Blanke Freude

Der Gedanke, vor anderen Nackt zu sein, löst bei den meisten Unwohlsein und Scham aus. Es wirklich auch mal zu sein, kann hingegen beflügeln

Die Illustration zeigt eine Frau mit langen Haaren, die zufrieden nackt im Gras sitzt, auf ihrem Knie ein Vogel und daneben ein Hase
Nudismus kann ein Vergnügen bereiten, das weder unmoralisch noch krankhaft ist. © Shenja Tatschke

Mit Ende dreißig verbrachte Sonja Rawe* einen Urlaub auf Fuerteventura in einer abgelegenen Finca. Das Wetter war schön und ihr Urlaubsdomizil von außen nicht einzusehen, so dass sie eines Tages beschloss, die Hüllen fallenzulassen. Tagelang lief sie nackt auf der ­Finca herum – und genoss es. Wieder zurück in Deutschland suchte sie Gleichgesinnte. Sie schloss sich einem FKK-Stammtisch an. Bekleidet saß sie mit sieben Männern und einer weiteren Frau beim Bier zusammen und überlegte, wie sie ihre Freude am…

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Frau beim Bier zusammen und überlegte, wie sie ihre Freude am Unbekleideten ausleben könnte. Am Strand herumliegen, nackt schwimmen gehen, das Übliche.

Dann schlug einer vor: wandern. Das hatte Sonja Rawe bis dahin noch nie gemacht. Wenig später traf sie sich mit einer Handvoll Interessenten in der Natur. „Wir haben uns ausgezogen und sind losgewandert“, erinnert sich die heute 54-Jährige. Zwei Stunden querfeldein. Seither hat sie das unzählige Male gemacht. Zwei ­offizielle Nacktwanderwege zählt Deutschland heute, einen im Harz und einen in der Lüneburger Heide, letzteren hat Sonja Rawe mitbegründet.

Die Zahl der Menschen in Deutschland, die regelmäßig Freizeitaktivitäten ganz ohne Kleidung nachgehen, ist hoch. Rund 21 Millionen Deutsche besuchen hin und wieder eine Sauna. Rund fünf Prozent der deutschen Männer bevorzugen es, ohne Kleidung zu kochen. Die liebste Bademode von zwei Prozent aller Frauen hierzulande ist: keine. Jedes Jahr im Juni radeln Menschen im Rahmen der Protestbewegung Naked Bike Ride unbekleidet durch Großstädte wie etwa Köln und Dresden. Die zwei Nacktwanderwege erfreuen sich großer Beliebtheit. Mehr als 130 FKK-Vereine listet der Deutsche Verband für Freikörperkultur, von Kiel bis Prien am Chiemsee. Sie zählen etwa 30000 Mitglieder.

Naturismus als Herzensthema

Aber warum ziehen sich tausende Männer und Frauen lieber aus, wo andere hunderte Euro für perfekte Wanderkleidung oder den schönsten Bikini ausgeben? Was ist der Zugewinn, ohne Hülle Yoga zu praktizieren oder nur in Schuhen und Socken Tennis zu spielen? Psychologinnen und Psychologen gehen davon aus, dass nackt zu sein das Wohlbefinden positiv beeinflusst. Keon West ist Sozialpsychologe an der Goldsmiths, University of London und beschäftigt sich seit einigen Jahren mit der Wirkung von Nacktheit auf das eigene Körperbild und Selbstbewusstsein. Der gebürtige Jamaikaner hat in den USA und Frankreich gelebt, in Oxford promoviert und forscht vorrangig zu Vorurteilen, Rassismus und Stigmatisierung. Naturismus ist so etwas wie ein wohltuendes Herzensthema für ihn. West zählt sich selbst zu den Naturisten. So nennen sich Menschen, die gern nackt und in der Natur sind. Nudisten sind gern nackt, aber weniger naturbezogen.

In Wests erstem Forschungsprojekt zum Nacktsein 2017 startete er eine Umfrage unter britischen Bürgern. Von den rund 850 Befragten nahm die Hälfte im Schnitt pro Jahr an bis zu 17 Aktivitäten teil, die nackt oder halbnackt stattfanden, wie etwa Sauna oder unbekleidetem Baden. Spannend dabei: Eben diese Personen stimmten auch eher Sätzen aus den Fragebögen zu wie „Trotz seiner Makel akzeptiere ich meinen Körper, wie er ist“ oder „Mein Selbstwert ist unabhängig von meiner Körperform oder meinem Gewicht“. Ein Teilnehmer gab zu Protokoll: „Nacktsein verbessert das eigene Körperbild – es hilft, andere mit normalen, nichtperfekten Körpern zu sehen.“ Die statistische Auswertung bestätigt: Vor allem andere nackt zu sehen hing mit einem positiveren Körperbild zusammen.

„Die meisten von uns glauben an ein Schönheitsideal, das besagt, dass wir sportlich und sehr schlank sein müssen. Tatsächlich entsprechen nicht mal fünf Prozent der Menschen diesem Ideal“, so Svenja Hoffmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Psychologie der Universität der Bundeswehr München, die zu Körperbildern und Essstörungen forscht. Wenn wir stets Vergleiche mit Menschen suchten, die schlanker, sportlicher oder schöner als wir zu sein scheinen, und das medial geprägte Ideal unhinterfragt zu unserem eigenen machten, könne das problematisch werden.

„Je mehr man andere sieht, die nackt sind, desto schneller erkennt man, dass Menschen, wie sie im Fernsehen oder der Pornografie inszeniert werden, unter realen Gegebenheiten nicht vorkommen“, sagt Jürgen Krüll, Vizepräsident des Landesverbands für Freikörperkultur Berlin-Brandenburg. Diesen Effekt hat auch der Psychologe Viren Swami 2019 in einem Experiment mit britischen Schülerinnen und Schülern beobachtet. 14 Jungen und Mädchen nahmen an drei Aktzeichenstunden teil. Obwohl fast alle Jugendlichen berichteten, wie unangenehm es ihnen gewesen sei, lange Zeit völlig nackte Menschen anzusehen, hatte der Kurs durchweg positive Effekte darauf, wie sie sich selbst wahrnahmen. „Aktzeichnen hält dein Gehirn davon ab, sich darüber Gedanken zu machen, wie ein Körper aussehen sollte, und bringt es dazu zu akzeptieren, wie Körper wirklich sind“, sagte ein Schüler im Anschluss. Die Auswertung bestätigte: Die jungen Menschen wussten ihre Körper nach dem Malkurs deutlich mehr zu schätzen, waren stolzer auf sich und ihr Äußeres und machten ihre Zufriedenheit weniger davon abhängig, was die Waage sagte. Allein sich mit Nacktheit zu umgeben tut also gut.

Tiefgreifend befreiend

Tatsächlich kennen wohl nicht wenige auch diesen Aha-Moment aus dem Wellnessurlaub: etwa wenn die grazile Frau, die man morgens noch am Frühstücksbuffet um ihre Figur beneidet hat, in der Saunalandschaft einen wenig straffen, dafür platten Po entblößt. Dass der Fitnesscoach aus dem Spabereich auch Narben hat. Dass bei den meisten Mitschwitzern genauso viel hängt, schief sitzt oder knittrig ist wie bei einem selbst. Auch schwinden ohne Kleidung die ökonomischen Unterschiede zwischen den Menschen. Der Supermarkt­verkäufer und die Bänkerin, die Bauarbeiterin und der Arzt: Sie alle haben ihre Polster, Falten und Dellen.

Doch auch sich selbst auszuziehen scheint kleine Wunder zu wirken. Ob bei Wanderungen oder beim Volleyball am Strand: Wenn Menschen selbst hüllenlos sind, erleben die meisten einen erhebenden Effekt. Das zeigen weitere Studien von Keon West. Er bat Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Naturisten-Events, davor und danach Fragebögen zu ihrem Körperempfinden, Selbstbewusstsein und auch der Lebenszufriedenheit auszufüllen. Die Befunde: 24 Umweltaktivisten und -aktivistinnen wanderten bei einer Protestaktion nackt durch den Yorkshire Wildlife Park, um auf die Bedrohung des Polarbären aufmerksam zu machen. Im Anschluss fiel ihr Körperbild positiver aus, sie fühlten sich selbstbewusster – und waren zufriedener mit dem eigenen Leben. Um auszuschließen, dass dies nur einem emotionalen Hoch nach einem erfüllten wohltätigen Zweck zu verdanken war, befragte West in einer weiteren Erhebung 100 Personen, die der Einladung eines Wasserparks in den englischen Midlands zum dreistündigen Nacktbaden nachgekommen waren. Und wieder: Das Bild vom eigenen Körper gewann hinzu, das Ego schwoll infolgedessen an – und die Lebenszufriedenheit gleich mit.

Was also geht in den Menschen vor, wenn sie Aktivitäten nackt nachgehen? Mit Sexualität, wie viele vermuten, hat das nichts zu tun. „Sex kommt bei uns nicht infrage“, sagt ­Sonja Rawe. Sie und ihre FKK-Gruppe gehen nicht nur zusammen wandern, sondern auch kegeln oder sie feiern nackt gemeinsam Partys, aber Sex finde nicht statt. Bei Wanderungen gebe es ab und an mal neue Teilnehmer, die auf der Suche nach einem Abenteuer seien, doch die gingen unverrichteter Dinge wieder. So halten es hierzulande auch die Ferienanlagen, FKK-Vereine und Naturistenverbände. „Die Menschen vermischen unsere Aktivität immer wieder mit der Swingerszene oder Exhibitionismus“, sagt Jürgen Krüll von dem Berlin-Brandenburger Landesverband. Die Vereine seien allesamt Sportvereine, betont er. Basketball, Tischtennis, Yoga oder Kraftsport: Alles ist möglich, alles kann nackt absolviert werden, muss aber nicht. Auch Wettkämpfe werden bestritten, teils mit und teils ohne Sportbekleidung. Das hat mit sexuellen Treffs nichts gemein. „Menschen, die immer nur nackt sind, wenn sie Sex haben, können sich natürlich nicht vorstellen, dass man sich auch für andere, nichtsexuelle Tätigkeiten ausziehen kann. Das kommt in deren Gedankenwelt gar nicht vor“, sagt Krüll.

„Ein Gefühl von Freiheit“

Was er erlebt, wenn er nackt Yoga praktiziert oder unbekleidet in seiner Wohnung herumläuft? „Es tut gut, den Zwang, sich ankleiden zu müssen, abstreifen zu können. Das gibt ein Gefühl von Freiheit“, sagt Krüll. So empfinden das die meisten Menschen, die gern unbekleidet ihre Freizeit verleben. „Obwohl Nudisten oft als sexuelle Schurken oder psychisch gestörte Individuen dargestellt werden, gibt es reichlich Statements, die zeigen, dass das Praktizieren von Nudismus ein Vergnügen bereiten kann, das weder unmoralisch noch krankhaft ist“, schreibt auch der junge Politikwissenschaftler Bouke de Vries, der bis 2018 am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen forschte, in einem Fachjournal. Er vertritt die Meinung, dass jeder das Recht darauf haben sollte, in der Öffentlichkeit nackt zu sein, und verweist auf den Wohlfühleffekt bei den Menschen, die es erlebt haben: „Nackt zu sein ist tiefgreifend befreiend. Es ist nicht nur das physische Gefühl von Luft, Sonne oder Meer auf dem ganzen Körper, sondern beinhaltet auch eine psychologische Befreiung.“ Wenn man seine Kleidung verliere, fielen auch viele soziale Belastungen von einem ab.

Aus dem Wunsch nach der körperlichen Freiheit ist mittlerweile eine ganze Branche erwachsen, der Natourismus, also die Verknüpfung von Naturismus und Tourismus. In Deutschland sowie im Ausland gibt es Feriendomizile, in denen Gäste den ganzen Tag unbekleidet umherstreifen können, drinnen wie draußen. Wer Reiseziele nach solchen Bekleidungsfreiheiten auswählt, hat ansonsten die gleichen Bedürfnisse wie andere Urlauber auch. Das ergab 2016 eine Umfrage unter mehr als 1500 Naturisten weltweit. Die Befragten wollten sich körperlich und mental entspannen, neue Orte sehen, eine gute Zeit haben. Urlaub eben. Aber sie wollten auch soziale Beschränkungen hinter sich lassen, sich natürlich fühlen und ihre freie Zeit ungestört nackt verbringen.

Nacktsein kann aber womöglich noch mehr als nur entspannen und erheben. „Potenziell kann Naturismus auch als proaktive Körper-Geist-Therapie eingesetzt werden, um Sorgen um das eigene Körperbild zu verbessern, und als Antidot gegen mangelnde Zufriedenheit mit dem Körper“, schlägt der Nachwuchswissenschaftler Robert Hargreaves von der University of London in einem Forschungspaper vor, in dem er die Erhebungen von Keon West mit eigenen Messungen untermauert. Tatsächlich untersuchte auch West jüngst, ob sich Nacktheit als therapeutische Methode eignet. Er fand seine Annahmen bestätigt: Wer eine dreiviertel Stunde mit anderen unbekleidet Freizeit verbrachte, wusste seinen eigenen Körper im Nachhinein mehr zu schätzen. Das lag vor allem daran, dass die 26 Männer und Frauen ihre Angst davor, wie andere ihren Körper bewerten würden, irgendwann hinter sich ließen.

Eine Nackt-Intervention

Wests jüngster Versuch: eine viertägige Nackt-Intervention. Er verband dafür seine bisherigen Studienerkenntnisse mit Methoden aus der Behandlung von Menschen mit Körperbild- oder Essstörungen. Vier Tage lang andere nackt zu sehen, leichtem Sport nachzugehen, über den eigenen Körper und falsche Ideale zu sprechen, sich unbekleidet im Spiegel zu betrachten sowie zum Ende der Therapietage selbst vor anderen nackt zu sein verfehlte die heilsame Wirkung den Befunden zufolge nicht. Die 14 Männer und Frauen im Alter von durchschnittlich 28 Jahren wussten vorher nicht, dass bei der Intervention so viel Haut involviert sein würde. Nur einer beendete den Versuch nicht. Bei den anderen wendete sich das zuvor sehr negative Körperbild durch die Nacktkur massiv zum Guten. Erreichten sie auf einer Skala von 0 bis 5 beim eigenen Körperbild vorher einen Wert von gerade mal 1,3 Punkten, sprang dieser nach den vier Tagen auf 4 Punkte. Ebenso gewannen die Teilnehmenden deutlich an Selbstwertgefühl und Lebenszufriedenheit hinzu. Effekte, die auch einen Monat später noch anhielten.

Eine innere Stärkung, die auch Sonja Rawe erlebt hat. „Ich finde meinen Körper nicht schön“, sagt sie. Und wenn sie nackt wandern gehe, sei es im ersten Moment immer komisch. „Doch nach zwei, drei Minuten fühle ich mich einfach nur noch frei und genieße den Wind auf der Haut.“ Es erfordere jedes Mal Mut, sich zu entkleiden. „Aber seit ich den aufbringe, mache ich mir weniger Gedanken über meinen Körper und wie er auf andere wirken könnte“, sagt sie. Nacktsein gebe ihr Selbstbewusstsein, auch in anderen, textilen Situationen.

* Name von der Redaktion geändert

Quellen

Konstantinos Andriotis: From nudism and naturism tourism to "natourism": defining natourism and exploring natourists’ motivations. Tourism Analysis, 21/2-3, 2016, 237-249. DOI: 10.3727/108354216X14559233984854

Bouke de Vries: The right to be publicy naked: a defence of nudism. Res Publica 25, 2019, 407–424. DOI: 10.1007/s11158-018-09406-z

Robert Hargreaves: The Effect of Naturism on Body Image and Interoceptive Awareness. PsyArXiv, 2020. DOI: 10.31234/osf.io/hvbty

Viren Swami and Liz Shaw: “It stops your brain from making assumptions about what a body should look like”: the impact of life drawing on adolescents, with recommendations for practitioners. Empirical Studies of the Arts, 37/1, 2019, 60–81. DOI: 10.1177/0276237418777978

Keon West: Naked and unashamed: investigations and applications of the effects of naturist activities on body image, self-esteem, and life satisfaction. Journal of Happiness Studies, 19/3, 2018, 677–697. DOI: 10.1007/s10902-017-9846-1

Keon West: A nudity-based intervention to improve body image, self-esteem, and life satisfaction. International Journal of Happiness and Development, 6/2, 2020, PAGES. DOI: 10.1504/IJHD.2020.111202

Keon West: I Feel Better Naked: Communal Naked Activity Increases Body Appreciation by Reducing Social Physique Anxiety. The Journal of Sex Research, 2020, 1-9. DOI: 10.1080/00224499.2020.1764470

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2021: Menschen verstehen wie die Profis