Herr Professor Gold, Sie stellen dem ersten Kapitel Ihres Buchs Digital lesen voran: „Sie können dieses Buch auf Papier oder als E-Book lesen. Mit dem E-Book sind Sie schneller fertig, dafür werden Sie vermutlich weniger davon behalten.“ Ist das Lesen auf Papier dem am Bildschirm überlegen?
Mit dieser „Leserwarnung“ wollte ich provozieren. Die Antwort auf Ihre Frage, ob man besser gedruckte oder digitale Texte liest, lautet: Kommt auf den Lesezweck an. Wenn Sie sich schnell informieren und einen groben…
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Texte liest, lautet: Kommt auf den Lesezweck an. Wenn Sie sich schnell informieren und einen groben Überblick über ein Thema verschaffen wollen, können Sie das digital genauso wie mit einem gedruckten Medium, wenn nicht sogar besser. Ich erinnere an die Suchfunktion und Hyperlinks. Wollen Sie einem Inhalt in der Tiefe gerecht werden, also lernen oder etwa wissenschaftlich arbeiten, sind Sie wahrscheinlich mit der gedruckten Version besser dran. Es sei denn, Sie haben das digitale Lesen bereits gut gelernt.
Ist Lesen nicht gleich Lesen?
Lesen ist ein Prozess der visuellen Wahrnehmung. Dabei ist es völlig gleich, ob Sie gepixelte Buchstaben auf einem Bildschirm sehen oder Druckerschwärze auf Papier. Folglich sollte das Medium sich nicht auf das Verstehen und Behalten auswirken.
Die Leseforschung hat jedoch herausgefunden: Es spielt eben doch eine Rolle. Eine Forschendengruppe schreibt in der Stavanger-Erklärung zur Zukunft des Lesens, dass lange Informationstexte auf dem Bildschirm gelesen nicht so gut verstanden werden wie auf Papier. Entscheidend sind nicht physiologische Ursachen, sondern eher die weichen Faktoren, die Einstellung und Erwartung, mit denen wir an den Text herangehen.
Inwiefern beeinflusst unsere Einstellung gegenüber einem Medium die Denkleistung?
Wir assoziieren den Bildschirm im Alltag häufig mit vergnüglichen Dingen, mit Gaming, Unterhaltung, Fernsehen und dem Konsum von Informationen. Dinge, die wir leicht und schnell verstehen können. Daher verfallen wir beim Lesen von digitalen Inhalten auch der irrigen Meinung, alles sei schön einfach und wir müssten uns weniger Mühe geben. Wir lesen nicht tief und intensiv, sondern sprunghaft, schnell und oberflächlich. Bildschirmlesende glauben, nur weil sie einen Text gelesen haben, haben sie ihn auch verstanden und behalten. Sie sitzen einer Verständnis-Illusion auf. Das passiert beim Lesen auf Papier offenbar nicht so leicht.
Weil wir damit anstrengende geistige Arbeit verknüpfen?
So könnte man sagen, zumindest wenn es um Sachtexte geht. Entscheidend ist nicht, ob ich ein Buch oder ein Tablet in der Hand halte, sondern meine Herangehensweise. Weshalb und wofür ich lese. Es gibt zwei unterschiedliche Leseanlässe, die unterschiedliche Lesemodalitäten, also Lesepraktiken zur Folge haben. Der eine Leseanlass ist, dass ich etwas verstehend lesen und mich auf etwas einlassen möchte. Sind das Erzähltexte wie Romane, Belletristik oder Krimis, spricht man vom zeitvergessenen, immersiven Lesen zum Vergnügen. Und dann gibt es den Leseanlass, der zweckorientiert ist und bei dem gezielt nach Inhalten gesucht wird.
Welche Lesepraktiken ergeben sich daraus?
An Sachtexte kann ich mit zwei unterschiedlichen Lesemodalitäten herangehen. Zum einen verstehend, gründlich und langsam. Wir sprechen hier von deep understanding, dem vertiefenden Lesen. Ich kann sie aber auch mit dem Ziel lesen, bestimmte Positionen oder Informationen zu finden, die ich beispielsweise für einen Text, den ich schreibe, verwenden will.
Das Sicheinlassen, das langsame und intensive Sachtextlesen kann ich auf Papier sehr gut. Das Suchen nach Informationen kann ich am Bildschirm mindestens so gut wie auf Papier. Nur triggert der Screen eher das oberflächliche Lesen. Gegen diesen Quick and dirty-Modus muss man bewusst etwas unternehmen. Beide Lesemodalitäten muss man auseinanderhalten, wenn man über die Vor- und Nachteile von analogen und digitalen Trägermedien spricht.
Wie gut beherrschen wir diese Lesemodalitäten?
Normalerweise beherrschen wir beide. Die Lesesozialisation in Kindheit und Jugend beginnt erst mal mit dem deep reading, also dem Sicheinlassen auf Bücher, mit dem Erleben und Mitfühlen der Personen. In der Schulzeit, an der Uni oder im Beruf kommt dann später das informatorische Lesen hinzu und gewinnt an Bedeutung. Wir lesen dann zweckorientiert.
Wie lesen wir zum Vergnügen?
Bei Romanen oder bei Krimis macht es keinen Unterschied, ob wir sie auf dem E-Reader lesen oder als Buch. Dennoch existiert ein Paradox: Die Lesenden halten beim Lesen zum Vergnügen am gedruckten Buch fest, die Marktanteile von E-Books sind verschwindend klein. Laut Umfragen schmökern drei von vier Befragten lieber in einem gedruckten Buch als auf einem E-Reader. Und obwohl wir bei den Sachtexten um deren Bildschirmunterlegenheit wissen, bevorzugen die meisten dafür den Screen. Unsere Studierenden berichteten bei einer Umfrage, sie verbrächten 80 Prozent ihrer Lesezeit am Bildschirm.
Verhalten wir uns aus Unwissenheit so? Oder sind wir nicht in der Lage, festgefügte Muster zu überwinden?
Die Buchliebhaberinnen führen sinnästhetische Argumente für ihr Beharrungsverhalten an. Ein Buch zu berühren fühlt sich gut an, man sieht, wie viele Seiten man gelesen hat, es ist schön. E-Books bereiten vielen Menschen hingegen ein taktiles Unbehagen. Dabei sind die Sekundärvorteile des E-Books enorm, man kann die Schriftgröße und den Kontrast augenfreundlich individuell anpassen. Sie verbrauchen in der Produktion weniger Ressourcen und sind dadurch nachhaltiger. Außerdem hat man immer beliebig viele Bücher dabei. Im Urlaub am Pool lässt sich der neue Roman von John Irving genießen, ohne einen 1100-Seiten-Wälzer mitzuschleppen.
Ist dieses Festhalten am Papier eine Frage der Generationenzugehörigkeit?
Sicher. Meine Töchter würden eine gedruckte Zeitung nicht in die Hand nehmen. Aber sie informieren sich mehrfach täglich über die Nachrichten auf den Websites von Zeitungen.
Sie haben sich mit der Literalisierung im digitalen Zeitalter beschäftigt. Wie sollten Kinder an das Lesen bestmöglich herangeführt werden?
In den ersten sechs Lebensjahren ist regelmäßiges tägliches Vorlesen durch die Eltern – gerne aus einem gedruckten Buch – ideal. Aus meiner Sicht besteht im Vorschulalter keine Notwendigkeit für digitale Lesemedien. Aber wo erwachsene Vorlesende nicht zur Verfügung stehen, beispielsweise in Familien, in denen nie ein Buch in die Hand genommen oder eine Bücherei aufgesucht wird, können Tablets oder E-Books sinnvoll sein. Darauf kann das Kind interaktive Bilderbücher mit Vorlesefunktion und sparsamen Animationen allein nutzen. Diese Möglichkeiten sollte man nicht verdammen, sie können etwa bei Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund auch dazu dienen, den Wortschatz zu erweitern.
Sollten die Eltern, die sich die Zeit nehmen, ihren Kindern vorzulesen, analoge oder digitale Bücher zur Hand nehmen?
Da würde ich ein gedrucktes Buch empfehlen. Bei einem digitalen Buch wird das Kind früher oder später nicht mehr mit dem Elternteil daneben interagieren, sondern mit dem E-Book. Gerade bei animierten Büchern bekommt das Kind ja Feedback direkt vom Buch, dadurch werden Mama oder Papa überflüssig.
Untersuchungen zufolge nimmt die Lesekompetenz von Kindern und Jugendlichen seit Jahren kontinuierlich ab. Ein Fünftel aller Schülerinnen und Schüler in der vierten Klasse ist laut der IGLU-Studie kaum in der Lage, den Sinn von Texten zu erfassen.
Sind – wie viele Eltern und Lehrerinnen glauben – digitale Medien ein Teil des Problems oder könnten sie zur Lösung beitragen?
Die erschreckend schwachen Leseleistungen unserer Kinder und Jugendlichen haben viele Ursachen. Ein vermehrtes Bildschirmlesen gehört nicht dazu. Eher wird in den Grundschulen insgesamt zu wenig gelesen. Und es gibt keine systematische Leseförderung für die besonders Bedürftigen.
Spätestens seit Corona soll das Bildungssystem fit für das digitale Zeitalter werden. Auch wenn Teenager täglich mehr als drei Stunden durchschnittlich auf ihr Smartphone gucken, überschätzen wir ihre digitalen Kompetenzen. Die ICILS-Studie unter Achtklässlern kommt zu dem Schluss, dass ein Drittel nur über rudimentäre Computer- und informationsbezogene Kompetenzen verfügt. Welche Fähigkeiten müssen den Schülerinnen frühzeitig vermittelt werden?
Der größte Vorteil des digitalen Lesens besteht darin, umfassend im Internet recherchieren zu können. Dafür bedarf es Fertigkeiten, die wir den Kindern und Jugendlichen in den Schulen und Hochschulen erst beibringen müssen. Um im Internet navigieren zu können, muss ich wissen, welche Suchbegriffe ich eingeben muss.
Auf welche Website gehe ich? Gebe ich mich mit den ersten Vorschlägen der Suchmaschine zufrieden? Welche Informationen sind relevant? Dann geht es an die Überprüfung der Metadaten. Wer ist die Autorin? Wer hat die Inhalte ins Internet gestellt und mit welcher Intention? Ist das Medium seriös? Wie gehe ich mit widersprüchlichen Informationen aus verschiedenen Quellen um? Das ist hochgradig anspruchsvoll. Zudem gilt es, nicht in ein affirmatives Informationsverhalten zu rutschen, bei dem nur Inhalte beachtet werden, die unsere Meinung und unser Wissen widerspiegeln.
Das sind sehr komplexe Fertigkeiten. Wie kann man allein sicherstellen, nicht der Bestätigungsverzerrung zu unterliegen?
Es gibt Trainingsprogramme für Kinder und Jugendliche, die auf diese Probleme aufmerksam machen und Lösungen anbieten. Man kann sich beim Onlinelesen leicht verlieren, zum Beispiel wenn man Hyperlinks folgt und thematisch abdriftet oder durch Benachrichtigungsfunktionen abgelenkt wird. Leseunterbrechungen sind problematisch.
Was halten Sie von Multitasking?
Der Mensch ist ein miserabler Multitasker. Wir verstehen darunter gemeinhin das gleichzeitige Ausführen mehrerer Tätigkeiten. Wir können parallel nur dann zwei Dinge bewältigen, wenn eine Aktivität hochgradig automatisiert ist, wie etwa Autofahren, Bügeln oder Kochen. Sobald aber ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit gefordert ist, handelt es sich nicht um Gleichzeitigkeit, sondern um die Unterbrechung der Tätigkeit, um etwas anderes zu machen. Man springt dann hin und her. Damit sind enorme kognitive Wechselkosten verbunden.
Einige Wissenschaftlerinnen warnen gar vor den Folgen des Multitaskings. Weshalb?
Zunächst ging man davon aus, dass die hochgradigen Multitasker, die sehr kompetent Medien nutzen und rasch zwischen den Tätigkeiten switchen, diese Fähigkeiten im Laufe der Zeit verbessern würden. Studien zufolge ist das Gegenteil der Fall. Multitasker verlieren die wichtige Fähigkeit zur Inhibition.
Was bedeutet das?
Sie sind nicht mehr in der Lage, unwichtige Informationen auszublenden und sich auf relevante Informationen und ihre Aufgabe zu fokussieren. Das Verhalten bringt den Multitaskern keine Vorteile, sondern Nachteile. Sie werden, wie der Neurowissenschaftler Lutz Jäncke sagt, „zu Sklaven der Reize“.
Sie schreiben: „Dass aber das digitale Lesen dem analogen Lesen sein Tod sein könnte, löst vielerorts Verlustängste und Abwehrreflexe aus.“ Woher rührt diese Furcht vor neuen Technologien?
Die Shallowing-Hypothese wurde schon vor 15 Jahren in den USA aufgestellt. Ihre Anhängerinnen sind davon überzeugt, das Medium Bildschirm führe zu einem oberflächlicheren Leseverhalten und einer Verflachung der Rezeption. Immer wenn ein neues Medium auftaucht, das auch zum Lernen genutzt werden kann, entwickelt sich reflexhaft eine bewährpädagogische Attitüde. Für die Kritikerinnen bedeutet das neue Medium den Niedergang der Kultur. Das lässt sich bis zur Erfindung der Schrift zurückverfolgen. Der Vorwurf lautete, diese würde die mündliche Überlieferung und Erzählkunst beschädigen. Auch das Gedächtnis leide, weil fortan alles niedergeschrieben werden könne. Diese Reaktionen sind insofern nichts Neues.
Andreas Gold ist Psychologieprofessor an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Sein Buch Digitales lesen. Was sonst? erschien bei Vanderhoeck & Ruprecht 2023.
Quellen
Gold, A.: Lesen am Bildschirm. Potenziale, Risiken und Nebenwirkungen. Report Psychologie, 2023
Ehmig, S., Reuter T.: Vorlesen im Kinderalltag. Bedeutung des Vorlesens für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und Vorlesepraxis in den Familien. Stiftung Lesen, 2012