Nur noch fünf Tage, bis Andreas das Konzept zur digitalen Archivierung von Dokumenten auf den Schreibtisch der Chefin legen muss. Es ist Wochen her, dass sie ihm diese eher langweilige Aufgabe übertragen hat. Aber der IT-Experte hat sich seitdem lieber mit der geplanten neuen Datenbank befasst, ein Thema, das ihn mehr interessiert. Andreas hat ein schlechtes Gewissen, weil er das Archivierungsprojekt so lange vertagt hat. Aber irgendwie braucht er den Druck einer heranrückenden Deadline, um sich zu motivier…
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braucht er den Druck einer heranrückenden Deadline, um sich zu motivieren, und hat das Gefühl, unter Stress schneller und effizienter arbeiten zu können. Wenn er ehrlich ist, liebt er die Stimmung, die mit Fünf-vor-zwölf-Aktionen einhergeht: die adrenalingetränkte Intensität, das fieberhafte Arbeiten bis tief in die Nacht und das Hochgefühl, wenn er die Aufgabe doch noch rechtzeitig fertiggestellt hat. Auch diesmal bringt er die Sache zu einem guten Ende. Fünf Tage später, kurz vor Feierabend, trägt er den säuberlich ausgedruckten Report persönlich in das Büro der Bereichsleiterin. Als er sie am nächsten Tag trifft, scheint sie von seiner Arbeit recht angetan zu sein.
Wichtige Aufgaben immer wieder zu verschieben, obwohl man sie eigentlich erledigen sollte, nennt man in der Psychologie Prokrastination. Der Begriff wird überwiegend negativ verstanden, im Sinne eines dysfunktionalen Verhaltens oder gar einer ernsthaften Lern- und Arbeitsstörung. Es gibt unterschiedliche Definitionen, aber die meisten Forscher betonen drei Kernkriterien: Neben der Tatsache, dass eine Tätigkeit herausgezögert wird, gehören dazu die fehlende Notwendigkeit und die Kontraproduktivität dieses Verhaltens. Mit anderen Worten: Man stellt die Aufgabe zurück, obwohl es eigentlich keinen guten Grund dafür gibt und man sich selbst damit schadet. Als Ursache werden allerhand menschliche Schwächen ins Feld geführt: Angst vor Versagen, Impulsivität, Perfektionismus, der Wunsch nach schneller Bedürfnisbefriedigung, Ablenkbarkeit, Probleme mit der Selbstregulation, mangelnde Organisation und Prioritätensetzung.
Doch was ist mit Leuten wie Andreas, die wichtige Aufgaben immer wieder bis zur letzten Minute zurückstellen und sich deswegen auch Vorwürfe machen, denen ihre Aufschieberitis aber durchaus Vorteile zu bringen scheint? Es gebe in der Tat Formen des Aufschiebens, meinen einige Forscher, die nicht so problematisch sind. Manche halten das Vertagen sogar für eine hilfreiche Strategie. Dazu gehört Jin Nam Choi, Organisationspsychologe und Professor an der Seoul National University, der Gründe und Folgen des Aufschiebens bei kanadischen Studenten untersucht und dabei zahlreiche positive Aspekte identifiziert hat. Diese Ergebnisse belegten die Notwendigkeit, meint er, die einseitige Sicht auf Prokrastination als ungesund und unproduktiv zu durchbrechen: „Wir sollten anerkennen, dass manche Arten des Aufschiebens Menschen zufriedener und leistungsfähiger machen.“
Auch John Perry, emeritierter Philosophieprofessor von der Stanford-Universität, will die Tendenz zum Aufschieben nicht als ausschließlich negative Eigenschaft verstanden wissen. Er hat den Begriff der strukturierten Prokrastination, auch „Aufschieben mit Plan“ genannt, entwickelt – aus eigenem Leidensdruck. Der angesehene Wissenschaftler ist ein notorischer Aufschieber, und früher haderte er sehr mit dieser Schwäche, wie er in seinem humorvollen und selbstironischen Büchlein Einfach liegen lassen berichtet. Als er mal wieder mit einem Projekt nicht in die Gänge kam und sich deswegen schrecklich fühlte, fiel ihm auf: Trotz seiner Angewohnheit, wichtige Aufgaben bis zur letzten Minute – und darüber hinaus – liegenzulassen, hatte er den Ruf, ein Mensch zu sein, der viel Produktives leistet. Wie ließ sich dieses Paradox erklären? Ganz einfach: Aufschieber wie er tun selten gar nichts. Um nicht das zu tun, was sie eigentlich tun sollten, beschäftigen sie sich mit vielen anderen Dingen. Das kann abstauben, Bleistifte anspitzen oder im Internet surfen sein. Die Kunst des strukturierten Aufschiebens besteht darin, sich nicht auf solch unwichtige Tätigkeiten zu beschränken. Ein Aufschieber, betont Perry, kann sich oft auch zu schwierigen und zeitaufwendigen Aufgaben motivieren, sofern ihm dies dazu dient, andere wichtige Dinge nicht zu tun.
Aufschieber sind nicht faul – sie sind fast immer beschäftigt
Das sieht Piers Steel, Professor für Human Resources und Organisationspsychologie an der Universität von Calgary und einer der bekanntesten Prokrastinationsforscher, ähnlich. „Verhaltenspsychologen meinen, wir seien bereit, jede noch so schlimme Tätigkeit zu verrichten, wenn wir dadurch etwas noch Schlimmeres vermeiden können“, schreibt er in seinem Buch Der Zauderberg. Die Idee des kreativen Aufschiebens, wie Steel es nennt, basiere also auf soliden psychologischen Prinzipien. Wohlgemerkt: Grundsätzlich rät Steel, man solle versuchen, den Hang zum Vertagen und Trödeln in den Griff zu bekommen, aber er räumt ein, viele Menschen könnten ihn nicht vollkommen loswerden. Kreatives Aufschieben, obwohl keine perfekte Methode, könne den Preis des Aufschiebens immerhin deutlich reduzieren. Es ist eine Strategie, die er selbst praktiziert, wie er der New York Times verriet: „Es ist einer meiner besten Tricks, meine Projekte gegeneinander auszuspielen; ich schinde Zeit im Hinblick auf ein Projekt, indem ich an einem anderen arbeite.“
Zeit gewinnen, indem man an etwas anderem arbeitet
Strukturiertes Aufschieben ist am wirkungsvollsten, erklärt Perry, wenn man an die Spitze der Prioritätenliste Aufgaben setzt, die wichtiger und dringender klingen, als sie in Wirklichkeit sind. Diese kann man dann getrost zugunsten von Tätigkeiten weiter unten vertagen, die auch (oder eigentlich) bedeutsam sind. „Der Aufschieber“, schreibt Perry, „braucht seine Aufgaben nur auf diese Weise planvoll zu sortieren und wird so zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft. Womöglich erwirbt er sich sogar wie ich den Ruf, viel zu leisten.“
Aufschieben, sofern man es richtig macht, muss laut Perry also kein Übel und kein Laster sein. Organisationspsychologe Choi sieht darin sogar eine potenzielle Stärke. Er unterscheidet zwischen „aktiver“ und „passiver“ Prokrastination. Die passive ist die schädliche Form, jene, die Psychologen bislang vor allem im Auge hatten. Passive Aufschieber, wie Choi sie beschreibt, vertagen eine Aufgabe, weil sie es nicht schaffen, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren oder sofortige Bedürfnisbefriedigung brauchen. Wenn der Termin näherrückt, die Frist abläuft, lastet der Druck schwer auf ihnen. Sie zweifeln an sich und ihrer Leistungsfähigkeit, werden von depressiven Verstimmungen geplagt. Dies erhöht noch die Gefahr, dass sie aufgeben und die Aufgabe nicht erfolgreich zu Ende bringen. Ganz anders aktive Aufschieber: Sie lieben es, unter Druck zu arbeiten. Deshalb vertagen sie Aktivitäten ganz bewusst und konzentrieren sich eine Weile auf andere Sachen, die ihnen ebenfalls wichtig sind. Wenn eine Deadline näherkommt, fühlen sie sich dadurch herausgefordert und motiviert. Auch unter großem Stress geben sie nicht auf, sondern arbeiten produktiv und konzentriert. So sind sie in der Lage, Aufgaben in der letzten Minute und mit guten Ergebnissen fertigzustellen.
Zwei Studien von Choi und Kollegen weisen nach, dass diese Unterteilung ihre Berechtigung hat. „Wir konnten zeigen“, schreiben die Autoren, „dass es eine Untergruppe von Aufschiebern gibt, nämlich die aktiven Aufschieber, die in der Tat wünschenswerte Einstellungen und Verhaltensweisen besitzen, obwohl sie das gleiche Maß an Prokrastination zeigen wie die traditionellen, passiven Aufschieber.“ In mancherlei Hinsicht denken und handeln aktive Aufschieber eher wie Menschen, die anstehende Aufgaben sofort erledigen, betonen die Wissenschaftler. So schnitten sie im Hinblick auf sinnvolle Zeitnutzung, Gefühle von Selbstwirksamkeit, Depressivität, Stresslevel und Studienleistungen genauso gut wie Nichtaufschieber ab, während passive Aufschieber deutlich nachteiligere Werte zeigten.
Wer abwartet, gibt der Kreativität eine Chance
Aktive Aufschieber wiesen eine weitere interessante Besonderheit auf: Von allen Teilnehmern waren sie diejenigen, die ihre Zeit am wenigsten strukturierten und am seltensten einer täglichen Routine folgten. Damit hätten die Forscher nicht gerechnet, aber Choi hat eine Erklärung parat. Obwohl aktive Aufschieber ihre Zeit durchaus planen, halten sie sich nicht sklavisch daran, vermutet er. Wenn etwas Überraschendes passiert, schalten sie um und wenden sich einer anderen Aufgabe zu, die ihnen im Moment wichtiger erscheint. Sollte sich diese These als zutreffend herausstellen, was erst noch überprüft werden muss, könnte sich aktives Aufschieben als besonders vorteilhafte – und sogar notwendige – Strategie für Menschen herausstellen, betont Choi, die in sehr fordernden, schwer einschätzbaren und sich schnell verändernden Bereichen arbeiten: „In dieser Art von Kontext mögen aktive Aufschieber effizienter funktionieren als andere, weil sie sich nicht von vorab aufgestellten Plänen einschränken lassen und deshalb spontaner mit unvorhergesehenen Veränderungen umgehen können.“
Auf die lange Bank schieben kann weitere Vorteile haben, zumindest aus der Sicht desjenigen, der schiebt. „Herauszögern verhindert, dass ich Dinge tue, wenn ich noch nicht so weit bin“, „Wenn ich etwas Schwieriges vertage, arbeitet es unbewusst weiter in mir“, „Wenn man abwartet, kann Kreativität ganz natürlich entstehen“, „Vertagen schützt mich davor, schlechte Entscheidungen zu treffen, wenn ich mich ängstlich fühle“, dies waren Aussagen, die 230 Teilnehmer einer englischen Onlinebefragung aus dem Jahre 2009 mit Prokrastination in Verbindung brachten. Eine amerikanische Studie, in der Gregory Schraw, Professor für Bildungspsychologie von der Universität Nevada, und Kollegen knapp 70 Studenten ins wissenschaftliche Kreuzverhör nahmen, förderte die folgenden nützlichen Aspekte zutage:
Zeitminimierung: Aufschieben stellte für die Teilnehmer eine Strategie dar, um ihre vielen Aufgaben und Interessen unter einen Hut zu bekommen. Indem sie Klausurvorbereitungen oder das Schreiben von Seminararbeiten so weit wie möglich nach hinten verschoben, schafften sie Raum, um sich zunächst um Jobs, Praktika oder soziale Aktivitäten zu kümmern.
Flow: Fast alle Befragten kannten die Hochgefühle, die mit hochkonzentriertem, intensivem Arbeiten einhergehen können. Der „Adrenalinfaktor“, wie es einer der Teilnehmer nannte, ließ eigentlich langweilige Aufgaben interessanter erscheinen. Für die Studenten war dies mehr als ein willkommener Nebeneffekt, sie schoben Aufgaben sogar bewusst auf, um sich Flowgefühle zunutze zu machen.
Optimierung der Effektivität: Die Teilnehmer berichteten einstimmig, die geballte Anstrengung am Ende des Semesters erhöhe alle Aspekte der Arbeitsproduktivität. Sie verschwendeten weniger Zeit mit Fehlstarts und gelangweiltem Vor-sich-Hinstudieren, sondern arbeiteten zielgerichtet und konzentriert.
Aber sind das nicht nur Ausreden, um sich den eigenen Hang zum Trödeln schönzureden, mag sich jetzt mancher fragen. „Prokrastinierer behaupten öfter, dass sie den selbstgemachten Druck benötigen, um produktiver arbeiten zu können“, bestätigt Julia Elen Beumler von der Prokrastinationsambulanz der Universität Münster. „Dies scheint jedoch eher als Legitimation für das eigene Aufschieben zu dienen, um angesichts von Schuld- und Schamgefühlen ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten.“ In der Tat weist Schraw in seiner Studie darauf hin, dass die Selbstaussagen der Teilnehmer durchaus verzerrt oder fehlerhaft sein könnten. Auf der anderen Seite erzielten in der Choi-Studie die aktiven Aufschieber genauso gute Studiennoten wie Nichtaufschieber. In einer 2011 veröffentlichten Studie von Danya Corkin (Universität Houston) war ein höheres Maß an aktivem Aufschieben sogar mit entsprechend besseren Noten verbunden, und aktives Aufschieben stellte sich unter verschiedenen Variablen als bester Prädiktor für gute Studienleistungen heraus.
Dennoch reagiert man in Fachkreisen skeptisch. Manche stören sich an der „Verwässerung“ des Begriffs der Prokrastination und möchten ihn für die dysfunktionalen Formen des Aufschiebens reservieren. Andere stellen infrage, dass es den Typ des aktiven Aufschiebers in nennenswertem Umfang gibt und dass Vertagen tatsächlich zu effizienterem Arbeiten führt. Auch Psychologin Beumler sieht aus ihrer Therapie- und Beratungserfahrung insbesondere die Nachteile, die das Aufschieben mit sich bringt: „Viele Betroffene berichten, dass – selbst wenn sie Fristen einhalten konnten – sie unter dem Stress und dem Druck kurz vor der Abgabefrist leiden.“ Immer wieder hört sie auch, dass Betroffene ihre Freizeit gar nicht mehr richtig genießen können, weil ihnen die unerledigten Aufgaben ständig im Kopf herumkreisen.
Das Konzept vom planvollen Aufschieben befreit von Schuldgefühlen
Auf der anderen Seite treffen Konzepte wie aktives und strukturiertes Aufschieben offenbar einen Nerv. Choi hat – neben einigen kritischen Kommentaren von etablierten Wissenschaftlern – Hunderte E-Mails mit positiven Kommentaren erhalten („faszinierende Idee“, „stimme vollkommen zu!“), wie er auf Anfrage ausführt. Viele junge Forscher, Doktoranden und Studenten hätten ihn um die Details zu seiner Messskala gebeten, um sie in ihren eigenen Arbeiten zu verwenden. Auch Perry weiß von äußerst positiven Reaktionen zu berichten: Mit keinem seiner Bücher und zahlreichen Aufsätzen über gewichtige philosophische Themen habe er so viele Leser erreicht, so viel lebenspraktische Hilfe geleistet (zumindest nach Aussagen Betroffener) wie mit seinen Ausführungen über strukturiertes Liegenlassen. Viele Leser, wie auch der folgende, meinten gar, damit habe er ihr Leben verändert: „In den letzten Monaten habe ich tausenderlei Dinge erledigt, hatte jedoch die ganze Zeit ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil es nicht die allerwichtigsten Aufgaben ganz oben auf der Prioritätenliste waren. Aber jetzt lösen sich die Gewitterwolken der Schuld- und Schamgefühle auf.“
Ansätze wie aktives, strukturiertes oder kreatives Aufschieben können offenbar dazu beitragen, ein entspannteres Verhältnis zum eigenen Bummeln und Trödeln zu finden. Und das mag kein unwichtiger Faktor sein. Eines seiner wichtigsten Anliegen sei, bestätigt Perry, das angeknackste Selbstbewusstsein von Aufschiebern wiederaufzurichten. Nicht allen chronischen Bummlern und Trödlern sei mit der Strategie des planvollen Aufschiebens gedient, räumt er ein, da die Probleme manchmal tiefer lägen und mehr Therapie benötigten. Doch der großen Mehrheit könne das Konzept genauso helfen, vermutet er, wie es ihm geholfen habe. Nach seiner Erfahrung ist es ein gutes Sprungbrett, um sich weitergehend mit der eigenen Bummelei zu befassen, etwa wie man mit Perfektionismus, depressiven Stimmungen oder zu viel Ablenkung umgeht: „Sobald wir uns als Aufschieber begreifen, die nach einem durchdachten System vorgehen, verbessert sich nicht nur unser Selbstwertgefühl, sondern wir bekommen seltsamerweise auch unsere Aufgaben besser in den Griff. Denn ist die Last der Schuldgefühle und der Verzweiflung erst einmal von uns abgefallen, verstehen wir besser, was uns eigentlich so sehr am Arbeiten hindert.
Literatur:
J. Choi, S. Moran: Why not procrastinate? Development and validation of a new active procrastination scale. Journal of Social Psychology, 149, 2009, 195–211
D. Corkin u. a.: Comparing active delay and procrastination from a self-regulated learning perspective. Learning and Individual Differences, 21, 2011, 602–606
J. Perry: Einfach liegen lassen. Das kleine Buch vom effektiven Arbeiten durch gezieltes Nichtstun. Riemann, München 2012
P. Steel: Der Zauderberg. Warum wir immer alles auf morgen verschieben und wie wir damit aufhören können. Lübbe, Köln 2011
B. Wilson, T. Nguyen: Belonging to tomorrow: An overview of procrastination. International Journal of Psychological Studies, 4, 2012, 211–217