, warum mich das Zuhören derart umtreibt. Zunächst beginne ich über Jahre hinweg Fallstudien für ein Buch zum Thema zu sammeln – und reise dafür um die halbe Welt. Ich suche Kontakt zu Whistleblowern im In- und Ausland, die oft über Jahre hinweg auf ein Fehlverhalten aufmerksam machen. Jeder Skandal, so zeigt sich, beginnt mit fehlendem Zuhören im System einer Organisation. Immer ist da jemand, der sich bemüht, mit einer Warnung durchzudringen, oft ohne Erfolg.

Ich treffe mich mit Klimajournalisten der ersten Stunde und visionären Umweltpolitikerinnen, um zu begreifen, wie sich trotz der allgemeinmenschlichen Verdrängungsneigung ein ökologisches Gehör herauszubilden vermag, eine Sensibilität für die Verwüstungen im planetarischen Maßstab. Und fast drei Jahre lang begleite ich Misha Katsurin, einen Unternehmer aus Kiew. Kurz nach Beginn von Putins Angriffskrieg versucht Misha, seinen Vater zu erreichen, der in einem russischen Kloster lebt. Aber der Vater glaubt ihm nicht, dass wirklich Krieg ist. Was tut Katsurin, der Unternehmer? Er initiiert ein Dialogprojekt, das weltweit für Aufsehen sorgt, versucht Millionen von Ukrainern dazu zu bringen, ihre Verwandten in Russland zu kontaktieren, beraten von Psychologen. Seine Idee: Die Macht der Desinformation durch das Miteinanderreden und Einanderzuhören brechen. Misha Katsurin scheitert, weil im Krieg irgendwann auch die Dialogbereitschaft stirbt. Aber seine Versuche, das Gespräch über Propagandamauern hinweg am Leben zu erhalten, sind lehrreich und tief berührend.

Die Herangehensweise, die ich bei all diesen so unterschiedlichen Themen und Geschichten wähle, hätte der Sozialpsychologe Kurt Lewin action research genannt. Sinnliche Empirie, teilnehmende Beobachtung und Vor-Ort-Recherche, das Bemühen, wirklich in das Geschehen einzutauchen, ein Interesse an der Klugheit und Weisheit von Praktikerinnen – darum geht es. Es ist ein Ringen um eine andere Genauigkeit der Darstellung, die ich hier versuche, fernab von alarmistischen Verallgemeinerungen („niemand hört mehr zu!“), fernab der idealistischen Pauschalforderungen („man muss doch empathisch sein!“). Der Kontext ist die Botschaft, so lautet das Mantra meiner Kommunikationsanalysen. Und das heißt: Ohne die genaue Betrachtung der jeweiligen Situation und der beteiligten Personen kann man erst gar nicht erkennen, wo Hindernisse liegen. Und wo es Lücken gibt, die man nutzen kann, um zu einem freien, selbstbestimmten Handeln zu finden. Kommunikative Wahrheit, davon bin ich überzeugt, ist immer konkret.

Allerdings gibt es noch ein anderes, für mich lange nicht wirklich entzifferbares Motiv meiner jahrelangen Auseinandersetzung mit dem Zuhören, und es fällt mir schwer, darüber zu schreiben, gleich aus zwei Gründen. Zum einen gilt es, um dem Thema beizukommen, die eigene Subjektivität nicht zu verleugnen und die Vorstellung aufzugeben, man sei als Beobachter vom Geschehen, das man beschreibt, getrennt. Es lässt sich nicht länger so tun, so die Publizistin Kübra Gümüay, „als stünde man geschützt hinter einer verspiegelten Scheibe in sicherer Distanz“, um von dort aus mit „einem entfremdeten Blick die Welt und ihre multiplen Krisen zu erforschen – abstrakt, interessant!“. Niemand, so wird mir klar, denkt Jahre über die existenzielle Macht des Zuhörens und das Gelingen oder Misslingen von Kommunikation nach ohne eigene Motive und persönliche Interessen.

„In einem entscheidenden Moment meines Lebens habe ich selbst nicht wirklich zugehört“

Zum anderen ist es eine Tatsache, dass ich selbst in einem entscheidenden Moment meines Lebens nicht wirklich zugehört, beziehungsweise erst hingehört, dann aber vorschnell wieder weggehört habe. Erneut eine Szene, ein konkretes Bild: Das Jahr 2007, Besuch bei den Eltern in Freiburg. Und da stehe ich an der schönen alten Kirschholzkommode im Wohnzimmer, auf der sich stets die neuen Bücher finden, die irgendwer mitgebracht hat, blättere in den Erinnerungen des einstigen Reformpädagogik-Stars Hartmut von Hentig. Und bin verstört. Der angeberische Ton, diese „Ich kannte sie alle“-Prosa stößt mich ab, das Namedropping, das voller Selbstverzückung nachzeichnet, welche Berühmtheiten man kannte.

Und mich irritiert, dass ausgerechnet eine Person seltsam blass erscheint, nämlich der Lebensgefährte Hentigs. Sein Name ist Gerold Becker. Ein pädagogisches Wunderwesen sei er, ein Mann, der auch noch den schwierigsten Kindern helfen könne, so suggeriert Hentig. Aber das ist es dann auch schon. Mir kommt die überanstrengt wirkende Präsentation dieser Heiligenlegende so merkwürdig vor, dass ich mich spontan an den Rechner setze und Becker googele. Im Netz wird der Mann dann als pädokrimineller Missbrauchstäter kenntlich, der, protegiert von einer mächtigen Bildungselite, als Schulleiter an der Odenwaldschule sein Unwesen trieb. Manche der Jungen hat er, wie man heute weiß, hundertfach missbraucht. Kein Wort von all dem in der Hochglanzstory, die Hentig abliefert, obgleich manche Vorwürfe bereits 1999 in einem Artikel der Frankfurter Rundschau nachzulesen waren, den Jörg Schindler verfasst hat, ein junger Reporter, dessen Arbeit zunächst nahezu ohne Resonanz blieb.

Ich befrage nach diesem Lektüreerlebnis ein paar Monate lang Menschen, die Becker und Hentig kennen. Was ist dran an den Recherchen? Wieso hört niemand hin? Die Reaktionen: diffuse Formen der Tabuisierung, Ausflüchte, hingehauchte Appelle, die Ekelgeschichte doch nicht weiter zu verfolgen. Zur Wahrheit gehört, dass ich das Thema dann tatsächlich auch wieder fallenlasse und erst aufgreife, als Jörg Schindler 2010 noch einmal in der Frankfurter Rundschau nachlegt. Eigentlich veröffentlicht er denselben Artikel in derselben Zeitung noch einmal: Missbrauch an der berühmten Odenwaldschule! Das ganze Setting ähnelt damit einem faszinierenden medienwissenschaftlichen Experiment, weil man nun Resonanz und Reaktion zu zwei verschiedenen Zeitpunkten vergleichen kann. Und jetzt ist alles anders. Sämtliche Leitmedien steigen in die Berichterstattung ein. Fernsehsendungen und Filme in Serie. Zahllose Artikel. Nun beginnt das Zeitalter der Aufklärung auch für die Reformpädagogik, allmählich und unter massivem öffentlichem Druck.

Kipppunkte der Wahrnehmung

Und da ist sie wieder, meine alte Forschungsfrage, nun erneut in veränderter Gestalt. Sie lautet jetzt: Wie entstehen solche Kipppunkte der Wahrnehmung? Wie bildet sich kollektive Zuhörbereitschaft? Vor allem aber: Warum habe ich selbst erst hingehört, dann weggehört, schließlich wieder hingehört? Die entscheidende Antwort liegt, so wird mir schließlich klar, in meinen eigenen Schulerfahrungen. Denn ich kannte den Kontrast der Bilder, ich kannte den Widerspruch von Sein und Schein, der mich bei der Hentig-Lektüre und der anschließenden Netzrecherche so aufwühlte: Hier der charismatische, phänomenale Pädagoge, da die schaurige Hinterbühnenrealität.

Dieser Kontrast war mir im Prinzip vertraut, wenn auch durch weniger gravierende Erlebnisse. Meine Mitschüler und ich wurden an einer Freien Waldorfschule von einem sadistischen Klassenlehrer terrorisiert, der kein Missbrauchstäter war, aber ein Großmeister der vernichtenden Beschämung, auch er charismatisch, rhetorisch versiert, scheinbar unangreifbar. Er zwang meinen Freund Leon, der in Wirklichkeit anders heißt, sich vor der Klasse zu waschen. Er ließ Francesca, die ihre Tage hatte und zu ihrem Unglück eine weiße Hose trug, nicht auf die Toilette, bis sie durchgeblutet war. Er schickte Niklas vor die Tür, weil er nach dem plötzlichen Tod seines Vaters manchmal nicht mehr aufhören konnte zu weinen und einfach nicht mehr richtig funktionierte. Auch ich wurde attackiert und verspottet, verlor allerdings, je länger und intensiver ich in den letzten Jahren mit meinen einstigen Mitschülerinnen und Mitschülern sprach, meine egozentrische Illusion.

Vom Ich-Ohr zum Du-Ohr

Anderen war es deutlich schlechter ergangen. Und doch: Es war die allmähliche Entzifferung dieser Erfahrungen, es waren diese Gespräche, die mir schließlich den entscheidenden Schlüssel lieferten, um den Wechsel vom Ich-Ohr zum Du-Ohr und das Zuhören wirklich zu begreifen: Wir hören, was wir fühlen, so wurde mir klar. Und wir fühlen, was wir selbst erlebt haben, weil sich im Inneren etwas formt, was die Soziologin Arlie Hochschild eine Tiefengeschichte nennt, eine mal rein persönliche, mal kollektiv geteilte Deutungsmatrix aus Erfahrung und Erkenntnis, die sensibilisiert. Damit ist nicht gesagt, dass man nur zu hören vermag, was man selbst erlebt hat, sondern dass uns das Selbstdurchlebte feinfühliger werden lässt, offener, resonanzfähiger. Manche Lebensnarbe ist eigentlich ein Wahrnehmungsorgan.

Diese Einsicht ist es, die mir letztendlich hilft, die verstreuten Einzelanalysen und Recherchen zu verknüpfen und nach den Tiefengeschichten im Leben der Menschen zu suchen, denen ich begegnet bin. Nun setze ich noch einmal anders an, führe mit neuem Fokus erneut Interviews, achte auf biografische Motive, individuelle oder kollektive Schlüsselerlebnisse. Und schreibe, zunächst zögernd, tastend, in bewusster Distanz zu einer entrückten Akademikerprosa ein zweistimmiges Buch – als Wissenschaftler und als Mensch. Das heißt, ich lege im Ringen um ein befreites und befreiendes Sprechen und im Bemühen um eine erfahrungsnahe Sprache meine eigene Ignoranz- und Zuhörgeschichte offen, ordne das Material aus zehn Jahren Recherchearbeit ein allerletztes Mal.

Nun ist das Buch geschafft. Aber das Thema bleibt, das weiß ich. Erst vor ein paar Wochen ist mir eine Zeitungsnotiz in die Hände gefallen, die von der Golden Gate Bridge berichtet. Die Zahl der Todessprünge ist inzwischen drastisch gesunken, so heißt es hier. Nach Jahren der Diskussion, nach zähen Phasen des Planens und Bauens spannt sich entlang beider Seiten der Brücke inzwischen ein 224 Millionen Dollar teures, aus rostfreiem Stahl bestehendes, mehrere Meter breites Auffangnetz über die Tiefe, eine Suizidbarriere. Nun macht es einem die Brücke schwer, sich das Leben zu nehmen, endlich.

Mich hat die Meldung sofort elektrisiert und ich habe Kevin Briggs angerufen, den Meister des Du-Ohr-Zuhörens. Was ist hier passiert, wollte ich wissen. Das ist eine lange Geschichte, so hat er gesagt. Auch sie handelt vom Zuhören und vom Ende von Verdrängung und Ignoranz. Und sie erzählt von der schrittweisen Akzeptanz des Leidens der Angehörigen, die endlos für ein solches Netz kämpften, um weiteres Leid zu verhindern, und es schließlich bauen ließen mit jeder Menge eingeworbener Spendengelder. Ob wir uns sehen könnten? Vielleicht noch mal oben auf der Brücke? Aber klar doch. Man versteht im Konkreten und in der direkten Begegnung anders, besser und mehr, das habe ich am Ende dieser Erkenntnis- und Wahrnehmungsreise wirklich begriffen. Bald geht es los.

Der Essay – in unserer Serie schrieben zuletzt:

  • Maren Wurster über Unvollkommenheit und die Annäherung an eigene als fehlerhaft empfundene Körperstellen in Jenseits der Vollkommenheit, Heft 5/2025

  • Louise Brown über Unsicherheit, Stärke und die suggestive Macht des eigenen Vornamens: Mein Name ist Luise, Heft 2/2025

Alle Essays finden Sie hier.

Zwei Bücher von Bernhard Pörksen

  • Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen. Es geht um die Kunst des Zuhörens und das Ringen um das Gehörtwerden – gegen alle Widerstände. Wie entsteht, so die Leitfrage, geistige Offenheit? Und wie erreicht man diejenigen, die man eigentlich nicht mehr erreicht? Das Buch geht Fragen nach, die in diesem Essay ebenfalls Thema sind. Hanser 2025

  • Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. Wie entsteht Medienmüdigkeit? Und wieso ist Empörung oft reizvoller als Sachlichkeit? Das kluge Sachbuch zeigt, dass Medien­inhalte eine wichtige Stellschraube beim Schutz der Demokratie sein können. Goldmann 2021 (erweiterte Neuausgabe)

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2025: Heil bleiben im Beruf