Warum fühlen sich Borderline­patienten und -patientinnen öfter zurückgewiesen als andere?

Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung fühlen sich schneller zurückgewiesen als andere. Johannes Heekerens erklärt, warum das so ist.

Sie haben je eine Gruppe mit Borderlinepatienten und -patientinnen, Depressiven und Gesunden miteinander verglichen, wie sie im Lauf eines Tages Zurückweisung erlebten. Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Wir haben unsere Versuchspersonen einen Tag lang im 15-Minuten-Takt befragt, wie angespannt sie in einem ersten Moment waren, und dann erhoben, ob sie im nächsten Moment Zurückweisung empfanden. Bei allen Gruppen zeigte sich: Je angespannter sie im ersten Moment waren, desto mehr fühlten sie sich im zweiten Moment zurückgewiesen – und umgekehrt. Ob die Teilnehmenden tatsächlich unterschiedlich oft zurückgewiesen wurden oder ob es nur so erlebt wurde, haben wir mit dieser Studie nicht erhoben.

Den rein zeitlichen Zusammenhang zwischen Anspannung und Gefühlen des Abgelehntwerdens gab es in allen Gruppen, sagen Sie. Worin lag der Unterschied?

Wir haben alle Befragten berichten lassen, wie angespannt sie sich jeweils fühlten. Auf einer Skala zwischen eins für gar keine und 100 für maximale Anspannung gaben die Borderlinepatientinnen im Durchschnitt den höchsten Wert an, im Schnitt 55. Die Depressiven lagen im Mittelwert bei 35 und die Kontrollteilnehmenden bei nur 15 Anspannungspunkten. Das ist ein großer Unterschied. Wenn die Anspannung schon sehr hoch ist, also bei 55 liegt und dann noch auf 60 steigt, dann ist sie kaum noch auszuhalten, nicht mehr regulierbar. Hingegen ist ein Anstieg von 15 auf 20, wie wir ihn in der Kontrollgruppe fanden, nicht so gravierend und gut zu meistern.

Bei den Borderlinebetroffenen wird diese hohe Anspannung als unerträglich schlechte Stimmung erlebt. Sie können das Zurückweisungserleben vor diesem Hintergrund nur sehr schwer regulieren. Meist hat sich das Muster bei ihnen entwickelt, dass ihre hohe Sensitivität in ihrer Kindheit als unangemessen dargestellt wurde.

Was bedeutet das für Patientinnen und Patienten mit Borderlinestörung und ihren Umgang mit Zurückweisung?

Es gibt ein Versuchsdesign, das darüber Aufschluss gibt, das sogenannte Cyberball-Spiel: Die Teilnehmenden spielen zu dritt am Computer. Zwei der Versuchspersonen sind in Wirklichkeit ein Computerprogramm, das die Bälle nach drei Vorgaben verteilt: Die Versuchsperson erhält den Ball sehr selten, so oft wie die anderen oder sogar häufiger. Dann werden die emotionalen sowie körperlichen Reaktionen gemessen.

Die Borderlinepatienten fühlen sich in diesem Versuch erst zugehörig, wenn sie in 70 Prozent der Fälle den Ball zugespielt bekommen. Die neutrale, gleichmäßige Verteilung der Bälle nahmen sie nicht wahr und erlebten schon das als Zurückweisung.

In der Psychotherapie ist das Ziel, dass Borderlinepatientinnen lernen, mit der erhöhten Anspannung besser umzugehen.

Ja, sie lernen, eine realistischere Wahrnehmung einzuüben und zu erkennen, dass das Verhalten anderer häufig schlicht neutral ist. Sie ziehen sich oft aus Angst vor Zurückweisung frühzeitig aus Beziehungen zurück – das erhöht die Anspannung und führt im Lauf der Zeit dazu, dass sie wirklich öfter abgelehnt werden.

Johannes Heekerens ist Psychologe und forscht an der Charité–Universitätsmedizin Berlin.

Quelle

Johannes Heekerens u.a.: The temporal relation of arousal and perceived rejection in patients with borderline personality disorder and depressive disorders: An experience sampling approach. Personality Disorders: Theory, Research, and Treatment, 2022. DOI: 10.1037/per0000546

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2023: Schüchtern glücklich sein
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