Freundlich erglühen die Screens, ein normaler Morgen mit der Familie beginnt, ehe zwischen Schreibtisch, Schule, Praxis, Atelier und Werkstatt unterschiedliche Tagwerke warten. Wir plaudern beim ersten Schluck Kaffee, dem Biss in eine Banane oder ein Croissant über die Träume der vergangenen Nacht, manchmal wird ein tieferes, erkundendes Gespräch daraus. Und dann wandert die Aufmerksamkeit von den seelischen zu den elektronischen Bildwelten.
Vor ungefähr zehn Jahren haben wir angefangen, beim…
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von den seelischen zu den elektronischen Bildwelten.
Vor ungefähr zehn Jahren haben wir angefangen, beim Familienfrühstück zu spielen. Wir, das waren zunächst meine Frau und mein Bonussohn, später kam mein heute siebenjähriger dazu. Begonnen hat alles mit einer Wii, unserer ersten Konsole, auf der wir MarioKart spielten. Heute spielen wir an Handys, am Tablet, am PC verschiedene Spiele, mal nebeneinander, mal miteinander, und lassen einander am Verlauf teilhaben.
Problematisch? Das finde ich nicht. Einsame, auf Bildschirme starrende Wesen? Ganz und gar nicht. Eher haben sich kommunikative Muster herausgebildet, die alle mit einbeziehen, die sich einlassen wollen. Mir scheint, dass wir eine Ebene des Austauschs gefunden haben, mit der wir näher beieinander sein können, als dies in früheren Generationen der Fall war. Wenn ich an meine eigene Kindheit denke, möchte ich sagen: An die Stelle der väterlichen Verschanzfront Morgenzeitung sind kleine Bildschirme getreten, die allen offenstehen.
Es gibt viele Vorurteile gegenüber der Welt der Computerspiele. Sie sollen die Sprachentwicklung behindern, Aggressionen fördern und Fantasie töten. Als Therapeut, Forscher und vor allem als Vater mache ich andere Erfahrungen. Nimmt man an Games teil und spricht darüber, so leidet die Sprachentwicklung keineswegs, sie entfaltet sich eher. Wenn man in digitalen Welten miteinander interagiert, fördert das die soziale Kompetenz. Und was die Aggression angeht, so zeigen Studien von Christopher Ferguson von der Stetson University, dass sich ein linearer Zusammenhang zwischen Videogames und gewalttätigem Verhalten nicht nachweisen lässt.
Bildergeschichten, die der Entwicklung schaden?
Mich erinnert das, was heute über die Welt der Computerspiele vorgebracht wird, an Befürchtungen, die ein paar Jahrzehnte zuvor bereits in Bezug auf Comics lautwurden. Ich liebte Comics, sie hielten für mich in der Grundschule mehr Bildung bereit als jeder Unterricht. Zugleich erklärten uns wohlmeinende Lehrerinnen und Lehrer, warum alle Arten von Bildergeschichten unserer Entwicklung schadeten. Die meisten Erwachsenen kannten sich in diesem Bereich nur wenig oder überhaupt nicht aus. Sie wussten nicht, dass man mit Prinz Eisenherz Teile der Artussage neu erzählt bekam, dass die von Erika Fuchs übertragenen Donald Duck-Taschenbücher voll waren mit Zitaten von Uhland oder Schiller. Und dass mir die zweifellos harten Leutnant Blueberry-Geschichten mehr Wissen über den amerikanischen Westen vermittelten als jedes Geschichtsbuch.
Ich fürchte, selbst das hätte bei meinen Lehrerinnen und Lehrern keinen Meinungsumschwung bewirkt. In den 1970er Jahren, von denen hier die Rede ist, gab es die fragwürdige Ansicht, dass Comics die Entwicklung der kindlichen Fantasie behinderten. Denn statt sich selbst auszumalen, wie eine Kinderbuchfigur aussehen könnte, bekamen die Kinder fertige Bilder vorgesetzt. Als Kind hatte ich dem wenig entgegenzusetzen.
Wie hätte ich zum Beispiel nachweisen sollen, dass die Comics meine Fantasie nicht paralysierten, sondern befeuerten, indem ich die Geschichten weiterspann, neues Personal hinzudachte und damit anfing, Pferde, Colts, Flugzeuge nachzuzeichnen? Wie sollte ich belegen, dass das Lesen der Comics für mich Lust und Bildung in einem war, ein Gefühl für Qualität sich ganz von selbst einstellte, während die allzu erwachsenen, oft gestelzten und pädagogisch durchkomponierten „guten Kinderbücher“ jener Jahre vor allem Lese-Unlust hervorriefen? Dass ich, fasziniert von den großartigen Zeichnungen insbesondere der belgischen und französischen Abenteuercomics, auch einen ersten ernsthaften Berufswunsch entwickelte – Comiczeichner –, behielt ich natürlich für mich.
Erst einmal habe ich aber keine Comics gezeichnet, sondern Flugzeuge auf kleine Plättchen aus Pappe. Manche klein und wendig, Propellermaschinen. Andere Jets, schnell und kampfbereit. Bomber, groß, schwer und langsam. Helikopter, die in der Luft stehen konnten – wofür eine ganz bestimmte Bewegung stand, die ich dazu erfunden hatte. Weil es keine Spiele gab, in denen die Welten der Fliegercomics wie Buck Danny oder Dan Cooper aufgegriffen wurden, ging ich daran, so ein Spiel selbst zu entwickeln. Zu den Flugzeugen auf den Plättchen zeichnete ich auf einer Plane Häfen und Hangars sowie verschiedene Regionen ein, Berge, Wüsten, Meere. An den Bergen konnte man im Tiefflug zerschellen. Über den Wüsten konnte der Sprit ausgehen. Und immer weiter aufs Meer hinauszufliegen bedeutete, dass man das Spiel schließlich verließ und die betreffende Maschine für den Rest des Spiels ausschied.


Psychologe statt Gamedesigner
Den Psychologen, der ich heute bin, konnte man in all dem schwerlich vorausahnen. Aber ich studierte Psychologie und begann danach – das klingt schon wieder konsequent – ein Kunststudium. Doch der Junge, der ich gewesen bin, lebt noch in mir, und wenn ich ihn frage, was er heute anstreben würde, dann wäre die Antwort: Gamedesigner vielleicht? Ich habe vor diesem Hintergrund Sympathie für Heranwachsende, die mir in der Beratung gestehen, dass sie am liebsten Influencer oder Profigamerin werden würden. Es liegt ja auf der Hand, dass hier neue Karrieren erfühlt und angedacht werden, und diese orientieren sich ganz selbstverständlich an der vorgefundenen – eben auch stark digital geprägten – äußeren Welt.
Allerdings nicht nur. Denn die Heranwachsenden haben noch eine andere Sphäre in sich, die nicht allein aus Widerspiegelungen der äußeren Welt besteht – ihre Innenwelt. Diese erschließt sich eher mit geschlossenen Augen, beim Träumen, Meditieren oder in Trance. Und nur aus ihr kommt das, was Influencerinnen, Grafikerinnen und Storyteller der Gameindustrie interessant macht.
Es ist die Sphäre des Unbewussten, die auch einen Großteil meines therapeutischen Arbeitens bestimmt. In ihr werden wir nicht nur mit Wünschen oder geheimen Ängsten konfrontiert, sondern kommen auch mit der Welt der Archetypen in Kontakt. Sie wurde von Carl Gustav Jung erstmals umfassend erkundet, später in der psychedelischen Forschung weiter ausgemessen und hat heute Einfluss auf viele Bereiche von Therapie und Beratung. Archetypen sind Urbilder, die unser Verhalten prägen. Sie bringen uns mit wiederkehrenden menschlichen Erfahrungen in Kontakt und erscheinen uns oft eigentümlich vertraut. Es gibt Archetypen der Liebe und der Herrschaft, des Krieges und der Heilkunst, die auch oft mit der Magie verknüpft ist.
Diese Urmuster sind nie einseitig, sie haben helle und dunkle Seiten. So kann ein Krieger zum Helden werden oder zum grausamen Schlächter. Die Magierin kann das Bild der bösen Hexe herausbilden oder das der guten Fee. Was Menschen mit archetypischen Mustern erlebten, wurde in Mythen festgehalten, in Märchen vor konkrete soziale Hintergründe gestellt und liefert heute den Stoff, aus dem sich viele Drehbuchautorinnen bedienen. In den Avengers-Filmen zum Beispiel entspricht Captain America dem Heldenarchetyp, der auch unter persönlichen Opfern tut, was getan werden muss. Loki ist der Trickser, vielfältig begabt und charakterlich unzuverlässig. Black Widow entspricht der tödlichen Verführerin, Scarlet Witch dem Urbild der Magierin.
Mit ungewöhnlicher Macht
Die Harry Potter-Saga ruft ebenfalls archetypisches Material in uns auf. Harry tritt eine Heldenreise an. Sie beginnt, wie der Mythenforscher Joseph Campbell gesagt hat, meist mit einem Verlust – Harry ist ein Waisenkind. Er hat eine Aufgabe, die er erst nach und nach begreift. Nur er kann das Böse besiegen. Auf der Reise begegnet Harry dem Archetyp des alten Weisen in Gestalt Dumbledores, der ihm hilft, seine Bestimmung zu finden, der Einsichten in das besitzt, was anderen verborgen bleibt, aber keine väterliche Instanz ist, sondern selbst den Kräften des Schicksals unterworfen.
Auch viele Computerspiele sind von archetypischen Bildern geprägt. Von Heldinnen und Helden, düsteren Feindfiguren und Bedrohungen wie dem Weltende, das Menschen zu allen Zeiten fürchteten. Hexen und Magiern begegnen wir in vielen Spielen, wo sie sich durch ungewöhnliche Macht auszeichnen. Drachen können Endgegner sein oder hilfreiche Wesen, die gegnerische Befestigungen niederbrennen. Selbst Gestalten aus der griechischen, arabischen oder germanischen Mythologie werden in manchen Spielen lebendig, so in der Assassin’s Creed-Reihe. Man kann das abseitig finden, als Flucht vor der Wirklichkeit abtun. Aber abseitig ist daran nichts.
Vielmehr habe ich den Eindruck, dass die digitale Welt ökologische Nischen schafft für archetypische Bilder. Erich Fromm, obwohl er Jung nicht schätzte, meinte doch, dass in Archetypen eine vergessene Sprache lautwird, die immer wieder neu verstanden werden will. Wo wir uns mit diesen Bildern beschäftigen, dringen wir zur Basis unseres Menschseins vor, nicht zu den Fakten, aber zu den Erlebnisformen. Und setzen uns mit Kräften auseinander, die keineswegs vergangen sind, sondern auch heute noch wirken.
C.G. Jung und Clash of Clans
In meiner eigenen inneren Welt und meinen Träumen haben solche Bilder immer eine bedeutende Rolle gespielt. Ein intensiver Traum verflocht sie sogar mit der digitalen Welt: Ich lief darin auf einem Steg, der zwei Sphären voneinander trennte. Zu meiner Linken gähnte ein Graben, in dem sich mythische Wesen und Drachen regten. Zu meiner Rechten leuchtete ein hochtechnisiertes Labor, in dem Daten gewonnen und Antworten auf neue Fragestellungen gesucht wurden.
Ich empfand vor den mythischen Wesen, auch wenn sie gefährlich waren, keine Angst. Sie waren mir vertraut. Aber auch das Labor, ein Ort der Wissenschaft, hatte etwas mit mir zu tun. Zum Glück nötigte der Traum mich zu keiner Entscheidung und erlaubte, mich zwischen Mythologie und Wissenschaft zu bewegen. Ich habe diesen Traum einige Jahre vor meinem Einstieg in die Welt der Games gehabt. Aber erst als ich begann, diese Spiele und die dort auftauchenden Archetypen zu erkunden, fiel er mir wieder ein.
C.G. Jung und Clash of Clans – das könnte die Formel sein, die mein gegenwärtiges Berufsleben überschreibt. Jung steht dabei für die Welt der Archetypen, obwohl er diese Welt keineswegs allein beschrieben hat. Clash of Clans repräsentiert die Gamewelt, es ist ein weitverbreitetes Computerspiel, das gern von Kindern gespielt wird. Dort treten Barbaren, Bogenschützinnen und Walküren als kämpfende Truppen in Erscheinung. Auch Drachen kommen vor, was bei einem hochtechnisierten Spiel eigentlich verwundern könnte. Dass diese mythischen Wesen auch in aktuellen Games ihren Raum behaupten, kann man als Beleg dafür nehmen, dass die Welt der Träume und Mythen auch in digitalen Zeiten noch Bedeutung hat.
Saurier aus Eiern und eigene Dörfer auf dem Handy
Die Spiele, die ich mit meinen Kindern entdeckte, haben je nach Lebensphase, Altersstufe und Interessenlage gewechselt. Mario Run kann auch ein 4-Jähriger erkunden, Minecraft wird zumeist im Grundschulalter entdeckt. Allerdings hat mein jüngster Sohn mit Minecraft und elterlicher Unterstützung Lesen gelernt, als er noch im Kindergarten war. Jurassic Park Builder, bei dem man Saurier aus Eiern schlüpfen lässt und aufzieht, passt ebenfalls gut in die Grundschulzeit. World of Tanks und World of Warships sind kriegerische Spiele ohne erkennbares Blutvergießen, bedürfen aber der erwachsenen Begleitung.
Ich selbst mag Aufbauspiele, die auch auf dem Handy laufen. Ein Dorf, eine Siedlung, eine Basis aufbauen, Ressourcen beschaffen und für Formen der Verteidigung sorgen. Und am liebsten miteinander. Solche Spiele ohne beständigen Austausch zu spielen fiele mir wohl nicht ein. Ich habe beobachtet, dass sich mit dieser Art Spielen gesellschaftliche Grenzen so leicht überspringen lassen, wie das sonst nur durch Sport oder populäre Musik möglich ist. Ich erinnere einen jungen Mann, der im Zug zu uns hinüberblickte, als mein mittlerer Sohn und ich unsere Spielstände bei Fallout Shelter austauschten. Lächelnd zeigte er uns sein Handy, auf dem man einen perfekten Ausbau des unterirdischen Resorts sehen konnte, in das man sich bei diesem Spiel zurückzieht, nachdem eine Katastrophe die Erdoberfläche verstrahlt hat.
Wo die Risiken wirklich liegen
Und doch erlebe ich, wenn ich über Computerspiele spreche, immer dasselbe: dass nämlich die Risiken höher bewertet werden als die Potenziale. Mir scheint, dass hier ähnliche Muster wirken wie einst bei den Comics. Wer von den Games so gut wie nichts weiß, meint immerhin noch zu wissen, dass sie schädlich sind. Bewegungsmangel, Entfernung vom realen Leben, mögliche Suchtentwicklungen – zu jedem dieser Punkte gibt es etwas zu sagen, und in den allermeisten Fällen kann ich die Ratsuchenden beruhigen. All das wurde auch schon in Hinsicht aufs Fernsehen und aufs Lesen behauptet.
Die wirklich neuen Risiken treten – wie bei allen neuen Medien – erst allmählich auf. Sie bestehen zum Beispiel in Kurzsichtigkeit, wenn zu lange am Stück auf einen Bildschirm geschaut wird. Allerdings relativiert sich auch dieses Risiko, wenn man weiß, dass das auch fürs Lesen gilt. Und dass man der Kurzsichtigkeit entgegenwirken kann, wenn man zwischendurch ins Weite blickt und zum Ausgleich analoge Spiele spielt, bei denen man sich bewegen und über weitere Distanzen schauen muss.
Ein anderes Risiko ist das, was über die begleitende Kommunikation möglich ist: Die bei manchen Games, zum Beispiel beim aktuell populären Fortnite, parallel zum Spiel laufenden Chats und Kommentare bergen das Risiko verbaler Übergriffe. Und noch schwieriger ist, dass Erwachsene hier versuchen könnten, Zugang zu Kindern zu bekommen.
Utopie einer risikofreien Kindheit
Auch meine eigene Kindheit war nicht risikofrei. Mit etwa drei Jahren lief ich regelmäßig aus dem Haus und stieg in geparkte Autos ein, deren Fahrer vergessen hatten, sie abzuschließen. Einmal erstickte ich fast, als ich in einen alten Lieferwagen einstieg, die Tür hinter mir zufiel und ich erst nach langer Suche gefunden wurde. Noch ehe ich in die Schule kam, bin ich mehrfach in einen Wasserlauf gerutscht, an dem zu spielen natürlich streng verboten war. Wir stiegen in Rohbauten herum und kletterten über wacklige Leitern in die höheren Geschosse. In Bäume gestiegen bin ich oft; die Warnung, dass der große Kirschbaum morsche Äste habe, war mir egal.
Das Sozialleben war roh, und alles wertvolle soziale Miteinander habe ich erst ab etwa fünfzehn Jahren gelernt, als tiefe, bleibende Freundschaften entstanden und eine solidarische Clique allen Zugehörigen Halt gab. Bis dahin herrschten unschöne Gesetze. Misshandlungen unter Kindern waren an der Tagesordnung. Wir Kleineren fürchteten uns zu Recht vor „den Großen“, denn es gab einige unter ihnen, die ihre Macht gern gewaltsam demonstrierten.
Mit elf Jahren habe ich meine erste Zigarette hinter einem Apfelbaum im Garten geraucht. Mit zwölf war es normal für mich, mit dem Fahrrad weiter weg und in einen Wald zu fahren. Mit dreizehn stand ich in den Ferien um fünf Uhr auf, kochte mir schwarzen Tee, stärker als heutige Energydrinks, und lief zum Wildbach. Mit fünfzehn hatte ich meine erste Freundin, meinen ersten Vollrausch (Schnaps) und begann in meinem Zimmer zu rauchen, wovon mich weder Drohungen noch Strafen noch Lockmittel mehr abbrachten.
„Kinder sind die besseren Menschen“
Die Computerspiele, die es heute gibt, hätten mich glücklich gemacht. Vielleicht hätte ich online die Freunde und Mitkämpfenden gefunden, die ich mir wünschte. Von den Freundinnen und Freunden, die ich damals hatte, hätte einer gewiss mitgemacht – aber es wäre ihm ebenso gewiss verboten worden. Wir wurden behütet und eingehend gewarnt in Hinsicht auf Drogen, schlechte Gesellschaft und Erwachsene, mit denen wir niemals mitgehen durften. Von dem, was wirklich gefährlich war in dieser Welt, bekam niemand was mit.
Es war nicht so sehr die Gewalt. Die gab es, aber ich erlebte sie als eine Art Naturkatastrophe, an der sich nichts ändern ließ. Das wirklich Schlimme war der Mangel. Nämlich der Mangel an Gefühl für das, was ein Kind ist, wie es ist und was es will. Und warum es manchmal nicht anders kann, als genau das zu tun, was die Erziehenden schrecklich finden.
Dass ich mich selbst in den Kosmos oder besser in die Bibliothek der Spiele hineinbegab, hat mit diesen Erinnerungen und den sie begleitenden Gefühlen zu tun. Ich meine verstanden zu haben, dass wir nicht nur die Kinder in unserem Sinne heranbilden, sondern dass uns auch die Wege der Kinder etwas beibringen. Das ist keine Kitschfantasie à la „Kinder sind die besseren Menschen“. Wohl aber die Einsicht, dass das Kind mehr als die Erwachsenen mit dem in Fühlung steht, was kommt. Jung schrieb, dass der Kindarchetyp immer schon mit der Zukunft in Beziehung stehe. Und von Khalil Gibran stammt die Metapher, dass Erwachsene der Bogen sind, das Kind aber der fliegende Pfeil. Und der bewegt sich natürlich immer nach vorn. Und so würden wir da, wo wir möchten, dass ein Kind ähnlich aufwächst wie wir, nicht die Zukunft des Kindes anvisieren, sondern unsere eigene Vergangenheit.
Wie wir zum Begleitenden werden
Ich gebe zu, ganz einfach ist das nicht. Als ich eben mit dem Siebenjährigen Minecraft spielte und er alles, wirklich alles besser konnte als ich, brauchte ich meine ganze erwachsene Frustrationstoleranz, um damit zurechtzukommen. Aber das war früher schon ähnlich bei MarioKart, wo ich alle Unfälle und Abstürze zigfach erlebte, während mein mittlerer Sohn sich im Grundschulalter in kurzer Zeit zum Könner mauserte.
Indem wir dem folgen, was das Kind fasziniert, geben wir die ausschließlich führende Rolle ab und werden zu Begleitenden und Beschützenden für die nächste Generation, die das Leben auf ihre Weise erkundet. Im Kindarchetyp gibt es das Muster der kleinen Forscherinnen und Entdecker. Es wird ergänzt von archetypischen Bildern der Elternschaft, in denen zum Beispiel die Position des Vaters von einer tonangebenden immer mehr zu einer begleitenden, sichernden wird.
Ich glaube begriffen zu haben, dass es auch so etwas gibt wie einen Archetyp des Spiels. Als Urbild zeigt er rennende, einander fangende, Bälle werfende, rangelnde, sich versteckende und in Matsch, Sand oder Schnee wühlende Kinder. Oder aber Kindergruppen, die miteinander würfeln, Karten austauschen oder aus Klötzen Bauwerke errichten. Wo Kinder auf diese Weise in Erscheinung treten, da haben wir es, so meint etwas in uns, mit einer „richtigen Kindheit“ zu tun. Spiel wird dort fast immer als etwas Gemeinschaftliches verstanden. Das ist nicht falsch, aber doch zu eng. Ein Kind spielt auch, wenn es für sich allein im Sand zeichnet oder aus Steinen Türme baut. Oder in Minecraft eine eigene Welt. Auch das Spielen mit einer Dampfmaschine muss einmal etwas Verstörendes gehabt haben. Aufgefangen wurde dies nur durch eine Euphorie in Hinsicht auf die Industrialisierung.
Die archetypischen Bilder in uns
Heute gibt es diese Euphorie nicht mehr, eher greift eine Verstörtheit um sich. Die digitale Entwicklung hat ein hohes Tempo, und so angenehm manche entstehende Erleichterung ist, so irritierend ist doch die Erkenntnis, dass wir diese Entwicklung als Ganzes selbst nicht steuern können, sondern uns ihr anpassen müssen wie einer sich ständig erneuernden Umwelt, in der nur die Fittesten klarkommen. Hier helfen Archetypen nicht mehr weiter. Denn das digitale Zeitalter und seine Entwicklungen überschreiten ständig das, was an alten Bildern in uns wirkt. Es gibt ja keinen Archetyp für das Digitale und Virtuelle. Es kann ihn auch nicht geben, denn das gänzlich Neue ist das, bei dem wir nicht auf alte Vorbilder zurückgreifen können.
Meine Aufgabe sehe ich daher immer mehr im Brückenschlagen zwischen alter unbewusster Innenwelt und neuer digitaler Umwelt. Dabei beschäftigt mich besonders die Beziehung zwischen der Aufmerksamkeit für sich selbst und der für die virtuelle Welt. Archetypische Bilder gibt es ja nicht allein in Computerwelten oder Filmen. Wir finden sie in uns.
Aktuell habe ich einen Weg entdeckt, um Heranwachsenden, die in meine Praxis kommen, das Wechseln zwischen ihrer Innenwelt und den digitalen, äußeren Sphären attraktiver zu machen. Ich erzähle ihnen von „MeTube“, der Welt der inneren Videoclips. Anders als YouTube ist dieser Kanal exklusiv und kann jede Nacht in Träumen oder tagsüber in Meditationen oder Tagträumen erlebt werden. Ich weiß selbst nicht, was cooler ist: In der äußeren Welt der Games und sozialen Medien Entdeckungen zu machen oder in der inneren Welt durch jene Bilder zu streifen, die die Menschheit seit Jahrtausenden begleiten.
DER ESSAY
In unserer Serie schrieben zuletzt:
Melitta Breznik über ihre in der NS-Psychiatrie ermordete Oma: Die Großmutter, die mir ähnlich sah, Heft 6/2024
Ilona Jerger über das Beobachten von Vögeln und wie es die Angst lindert: Der Vogelfuß und ich, Heft 2/2024
Theresa Pleitner über die übergriffige Seite der Wohltätigkeit: Über die Widersprüche des Helfens, Heft 10/2023
Karoline Klemke über ihre Lehrjahre im Studium und im Leben: Psychologie, meine Liebe, Heft 6/2023
Anna Felnhofer über die Demütigung, ausgeschlossen zu werden: Das Scherbengericht, Heft 2/2023
… und viele mehr. Sie finden diese Essays auf unserer Website psychologie-heute.de
Heilsame Muster
Die große Mutter. Der Heiler. Das göttliche Kind. Wie es möglich wird, mit archetypischen Figuren im Setting der Hypnotherapie zu arbeiten, beschreibt dieses Buch von Georg Milzner. Neben einer Begriffsklärung werden auch Chancen und Grenzen der Arbeit mit Archetypen dargelegt. Kernstück sind dann unterschiedliche Therapieverläufe. Es wird beschrieben, wie archetypische Muster Klienten und Klientinnen durch eine Zeit der Veränderung begleiten und stärken. Vorgestellt wird etwa ein Mann mit ausgeprägten Gewaltfantasien, der im Therapieprozess das archetypische Muster des Kämpfens für sich entdeckt und lernt, dieses Prinzip konstruktiv statt zerstörerisch zu nutzen. Eine andere Klientin fängt an, auf eine heilsame Stimme zu hören, die weiß, was guttut. Das Arbeiten mit archetypischen Kräften ist dabei immer eingebettet in den therapeutischen Prozess.
Georg Milzner: Hypnotherapie mit Archetypen. Alte Bilder des Unbewussten in moderne Therapie integrieren. Kohlhammer 2024