Spielen ist eine auf den ersten Blick nutzlose Beschäftigung – und manchmal sogar gefährlich. Wer spielt, übersieht möglicherweise Gefahren. Warum hat die Evolution dieses Verhalten nicht aussterben lassen? Experten geben eine klare Antwort: Weil es zur Entwicklung des Gehirns beiträgt. Es ist kein Zufall, dass Tiere und Menschen in der Lebensphase am meisten spielen, in der sich das Gehirn am stärksten verändert, nämlich in der Kindheit. Wer Kinder beobachtet, der sieht, dass sie vieles auf spielerische…
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nämlich in der Kindheit. Wer Kinder beobachtet, der sieht, dass sie vieles auf spielerische Weise lernen: Laufen und Sprechen, einfache Naturgesetze wie: Dinge, die man loslässt, fallen immer nach unten und wie viele Bauklötze sich aufeinanderschichten lassen. Auch die Bindung zu den Eltern bauen sie oft in Form kleiner Spiele auf: Sie verstecken sich, singen mit den Erwachsenen, toben herum und so weiter. Spielen, so der Psychiater Stuart Brown, Leiter des National Institute for Play im kalifornischen Carmel Valley, ist ein „tiefgreifender biologischer Prozess“.
Spielen macht Lebewesen klüger und anpassungsfähiger, und zwar in vielfältiger, nicht immer offensichtlicher Weise. So lernen Kinder im Spiel mit anderen den Unterschied zwischen freundschaftlichem Necken und verletzendem Verhalten, sie erkennen, wann sie (oder andere) eine Grenze überschreiten und wie man sich wieder verträgt, wenn dies geschehen ist. Oder wie Peter Gray, Entwicklungspsychologe am Boston College in den USA, es formuliert: „Menschen, die das Gefühl bekommen, dass beim Spielen ihre Bedürfnisse nicht erfüllt werden, hören auf, und darum lernen Kinder im Spiel, für die Bedürfnisse anderer sensibel zu sein und sich zu bemühen, diese zu erfüllen. Durch soziales Spielen lernen Kinder ganz von selbst, ohne Belehrung, wie sie ihren eigenen Bedürfnissen gerecht werden können, während sie gleichzeitig denen von anderen genügen.“ Gray bezeichnet Spielen deshalb als die „demokratischste aller Aktivitäten“.
Warum Kinder herumtoben müssen
Eine besondere Rolle kommt dabei dem sogenannten rough and tumble play, dem Herumbalgen zu. Mit diesem haben sich Sergio und Vivien Pellis in ihrer Forschung beschäftigt. Sie arbeiten an der University of Lethbridge, Alberta und berichten über ihre Erkenntnisse in dem Buch The playful brain. Ihr Fazit: „Für eine Reihe von Arten – Ratten, Rhesusaffen und auch Menschen – bringt eine fehlende Erfahrung mit spielerischem Kämpfen in jungen Jahren Erwachsene hervor, denen es an einer Reihe von Fähigkeiten mangelt.“ Stuart Brown nennt Katzen als Beispiel. Verhinderte man, dass sie mit anderen umhertollen und spielerisch kämpfen konnten, waren sie später zwar durchaus in der Lage zu jagen. Was sie nicht konnten, war, mit Artgenossen zurechtzukommen, denn sie konnten soziale Signale nicht lesen. Ihnen fehlte die emotionale Intelligenz.
Was geschieht, wenn das spielerische Erarbeiten solcher und anderer Handlungsmuster Kindern nicht möglich ist, beschreibt Stuart Brown in seinem Buch Play: How it shapes the brain, opens the imagination, and invigorates the soul. Im August 1966 erschoss ein 25 Jahre alter Ingenieurstudent und Ex-Marine, der bis dahin nie aufgefallen war und keine Anzeichen von Gewaltbereitschaft gezeigt hatte, auf dem Campus der University of Texas in Austin 46 Menschen. Ein Expertenkomitee, dem Stuart Brown als Psychiater angehörte, kam zu dem Schluss, dass ein entscheidender Faktor für die Handlungen des jungen Manns ein Mangel an Spiel in dessen Kindheit war. Schuld daran, so fand Brown heraus, war ein übermächtiger Vater. Der Junge durfte zum Beispiel nicht draußen mit den anderen Kindern spielen, sondern sollte etwas „Nützliches“ tun, etwa Klavier üben. Selbst wenn er mit seiner Mutter einkaufen ging, kontrollierte der Vater sie noch per CB-Funk. Browns These: Als der junge Mann später starkem, nicht nachlassendem Stress ausgesetzt war, machte die Unfähigkeit zu spielerischem Denken es ihm unmöglich, Auswege zu finden und sich andere Szenarien vorzustellen. Die vielen Wahlmöglichkeiten und sozialen Interaktionen, die Kinder im freien Spiel kennenlernen, befanden sich nicht in seinem Repertoire.
Bei jungen Mördern, die Brown und seine Kollegen vor vielen Jahren in Texas interviewten, fanden sie ebenfalls ein Fehlen von rough and tumble play in jungen Jahren – nicht jedoch bei vergleichbaren Gefängnisinsassen, die keinen Mord begangen hatten. Dies sind sicher Extremfälle, zu denen noch weitere Faktoren beigetragen haben.
Aber Peter Gray schlägt Alarm. Er glaubt, dass es zwischen zwei Entwicklungen einen Zusammenhang gibt: Das freie Spiel habe bei Kindern in den USA und anderen entwickelten Nationen in den vergangenen 50 Jahren deutlich abgenommen, und gleichzeitig sei die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit psychischen Problemen parallel dazu stark angestiegen. Als Beispiele nennt der Wissenschaftler: Ängste, Depressionen, Selbsttötungen, aber auch Narzissmus. Diese Störungen korrelieren mit dem Gefühl, wenig oder keine Kontrolle über das eigene Leben zu haben. Und der Glaube, Meister des eigenen Schicksals zu sein, hat sich wiederum bei jungen Menschen kontinuierlich verringert.
Außerdem hat die amerikanische Forscherin Jean Twenge entdeckt, dass Menschen, die eher äußere (extrinsische) als innere (intrinsische) Ziele verfolgen (also zum Beispiel Geld, gutes Aussehen und Status anstreben statt Kompetenz, Beziehungen und Autonomie), mehr zu Ängsten und Depressionen neigen. Gray argumentiert nun, dass Kinder durch Spielen intrinsische Ziele und Kompetenzen entwickeln und lernen, wie man Entscheidungen fällt, Probleme löst, Selbstkontrolle ausübt, Regeln folgt, Gefühle reguliert, Freundschaften schließt und mit anderen auskommt. Er ist der Ansicht, dass Spielen (vor allem draußen und mit anderen) auf diese Weise die seelische Gesundheit fördert. „Irgendwie sind wir als Gesellschaft zu dem Schluss gekommen“, beklagt Gray, „dass wir Kindern, um sie zu schützen und zu erziehen, gerade die Aktivität vorenthalten müssen, die sie am glücklichsten macht, und sie stattdessen für immer mehr Stunden in Umgebungen bringen, wo sie mehr oder weniger kontinuierlich von Erwachsenen angeleitet und bewertet werden, Umgebungen, die geeignet sind, Ängste und Depressionen hervorzurufen.“
Auch andere Experten beobachten mit Sorge, dass Erwachsene zu oft und zu schnell eingreifen, wenn Kinder umhertollen und spielerisch miteinander kämpfen, und dass ganz allgemein die Zeit, die für freies Spielen zur Verfügung steht, immer mehr eingeschränkt wird. David Elkind, emeritierter Professor für kindliche Entwicklung an der Tufts University in Boston, beklagt, dass Kinder schon früh in Mannschaftssportarten gedrängt werden, für die sie von ihrem Entwicklungsstand her noch gar nicht bereit sind, während das Spielen draußen in Höfen, Gärten, Feldern und auf Bürgersteigen immer mehr abnimmt.
Doch gerade Letzteres fördere Unabhängigkeit und Kreativität, meint Elkind. Schon der amerikanische Kinderpsychologe Bruno Bettelheim empfahl: „Wenn keine unmittelbare Gefahr droht, ist es gewöhnlich am besten, das Spiel des Kindes zu akzeptieren, ohne einzugreifen. Versuche, es bei seinen Bemühungen zu unterstützen, obwohl gut gemeint, können es davon abbringen, die Lösung, die für es selbst gut funktioniert, zu suchen und letztendlich zu finden.“ Peter Gray bringt es vielleicht am besten auf den Punkt: „Durch Spielen lernen Kinder, die Kontrolle über ihr Leben zu übernehmen.“
Spielen – Miniferien vom Alltag
Jeder weiß, was Spielen ist, aber niemand kann dies in einfache Worte fassen. Auch Wissenschaftler tun sich schwer damit. Stuart Brown schreibt gar: „Spielen zu definieren erscheint mir immer wie einen Witz zu erklären – das Analysieren entfernt den Spaß.“ Er nennt dann aber doch einige Kriterien. Spielen, so Brown, ist anscheinend zweckfrei, geschieht um seiner selbst willen, ist freiwillig, besitzt einen inhärenten Reiz, ist frei von zeitlichen Einschränkungen, vermindert die Selbstaufmerksamkeit, bietet Möglichkeit zur Improvisation, beeinhaltet den Wunsch weiterzumachen. Kurz: Wir spielen, weil es Spaß macht. Und wenn Stuart Brown von der verminderten Selbstaufmerksamkeit spricht, dann meint er das, was der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi als „Flow“ bezeichnet. Das heißt, die Aufmerksamkeit ist ganz bei dem, was man tut, man vergisst die Zeit und sich selbst. Dieser Zustand, wach, aber nicht gestresst, ist, so Peter Gray, „ideal für Kreativität und das Lernen neuer Fähigkeiten“.
Spielen bietet „Miniferien“ von unserem durch Verantwortung und Arbeitsdruck bestimmten Alltag. Einfach etwas aus Freude und um seiner selbst willen zu tun ermöglicht uns, die Pausetaste zu drücken. Das ist „der Zweck der Zweckfreiheit“, wie es der Psychologe Leon Seltzer nennt, und etwas ganz anderes als Faulheit. Und noch eine weitere Eigenschaft macht Spielen für uns als soziale Wesen so wertvoll: Es verbindet. „Ich möchte behaupten, dass eine andauernde emotionale Vertrautheit ohne Spiel unmöglich ist. Das gilt nicht nur fürs Eheglück, sondern auch für langfristige Freundschaften“, schreibt Stuart Brown. Beim Spielen gilt tatsächlich: Der Weg ist das Ziel. Die Beschäftigung selbst ist, was uns interessiert, und nicht so sehr das, was dabei herauskommt. Peter Gray nennt Kinder, die eine Sandburg bauen, als Beispiel. Sie wären wohl wenig begeistert, wenn ein Erwachsener die Burg für sie errichtete – und sei diese noch so schön.
Verspielte Erwachsene
Doch welche Aktivitäten sind nun Spiel und welche nicht? Für Stuart Brown umfasst der Begriff „Spiel“ sehr viel. Hobbys gehören in der Regel ebenso dazu wie das Schaffen von Kunst. Auch Beschäftigungen wie Bücherlesen, Filmeschauen, Witzeerzählen, Flirten, Tagträumen, die Verwendung von Ironie. Eben alles, was man aus Spaß an der Freude, um seiner selbst willen und selbstvergessen tut. Das kann auch ein Spaziergang sein. Spielen ist nicht eine bestimmte Aktivität, entscheidend ist vielmehr die innere Haltung. Peter Gray weist darauf hin, dass es gerade bei Erwachsenen in Bezug auf diese innere Einstellung kein Alles oder Nichts gibt. Reines Spiel findet man eher bei Kindern. Erwachsene haben oft ihre Verantwortung oder ein Ziel im Hinterkopf oder vergessen sich und die Zeit nicht durchgehend, sodass eine Tätigkeit vielleicht nur zu 90 oder 50 Prozent spielerisch ist. Wir treiben Sport, weil es Spaß macht, aber wir tun es auch der Gesundheit zuliebe. Wir werkeln im Garten zur Entspannung, aber auch, weil die Arbeit getan werden muss. Wir spielen Golf, um in der Natur zu sein, aber auch, um berufliche Kontakte zu knüpfen.
Trotzdem sind die Erwachsenen unserer Spezies verspielter als die vieler Tierarten. In Relation zu unseren Verwandten, den Menschenaffen, sind wir so etwas wie die Golden Retriever unter den Hunden, schreibt Brown in seinem Buch Play. Diese sind im Vergleich zu Schäferhunden und Pudeln – und ganz besonders zu Wölfen – in der Kindheit steckengeblieben. Ihr Gehirn ist plastischer. Sie sind neugieriger, offener für Veränderungen und flexibler im Verhalten als ein ausgewachsener Wolf. Das kann von Vorteil sein. Andererseits macht diese Eigenschaft die Hunde auch verletzlicher, während sein starres Verhalten dem erwachsenen Wolf in der Wildnis auch Stärke verleiht. Entsprechend schreibt der Psychoanalytiker Erik Erikson im Vorwort seines Buches Kindheit und Gesellschaft: „Die lange Kindheit macht aus dem Menschen einen technischen und geistigen Virtuosen, aber sie entlässt ihn auch mit einem Restbestand an emotionaler Unreife, der ihm sein Leben lang anhaftet.“
Künstler, aber auch Forscher haben sich offenbar die Verspieltheit in ganz besonderem Maße erhalten. Das verraten unzählige Biografien und Zitate – und es ist das (offene) Geheimnis ihrer Kreativität. „Bildhauerei“, schreibt der Autor Roy Blount, „ist etwas für Leute, die gerne mit Granit oder Autostoßstangen oder was auch immer spielen. Gärtnerei ist für Leute, die gerne mit Blumenzwiebeln und Erde herumspielen. Schreiben ist für Leute, die gerne mit Wörtern spielen.“ Oder wie es der Produzent, Autor und Regisseur Stephen Cannell formulierte: „Ich stehe jeden Morgen auf, und ich gehe nicht zur Arbeit, ich gehe zum Spielen. Ich darf Räuber und Gendarm spielen.” Vermutlich dachte er dabei unter anderem an seine in Deutschland vielleicht bekannteste Fernsehserie „Detektiv Rockford – Anruf genügt“.
Nun ist nicht jeder Mensch ein Künstler oder Wissenschaftler, doch Peter Gray ist der Ansicht, dass Arbeit „zumindest von einem hohen Grad an Verspielheit erfüllt sein kann“. Wichtig sei das Gefühl, eine Wahl zu haben, sprich: Gestaltungsmöglichkeiten. Ob als Klempner oder als Rechtsanwalt, schreibt Gray, man erlebt Arbeit in dem Ausmaß als Spiel, in dem sie selbstbestimmt ist – sogar oder gerade, wenn sie schwierig ist. Und bei Tätigkeiten jeder Art hilft es, sich auf das Tun an sich zu konzentrieren (den Weg) und nicht so sehr auf das gewünschte Ergebnis (das Ziel).
Spielen ist uns angeboren, es ist wichtig für unsere seelische Gesundheit, und es macht erfinderisch. Wir müssen also aufpassen, dass wir das Leben unserer Kinder – und unser eigenes – nicht so verplanen, dass die spielerische Freiheit zu kurz kommt. Mehr und mehr sind heutzutage Kreativität, Flexibilität und individuelle Lösungen gefragt. Pat Kane, Musiker, Journalist und Autor des Buches The play ethic, ist überzeugt: „Spielen ist für das 21. Jahrhundert, was Arbeit für das Industriezeitalter war – unsere vorherrschende Methode, zu wissen, zu tun und Mehrwert zu schaffen.“
Literatur
Patrick Bateson, Paul Martin: Play, playfulness, creativity and innovation. Cambridge University Press, Cambridge 2013
Stuart Brown, Christopher Vaughan: Play: How it shapes the brain, opens the imagination, and invigorates the soul. Avery, New York 2009
Pat Kane: The play ethic. A manifesto for a different way of living. Pan Books, London 2005
Arne Gillert: Der Spielfaktor – Warum wir besser arbeiten, wenn wir spielen. Heyne, München 2011
Peter Gray: Free to learn: Why unleashing the instinct to play will make our children happier, more self-reliant, and better students for life. Basic Books, New York 2013
Sergio Pellis, Vivien Pellis: The playful brain. Venturing to the limits of neuroscience. Oneworld Publications, London 2009