Glück ist eine Emotion, die sich alle Menschen wünschen, eigentlich andauernd – und gleichzeitig finden die meisten, dass sie es viel zu selten bekommen. Die Frage „Wie kann ich glücklich werden?“ beschäftigt Dichter, Philosophen, Theologen und Psychologen seit Jahrhunderten, in den letzten Jahrzehnten haben auch Wissenschaftler aus anderen Fachgebieten sie aufgegriffen. Trotzdem kennen wir immer noch kein einfaches Rezept für ein glückliches Leben. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass wir dem…
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noch kein einfaches Rezept für ein glückliches Leben. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass wir dem „falschen“ Glück hinterherlaufen.
Was wir heute genau unter „Glück“ verstehen, was die verwandten Begriffe „Freude“ und „Zufriedenheit“ bedeuten, untersuchte Philipp Mayring von der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt. Der Psychologieprofessor sichtete die einschlägige Literatur und leitete Beschreibungen für verschiedene Zustände des Wohlbefindens ab:
Freude ist ein starkes Gefühl, das meist als Reaktion auf eine angenehme Situation auftritt. Freude ist eher kurzfristig, wir fühlen uns lebendig und vital. Das Gegenteil der Freude stellt das Unwohlsein dar.
Glück bezeichnet das intensivste Wohlbefinden, das Menschen kennen. Das Gefühl ergreift die ganze Person, es ist langanhaltender als Freude, aber kürzer als Zufriedenheit. Glück strahlt auf andere ab, macht aufgeschlossener. Oft steht es in Zusammenhang mit Dingen, die über die eigene Person hinausgehen – wir erleben Glück in sozialen Situationen oder im Einklang mit der Natur. Das Gegenteil von Glück sind Trauer und Depressionen.
Zufriedenheit ist das stabilste gute Gefühl. Sie ist ein ruhigerer Gefühlszustand als Freude und Glück, wirkt eher im Hintergrund des Erlebens. Zufriedenheit basiert auf einer positiven Grundstimmung, auf grundlegender Lebensbejahung. Sie ist kognitiv geprägt, tritt als Ergebnis von Denkprozessen wie dem Vergleichen und Abwägen auf. Zufriedenheit beinhaltet Ich-Erweiterung und Überwindung. Ihr Gegenpol ist die Unzufriedenheit.
Diese drei positiven Gefühlslagen sind nicht nur unterschiedlich stabil, sie haben auch verschiedene Wurzeln. Grundsätzlich sind Stimmungen vorübergehende Zustände, die sich schnell wandeln können und oft von der Situation abhängen. Daneben gibt es Gefühlslagen, die auf Eigenschaften der Person gründen. Liegt so ein Wesenszug zugrunde, ist das Gefühl anhaltender. Mayring fand heraus: Freude ist ein situationsabhängiger vorübergehender Zustand; Zufriedenheit wurzelt dagegen in der Persönlichkeit eines Menschen. Sie ist Ausdruck ihres Wesens und das Resultat einer grundsätzlichen Haltung dem Leben gegenüber – und daher besonders lang anhaltend. Glück liegt hier in der Mitte: Es trägt zum einen Züge des flüchtigen Zustands, zum anderen geht das Empfinden auf das Wesen des Menschen zurück.
Es lohnt sich daher, sich auf Zufriedenheit zu konzentrieren: Denn zum einen ist sie langlebiger und grundlegender, zum anderen tritt sie unabhängig von äußeren Ereignissen auf, die wir oft nicht beeinflussen können. Zufriedenheit ist Ausdruck unserer inneren Haltung. Im Begriff „Zufriedenheit“ steckt das Wort „Friede“, und an diesem inneren Frieden, der Seelenruhe können wir arbeiten – was allerdings keine einfache Sache ist.
Der Trierer Psychologieprofessor Jochen Brandtstädter widmete der Frage, was ein Leben gelingen lässt, ein eigenes Buch, in dem er Erkenntnisse zahlreicher Studien zusammenfasst. Er folgert: „Zufriedenheit hängt wesentlich vom Verhältnis zweier Größen ab: dem Grad der Erfüllung von Ansprüchen und dem Anspruchsniveau.“ Das bedeutet, Zufriedenheit ist das Ergebnis eines Vergleiches. Wir setzen unsere faktische Situation in Beziehung zu den persönlichen Idealvorstellungen – je kleiner uns die Kluft zu sein scheint, die zwischen beiden Zuständen klafft, desto zufriedener sind wir. Eine Rolle spielt dabei auch, ob wir uns auf einem guten Weg sehen, die Lücke zwischen „Ist-“ und „Soll-Zustand“ verringern zu können.
Damit führen zwei Wege zur Zufriedenheit, die beide bewirken, dass die Kluft sich verringert. Zum einen können wir daran arbeiten, unsere Wünsche und Träume zu verwirklichen: Wer in seiner Wohnung nicht glücklich ist, schaut sich nach einer neuen um, wer sich am Wochenende einsam fühlt, gründet mit anderen eine Ausflugsgruppe, wer mit seiner Figur hadert, entscheidet sich, Sport zu treiben. Für diesen ersten, den offensiven Weg zur Zufriedenheit spricht: Es wirkt sinnstiftend, sich Ziele zu setzen, und sie motivieren uns. Das gilt allerdings nur, wenn wir sie irgendwann auch erreichen. Wenn wir uns umsonst abstrampeln und regelmäßig scheitern, sind sie eine Quelle für Unmut, Ärger und Frust. Diese Unzufriedenheit kann chronisch werden und in Depressionen münden; zudem schädigt das dauernde Verfehlen eigener Ansprüche unser Selbstwertgefühl.
Die andere Art, zufrieden zu werden, nennt Brandtstädter den defensiven Weg. Er besteht darin, die eigenen Ansprüche zu senken, sich in seinen Lebensträumen zu bescheiden, die eigenen Ziele den Umständen anzupassen. Die Folge: Die Distanz zwischen Ist- und Sollwert schwindet ebenfalls, die Lebenszufriedenheit steigt. Für das Paar, das sich ein Kind wünscht, kann nach vielen medizinischen Eingriffen die Lösung darin bestehen, sich vom ersehnten Ziel zu verabschieden und sich mit der kinderlosen, aber liebevollen Partnerschaft zufriedenzugeben. Oder sie passen ihr Ziel den Möglichkeiten an und denken über eine Adoption nach.
Beide Strategien sind gleichwertig, es kommt darauf an, sie klug und balanciert zu nutzen, um die Kluft zwischen „Sein“ und „Ideal“ zu verringern: Mal gilt es, offensiv eigene Ziele zu verfolgen, mal brauchen wir die Fähigkeit, uns defensiv zurückzuziehen, neu auszurichten und uns an die Lebensumstände anzupassen.
Aber wann ist welche Strategie die richtige? Wir können davon ausgehen, dass wir – als Bewohner der westlichen Industrieländer – in der offensiven Strategie geübter sind. Unsere westliche Kultur ist stärker individualistisch geprägt als beispielsweise asiatische Kulturen, die eher auf gemeinschaftliches Handeln ausgerichtet sind. Wir sind es gewohnt, uns hohe persönliche Ziele zu stecken und an der Selbstoptimierung zu arbeiten, um unsere Träume zu verwirklichen. Berge von Ratgeberbüchern stehen hierzulande in den Läden, die uns Wege aufzeigen, wie wir mit Selbstaffirmationen eigene Kraftquellen anzapfen und für unsere Ziele nutzen können. Diese Botschaften („Ich schaffe das!“, „Ich bin ein liebenswerter Mensch“) sollen uns motivieren und helfen, vor allem individuelle Pläne und Träume wie Liebe, Partnerschaft, Erfolg im Beruf, mehr Wohlstand zu verwirklichen.
Was uns eher fehlt: Anleitung und Übung für den defensiven Weg zur Zufriedenheit – der ebenso wichtig ist und der darauf basiert, die Dinge geschehen zu lassen und sich zu bescheiden. Nun hat eine Reihe von Experten diesen blinden Fleck vieler Westbürger erkannt – und neu beleuchtet. Sie berufen sich auf Philosophen aus der Antike und östliche Lehren: Nicht kurze, persönliche Hochgefühle sind das Ziel, sondern eine andauernde, auf unseren Einstellungen beruhende höhere Grundstimmung der Zufriedenheit. Was sind die Wege zum wirklichen Glück – zur Zufriedenheit?
Gelassenheit üben
Uns kann viel aus der Ruhe bringen, und meist haben wir genug zu tun, sodass wir es gar nicht schaffen, überhaupt in diesen Zustand der Ruhe zu gelangen: Der Garten könnte besser gepflegt sein, die Steckdose im Wohnzimmer wackelt, Freunde wollen besucht, Termine verabredet, Mails gelesen werden. Die deprimierende Nachricht ist: Irgendetwas zu tun gibt es immer. Wer es nicht schafft, manche Sachen eine Weile im suboptimalen Zustand „sein“ zu lassen – der wird im Verbessern, Verschönern, Erledigen und Geraderücken untergehen. Dann tritt der paradoxe Effekt ein: Zwar macht die neue Bepflanzung den Balkon tatsächlich viel schöner, aber die Zeit, ihn zu genießen, ist mit Buddeln und Umtopfen verflossen – erst im nächsten Jahr gibt es eine neue Chance. Vielen tut es daher gut, zu üben, den Dingen mehr ihren Lauf zu lassen.
Dazu brauchen wir Gelassenheit. Aber sind Ruhe, Gleichmut oder Geduld durch angestrengtes Bemühen erreichbar? Es ist hilfreich, die eigenen Ziele nicht zu hoch zu stecken und Begrenzungen, die uns das Leben auferlegt, hinzunehmen. Wenn wir eigene Ansprüche zurückstecken, bedeutet es nicht, dass wir resignieren. Die hohe Kunst der Gelassenheit besteht vielmehr darin, klug zu erkennen, wann unser Tatendrang wirklich sinnvoll ist – und ihn anderenfalls zu bremsen. Es hilft, die eigenen Grenzen zu kennen und zu akzeptieren und das angestrengte Wollen – zumal wenn es zu nichts führt – zu dämpfen.
Wer Gelassenheit trainieren will, muss auch das Loslassen üben. Denn gelassen sind wir üblicherweise nur gegenüber Dingen, an die wir emotional nicht gebunden sind. Was wir üben können, ist die „reflektierte Indifferenz“: dass wir uns nicht an einzelne Wünsche oder Träume klammern, sondern für Alternativen offen bleiben. Die antiken Philosophen der Stoa empfahlen diesbezüglich sogar, alle äußeren Güter, die verlorengehen können, als unbedeutend-belanglos zu betrachten.
Die Gefühle einladen
Wir haben niemals alles im Griff – wer sich dieses Ziel setzt, bewusst oder unbewusst, muss daran scheitern: Der Job kann verlorengehen, die Partnerschaft zerbrechen, die Gesundheit schwächeln, all diese Entwicklungen liegen höchstens zum Teil in unserer Hand.
Wir tun daher gut daran, Kontrolle abzugeben und uns den Umständen und auftretenden Gefühlen zu stellen, auch den ungewünschten. Der Zenexperte Ezra Bayda empfiehlt die „Strategie der drei Fragen“ im Umgang mit Widrigkeiten, unerwünschten Gedanken und Gefühlen. In unklaren Gefühlszuständen solle man in sich hineinhorchen: Bin ich im Moment völlig zufrieden? Wenn nicht, so folgt Frage Nummer zwei: Was hemmt meine Zufriedenheit in diesem Augenblick? Und die letzte Frage ist eine rhetorische, denn sie ist zugleich eine Aufforderung: Kann ich das Gefühl, das meine Zufriedenheit in diesem Moment blockiert, akzeptieren?
Dieser Weg bewirkt, dass wir alle Gefühle, die in einem bestimmten Moment vorhanden sind, wahrnehmen und zulassen. Es ist eine Übung in der defensiven Strategie, denn sie trainiert, die Umstände und die eigenen Gefühle dazu anzunehmen – auch solche, die wir als falsch oder störend empfinden. Können wir uns mit ihnen anfreunden, verringern wir die Kluft zwischen unserem Idealbild (was wir fühlen möchten) und den Emotionen, die wir tatsächlich empfinden.
Wer alle Gefühle einlädt, auch die ungeliebten, profitiert noch in einer anderen Hinsicht: Wir können zwar üben, negative Emotionen auszusperren, aber das wirkt sich auf unseren gesamten Gefühlsreichtum aus – denn damit fühlen wir insgesamt weniger.
Nicht bewerten
Überhaupt raten Buddhisten und Zenlehrer vom Bewerten ab: Wir sollen nicht so viel urteilen, nicht über andere und nicht über uns selbst. Das gilt auch beim Meditieren: Bei dieser Konzentrationsübung sollen wir die eigenen Gedanken möglichst neutral anschauen und alle so zulassen, wie sie uns kommen.
Das ist natürlich, zumal für den Ungeübten, kaum zu schaffen. Aber das Nichtbewerten zu üben ist hilfreich – zum einen weil es einschließt, dass wir uns selbst mit einem weniger strengen Blick betrachten. Zum anderen macht es auch anderen Menschen und deren Meinungen gegenüber milder. Wir üben damit, mehr über die Welt und deren Vielfalt zu staunen, als uns von äußeren Situationen, eigenen Gedanken und anderen Meinungen aufwühlen zu lassen.
Eine radikale Meinung zu unseren Urteilen vertraten auch die Philosophen der Stoa in der Antike: Sie gingen davon aus, dass alles, was im Leben geschieht, im Prinzip richtig ist. Und dass nicht die Ereignisse oder andere Menschen uns das Leben schwermachen – sondern allein unsere Bewertung der jeweiligen Situation. Sitzen wir beispielsweise als Paar am Strand und genießen still den Sonnenuntergang, sind wir womöglich verstimmt, wenn eine Gruppe Jugendlicher denselben Ort auswählt, allerdings mit lauter Hip-Hop-Musik als Soundkulisse aus dem CD-Player. Eigentlich ist daran überhaupt nichts schlecht – wir bekommen nur schlechte Laune, wenn wir an unserer Meinung festhalten, wie die Situation oder das Verhalten der andern sein sollte.
Ziele überprüfen
Nach Jochen Brandtstädters Modell haben wir immer zwei Möglichkeiten, zufriedener zu werden: Wir können uns Ziele setzen und sie verfolgen oder sie aufgeben und der Situation anpassen. Wem Letzteres schwerfällt, sollte dies üben. Denn wer sich zu hohe Ziele steckt oder nicht erkennt, dass ein Ziel unerreichbar ist, und daran festhält, ist anfällig für eine depressive Störung. Jeder sollte prüfen, ob er oder sie nicht zu lange an einmal gefassten Vorhaben festhält. In Studien zeigte sich nämlich: Depressive Menschen trennen sich schwerer von blockierten Zielen und Lebensentwürfen als andere. Ein typischer Satz dieser Menschen lautet: „Ich wollte das unbedingt, und nun sieht es so aus, als wenn es nicht klappt – aber ich gebe die Hoffnung nicht auf und arbeite weiter daran.“ Auch die Wahl unserer Ziele spielt für die Zufriedenheit eine Rolle: Wer sich materiellen Zielen verschreibt, wird eher nicht glücklich, lohnender sind altruistische Ziele und solche, die auf Gemeinschaft ausgerichtet sind, so die Ergebnisse einer großen repräsentativen Studie in Deutschland.
Vorsicht beim Vergleichen
Wer sich „nach oben“ vergleicht – also mit wohlhabenderen, schöneren, gesünderen oder anderswie besser situierten Menschen –, macht sich damit höchstwahrscheinlich unglücklich. Studien zeigen nämlich: Unsere Zufriedenheit hängt stark von unseren Maßstäben ab. Wenn wir das neue Auto in Bezug zum noch komfortableren Wagen des Nachbarn setzen oder wenn wir unseren Zweiwochenurlaub an der Ostsee mit der vierwöchigen Fernreise der Freundin nach Kenia vergleichen, tun wir uns überhaupt keinen Gefallen. Vergleiche „nach unten“ sind günstiger, meistens werden wir dadurch zufriedener.
In der Gegenwart leben
Ruminierendes Denken nennen Psychologen kreisende Gedanken, die sich in der Regel auf die Vergangenheit oder Zukunft beziehen: Wir grübeln über ein Ereignis von gestern, das uns nicht gelungen ist, oder drehen gedankliche Schleifen über etwas, das morgen schiefgehen könnte. Ruminierendes Denken, das nicht enden will, ist ein Kennzeichen der Depression. Die Denkschleifen sind nicht nur sehr belastend, sondern oft auch völlig unnütz. Es hängt vor allem davon ab, ob es um Fragen und Probleme geht, an denen wir prinzipiell etwas ändern können.
Wenn wir mit dem Nachdenken die Lage nicht verbessern können, ist es wichtig, diese Gedanken zu unterbrechen. Denn obwohl die Grübelinhalte nichts mit der Gegenwart zu tun haben, wirken sie stark auf unsere aktuelle Gefühlslage ein. Wir können sie stoppen, indem wir innehalten und uns fragen: „Aber was ist jetzt, in diesem Moment?“ Die Antwort darauf lautet dann oft, dass es uns „im Moment“ gutgeht. Achtsamkeitsübungen und Meditation sind wirksame Methoden, das ruminierende Denken zu stoppen.
Sich selbst mit Distanz betrachten
Unser Geist denkt, er tut es dauernd, weil es seine Aufgabe ist – aber was er „produziert“, ist nicht immer sinnvoll. Um das zu erkennen und uns von den eigenen Gedanken zu distanzieren, ist Meditation eine gute Methode. Wir können mit ihrer Hilfe auf eine Metaebene gelangen – und sind in diesem Zustand in der Lage, uns selbst beim Denken zuzuschauen. Von dieser Warte aus haben wir eine innere Distanz zu unseren eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Zielen.
Wir erleben uns in einem größeren Zusammenhang, sind von der ichzentrierten Lebenseinstellung abgelöst. Die Ausweitung der Ich-Grenzen kann unterschiedliche Formen annehmen: eine gesteigerte Einfühlung in Mitmenschen, die ganze Menschheit oder die Empfindung des Einswerdens mit der Natur. Diese Erweiterung der eigenen Grenzen wird nicht nur in östlichen Philosophien beschrieben: Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, nannte es das „ozeanische Gefühl“, der Psychologe Brandtstädter spricht von „finaler Dezentralisierung“, andere nennen es „Entgrenzungserfahrung“, „Ich-Transzendenz“ oder die „kosmische Perspektive“. Die Erweiterung der Ich-Grenzen ist ein Merkmal der inneren Zufriedenheit: Über den eigenen engen Horizont hinausblicken, das macht glücklich.
Die Anspruchshaltung aufgeben
Wir haben kein Recht auf Glück – leider. Es gibt weder ein Recht auf ein gesundes Leben noch auf einen erfüllenden Beruf oder einen liebenswürdigen Partner – nicht einmal eine gute Kindheit ist einigen Menschen vergönnt. Und auch wer in der Mitte des Lebens steht und meint, „nun aber genug“ gelitten zu haben, kann nicht auf eine ausgleichende Gerechtigkeit hoffen. Manche wachsen in einer gewalttätigen Familie auf, andere in Armut, wieder andere werden mit einem silbernen Löffel im Mund geboren und haben liebevolle Eltern – wir müssen es nehmen, wie es kommt. Und uns mit diesen persönlichen Voraussetzungen arrangieren und das Beste für uns aus diesen Umständen machen.
Literatur
Ezra Bayda: Beyond happiness. The Zen way to true contentment. Shambhala, Boston 2011
Jochen Brandtstädter: Positive Entwicklung. Zur Psychologie gelingender Lebensführung. Spektrum, Heidelberg 2011
Oliver Burkeman: The antidote. Happiness for people who can’t stand positive thinking. Canongate, Edinburgh 2012
Alan Cohen: Enough already. The power of radical contentment. Hay House Inc., New York 2012
Bruce Headey, Ruud Muffels, Gert G. Wagner: Long-running German panel survey shows that personal and economic choices, not just genes, matter for happiness. PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America), 107, 42, 2010, 17922–17926
David Malouf: The happy life. The search for contentment in the modern world. Chatto & Windus, London 2011
Beverley Southgate: Contentment in contention. Acceptance versus aspiration. Palgrave Macmillan, Basingstoke 2012
Können wir unsere Zufriedenheit beeinflussen?
Haben wir es überhaupt selbst in der Hand, zufrieden zu sein – oder bestimmt unsere Persönlichkeit, in welcher Stimmung wir durchs Leben gehen?
Vor etwa 30 Jahren griffen Forscher diese Fragen auf und entdeckten, dass das individuelle Glücksempfinden eines Menschen über die Lebensspanne hinweg erstaunlich stabil blieb. Studien zeigten sogar: Nach einem Lottogewinn oder nach einem schweren Unfall mit folgender Querschnittslähmung sind viele Menschen nur für kurze Zeit deutlich glücklicher oder unglücklicher – sie kehren schon bald zu ihrem früheren „Glückslevel“ zurück. Experten nannten dieses Niveau den Set-Point (Dt.: Vorgabewert). Offenbar, nahmen die Forscher an, oszilliert unser individuelles Glücksempfinden um so einen vorgegebenen Punkt herum. Aus dieser Sicht steht unser Glücksniveau bereits in jungen Jahren fest: Es wird durch unsere Persönlichkeitseigenschaften bestimmt, die weitgehend stabil sind.
Neue Längsschnittstudien stellen so einen angenommenen Fixpunkt nun aber wieder infrage. Deren Auswertungen zeigen, dass sich bei nicht wenigen Menschen das Maß der Zufriedenheit über die Jahre durchaus stark wandelt. Forschungsergebnisse dazu kommen beispielsweise aus dem „Sozio-oekonomischen Panel“ (SOEP). Dabei handelt es sich um eine repräsentative Längsschnittstudie, bei der seit 1984 jedes Jahr Tausende Deutsche – immer dieselben – unter anderem zu ihrer Zufriedenheit befragt werden. „Die Ergebnisse sprechen eindeutig gegen die Set-Point-Theorie“, sagt der Volkswirtschaftsprofessor Gert G. Wagner, der die SOEP-Erhebungen seit Beginn mitgestaltet. „Wir befragen Menschen seit 30 Jahren zu ihrer selbst eingeschätzten Zufriedenheit, die sie auf einer Skala von 0 bis 10 angeben. Die Ergebnisse zeigen, dass fast 40 Prozent von ihnen den Wert über die Zeit um mindestens 25 Prozent verändern“, so das Vorstandsmitglied des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. „Bei 10 Prozent der Menschen schwankt der Wert über gut 20 Jahre sogar um 50 Prozent.“
Was sind die Faktoren, die nach dieser Studie die Zufriedenheit der Deutschen ausmachen? „Gesundheit ist das A und O der Lebenszufriedenheit“, folgert Wagner aus den jüngsten Ergebnissen. Außerdem macht genug Arbeit zufrieden, „aber zu viele Überstunden darf man nicht machen“, so der Volkswirtschaftsprofessor mit soziologischen und psychologischen Forschungsinteressen. „Wichtig sind außerdem Geselligkeit und Hilfsbereitschaft, und ein bisschen macht auch Religiosität zufriedener“, sagt Wagner. „Und offenbar machen in reichen Gesellschaften wie in Deutschland auch altruistische Ziele glücklicher als das simple Streben nach mehr Geld“, so der Mitgestalter der Längsschnittstudie.
Das sind, insgesamt gesehen, gute Nachrichten, denn sie bedeuten: Auch wenn bestimmte Eigenschaften wie soziale Aufgeschlossenheit und innere Ruhe sich günstig auf unsere Zufriedenheit auswirken, was zahlreiche Forschungen belegen – sie spielen nicht die alleinige Rolle. Wir können zum einen durch unsere Lebensentscheidungen mit beeinflussen, wie zufrieden wir im Leben sind. Zum anderen haben wir es in der Hand, an unserer Selbstentwicklung zu arbeiten. Davon ist Jochen Brandtstädter, Psychologieprofessor an der Universität Trier, überzeugt. Denn menschliche Entwicklung vollzieht sich in einem weiten Spielraum von Möglichkeiten, von denen der Einzelne nur einen geringen Teil verwirklicht.
Was zufriedene Menschen anders machen
Überraschende Erkenntnisse der neueren psychologischen Forschung
Glücklich sein – das ist offensichtlich das Ziel der meisten Menschen. In einer Studie mit mehr als 10 000 Teilnehmern aus 48 Ländern fanden die Psychologen Ed Diener und Shigehiro Oishi heraus, dass Glück für Menschen überall auf der Welt als erstrebenswertes Lebensziel gilt. Es ist ihnen sogar wichtiger als Reichtum oder die Aussicht, in den Himmel zu kommen. Dementsprechend intensiv ist die Suche nach dem Geheimnis eines glücklichen Lebens. Dass die meisten dabei in der falschen Ecke suchen, davon ist der Psychologe Todd B. Kashdan überzeugt. Für ihn ist Glück mehr als eine Ansammlung intensiver positiver Gefühle. Glücklich ist nach seiner Erfahrung, wer das Gefühl der Zufriedenheit kennt. Und diese Zufriedenheit hängt in hohem Maße von unseren alltäglichen Verhaltensweisen ab. Neuere Erkenntnisse zeigen, dass es ganz bestimmte Aktivitäten und Gewohnheiten sind, die uns Zufriedenheit bescheren:
Neugierig sein
Zufriedenheit stellt sich nicht nur dann ein, wenn wir Dinge tun, von denen wir schon wissen, dass wir sie mögen. Einen Zuwachs an guten Gefühlen bekommen wir auch, wenn wir unsere Komfortzone verlassen. Zufriedene Menschen sind neugierig, wie eine von Todd Kashdan und Michael Steger durchgeführte Studie belegt. Sie baten Teilnehmer, über einen Zeitraum von 21 Tagen ihre täglichen Aktivitäten zu notieren und auch ihre damit verbundenen Gefühle aufzuschreiben. Dabei stellten sie fest, dass jene Probanden mit ihrem Leben zufriedener waren, die sich häufiger neuen, unbekannten Situationen aussetzten. Kurz: Wer neugierig durchs Leben ging, fühlte sich seelisch wohler. Gleichzeitig zeigten diese Neugierigen auch Verhaltensweisen, von denen die psychologische Forschung schon länger weiß, dass sie ein großes Zufriedenheitspotenzial haben: Sie waren hilfsbereit und drückten ihre Dankbarkeit aus, wenn sie von anderen Gutes erfuhren.
Allerdings sind mit Neugierde nicht unbedingt nur positive Gefühle verbunden. Wer neugierig ist, begibt sich in für ihn unbekannte Situationen, geht Risiken ein, bricht mit Gewohnheiten. Wer neugierig ist, verzichtet auf die Sicherheit des Moments. Der Lohn dieser Risikobereitschaft ist aber langfristig ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit. Wer also das wahre Glück finden will, muss von Zeit zu Zeit neue Situationen suchen, die unsicher, kompliziert oder aufregend sind.
Nicht alles wahrnehmen
Zufriedene Menschen sind weniger analytisch und perfektionistisch. Die Psychologin Kate Harkness von der Queen’s University machte in einer ihrer Studien eine interessante Entdeckung: Depressive Menschen sind in der Lage, selbst kleinste mimische Veränderungen bei anderen Menschen zu registrieren. Sie sehen, wenn ein kleines sarkastisches Lächeln über das Gesicht ihres Gegenübers huscht, der andere die Augenbrauen hochzieht oder die Augen verdreht. Nichtdepressive, zufriedene Menschen dagegen übersehen solche irritierenden nonverbalen Zeichen – und lassen sich dementsprechend auch nicht davon beeinflussen. Es scheint, als hätten zufriedene Menschen einen Schutzschild gegen eine zu detaillierte Wahrnehmung, die ihre Stimmung negativ tönen könnte. Ebenso wenig beobachten zufriedene Menschen sich ständig selbst, sie sind weniger perfektionistisch und beurteilen ihre Leistungen weniger streng. Die Fähigkeit, großzügig über unangenehme Dinge hinwegzusehen, fördert also die Zufriedenheit.
Sich mit anderen freuen
Ein guter Freund hilft in der Not. Er ist da, wenn man Trost und Unterstützung braucht, er puffert schwierige Zeiten ab. Zweifellos fördert ein solches Verhalten die Zufriedenheit auf beiden Seiten. Noch wenig bekannt aber ist, dass auch das freundschaftliche Miteinander in guten Zeiten das Leben zufriedener machen kann. Wer glückliche Momente mit seinen Freunden teilen und umgekehrt seine eigenen Erfolge und Freuden mit anderen feiern kann, ist deutlich zufriedener als jemand, der meist nur in schlechten Zeiten Zuwendung gibt und bekommt. Das gilt auch für Paare, wie die Psychologin Shelley Gable von der University of Califonia in Santa Barbara herausfand: Wenn Paare ihre gegenseitigen Erfolge nicht feiern, schadet das der Beziehung. Würdigen aber die Partner ihre jeweiligen Leistungen, ist die Zufriedenheit mit der Beziehung deutlich höher.
Warum aber fördert es die Zufriedenheit, wenn ein anderer sich mit uns freut? Die Erklärung der Psychologin: Indem wir über ein positives Erlebnis berichten, verstärkt sich der Eindruck, den wir davon haben; die damit verbundenen positiven Gefühle werden noch intensiver – das Positive wird noch positiver. Das leuchtet unmittelbar ein. Aber warum macht es auch zufriedener, wenn man sich mit anderen über ihre Erfolge freuen kann? Hier ist ein Effekt am Werk, der auch beobachtet werden kann, wenn man Geld für Geschenke oder für wohltätige Zwecke ausgibt: Das Gefühl, Gutes zu tun, macht glücklich. Wenn wir uns von Herzen für einen anderen freuen, dann kommt die Freude wie ein Bumerang auch zu uns zurück.
Todd B. Kashdan: Mindfullness, acceptance, and positive psychology: The seven foundations of well-beeing. Context Press, Oakland 2013