Weiblicher Autismus

Insbesondere bei Frauen kommt es bei Autismus oft zu Fehldiagnosen. In ihrem Essay erklärt Clara Törnvall, warum das so häufig passiert.

Ein Bücherstapel mit den Büchern, die in Ausgabe 8/2024 vorgestellt werden
Das ist der Bücherstapel der Rezesionen aus der Augustausgabe. © Psychologie Heute

Als Kind klapperte sie mit den Zähnen Melodien, vergaß zu essen und tat sich schwer, Freundinnen zu finden. Heute, als erwachsene Frau arbeitet ihr Gehirn auf Hochtouren, wenn sie die Spülmaschine anschalten will oder das Bügelbrett aufstellen möchte. Wie geht das noch mal? Es fühlt sich immer an, als würde sie diese Handgriffe zum ersten Mal machen.

„Ich werde Dinge nie automatisch tun“, schreibt Clara Törnvall in ihrem Buch Die Autistinnen. Sie lässt uns an ihren sehr persönlichen Erlebnissen, ja an ihrem Leben teilhaben. Sie berichtet von ihrer Liebesbeziehung, ihrem Schei­dungsdrama, ihrem Muttersein.

Ruppige Klarsprache

Es ist das erste Buch der schwedischen Radiojournalistin. Wie gut, dass sie es geschrieben hat. Eine bessere ­Vorstellung, wie sich das Leben für autistische Menschen anfühlt, können wir kaum bekommen: „Jeden Tag sind die Straßen wie neu und noch nie begangen. Ich bin ein Goldfisch, der bei jeder Runde, die er dreht, sein Aquarium schon wieder vergessen hat.“

Wir lesen von autistischen Mädchen, die anhand von Serien Dialoge auswendig lernen, um mit Schulfreundinnen kommunizieren zu können. Smalltalk, Tratsch, Regeln des sozialen Miteinanders sind ihnen ein Rätsel. Sie verstehen keine Floskeln, nehmen alles wörtlich, lesen nicht zwischen den Zeilen. Autistische Menschen lieben „Klarsprache“ – doch diese kommt oft ruppig an.

Autistische Mädchen, so die Autorin, lernen anders mit ihrer Eigenart umzugehen als autistische Jungs. Sie werden stärker für das soziale Miteinander trainiert, entwickeln Strategien, nett und lieb zu sein. Diese Maskerade hat dazu geführt, dass über Jahrzehnte Autismusdiagnosen hauptsächlich bei Jungs gestellt wurden. Deshalb erkundet das Buch das oft kaschierte Leben von Autistinnen – auch das berühmter Frauen wie Greta Thunberg, Daryl Hannah, Simone Weil, Doris Lessing und Patricia Highsmith. Bei den bereits Verstorbenen melden sich beim Lesen leise Zweifel, ob diese posthumen Diagnosen stimmen, die aus biografischen Schnipseln, oft Briefen und anderen Texten, extrahiert werden.

Unehrlich und konfliktscheu

Mit am eindrücklichsten ist der Blick der Autistin Törnvall auf das Verhalten nichtautistischer Menschen. Sie kommen ihr unehrlich und konfliktscheu vor. Manchmal auch feige, denn sie sagten selten, was sie denken. „Ich weiß, dass von Erwachsenen erwartet wird zu akzeptieren, dass die Menschen um sie herum flunkern, um die Fassade aufrechtzuerhalten […], man muss einkalkulieren, dass andere Menschen nicht völlig authentisch sind. Doch ich wünschte, die Haltung der Autisten könnte das Normale sein.“

Ist das nicht ein starker und gleichzeitig irritierender Gedanke? Unsere sozialen Codes von autistischen Menschen hinterfragen zu lassen?

Ein eindringliches, manchmal etwas schwedenlastiges Buch, das immer wieder die psychiatrische Geschichte und die biologischen Ursachen in den Blick nimmt. Vor allem rüttelt es an unserem Verständnis von Normalität, auch weil das Autismusspektrum breit ist.

Clara Törnvall: Die Autistinnen. Aus dem Schwedischen von Hanna Granz. Hanser 2024, 240 S., € 24,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2024: Glückliche Stunde gesucht
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