Ich will noch nicht schlafen gehen!

Schlafen tut gut, aber spätestens beim Zähneputzen zögern viele das Zu-Bett-Gehen raus. Was steckt hinter "bedtime procrastination" und was hilft?

Die Illustration zeigt einen Mann im Pyjama, der schlaflos in ein Smartphone eintaucht
Wir sind müde und es ist schon längst Schlafenszeit. Trotzdem können wir das Smartphone kaum zur Seite legen oder schauen die Serie noch weiter. © Soner Aktas für Psychologie Heute

Simon Przewalski will abends nicht ins Bett. Stattdessen findet er unzählige Wege, die Schlafenszeit noch eine Weile hinauszuzögern. Wer jetzt an ein Kind denkt, das durchs Kinderzimmer hüpft und sich die Augen reibend gähnend verkündet: „Ich bin noch gar nicht müde“, täuscht sich. Przewalski ist 33 Jahre, steht mitten im Berufs- und Familienleben.

Sein abendliches Trödeln ist ihm unangenehm, deshalb ist Simon Przewalski auch nicht sein richtiger Name. An vielen Abenden in der Woche bleibt er auf dem Weg…

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bleibt er auf dem Weg ins Bett an Onlineartikeln in der Tagesschau-App hängen wie ein Kind am Spielzeug. Er scrollt sich immer tiefer durch die Nachrichten bis hinein ins Hyperlokale mit Geschichten über neu gesichtete Wölfe und marode Brücken.

Oder er schaut (schon im Bad, mit Zahnbürste in der Hand) auf YouTube zufällig vorgeschlagene Videos, etwa über enorm effiziente Wurstmaschinen („völliger Schmarrn“) und Kampfszenen aus Actionfilmen („total absurd“). Bis zu eine Stunde später als geplant geht er dann ins Bett. Sein Problem: Ist eines, das sehr viele Erwachsene haben.

Bettruhe rückt in immer weitere Ferne

Forscherinnen und Forscher sprechen von bedtime procrastination, also dem Aufschieben der Bettruhe. Der Begriff ist noch sehr jung, erst 2014 wurde er erstmals durch eine Studie geprägt. Doch vermutlich kennen dieses Phänomen viel mehr Menschen als gedacht. Einer repräsentativen Untersuchung mit rund 2500 niederländischen Männern und Frauen zufolge zögert etwa die Hälfte von ihnen abends die Bettruhe hinaus. Eine Untersuchung aus Deutschland kann die aufgeschobene Zeit beziffern: Studierende gingen etwa 45 Minuten nach ihrer Wunschzeit zu Bett, Schülerinnen und Schüler sogar im Schnitt anderthalb Stunden.

Auch in Statistiken schlägt sich nieder, wie lange Menschen heutzutage nachts schlafen. Sie zeigen den Schlafmangel, der vermutlich durch die verzögerte Bettruhe entsteht. Mehr als die Hälfte der Deutschen schlummert an Arbeitstagen sechs Stunden oder weniger pro Nacht, ergab eine Umfrage der Techniker-Krankenkasse 2017. Angeraten sind acht Stunden. Wer die nicht bekommt, ist am Folgetag oft müde, abgeschlagen und erschöpft, hat Probleme, sich zu konzentrieren.

Auf Dauer zu wenig zu schlafen kann drastische Konsequenzen haben: Das Risiko für Unfälle steigt ebenso wie dafür, an Krebs zu erkranken. Und: Wer zu wenig schläft, stirbt Studien zufolge sogar früher. Warum also aufschieben, was wir so dringend brauchen?

Am nächsten Abend: wieder das Gleiche

„Vermutlich ist das ein Konflikt, den wir ein Leben lang mit uns herumtragen“, sagt Katharina Bernecker, die am Psychologischen Institut der Universität Zürich forscht. Schon von Kindern kenne man die Rebellion, wenn es in die Federn gehen soll. „Der Unterschied ist aber: Kindern ist in der Regel noch nicht bewusst, wie gut Schlafen tut und dass zu langes Aufbleiben am nächsten Tag Folgen hat. Erwachsene wissen sehr wohl um diese Nachwirkungen.“

Tatsächlich suchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler noch nach Antworten auf das Warum. Die Ideen gehen in viele Richtungen. Ein türkisches Wissenschaftsteam vermutet hinter der Schlafprokrastination zum Beispiel die blanke Todesangst. „Jeden Tag bringt uns Schlaf dem Tod ein Stückchen näher“, so die Studienautorinnen und -autoren in ihrem Forschungsbericht.

In der Tat gilt Todesangst als ein Motor für Schlafprobleme. Die Erhebung aus der Türkei konnte aber den Zusammenhang zur aufgeschobenen Bettruhe nur für Männer nachweisen – und dies, obwohl Frauen eher zur Angst vor dem Tod neigen.

Bedrüfnis nach „etwas für mich“

Andere Forschungsgruppen verfolgen einen alltagsnäheren Ansatz. „Ich kann das Aufschieben total verstehen. Die Momente am Abend vor dem Schlafengehen sind eine Art geschützte Zeit. Da ist alles erledigt und man kann für sich sein. Da versuchen wir, so viel wie möglich herauszuholen“, sagt Psychologin Bernecker. In ihrer Forschung hat sie gezeigt, dass Stress dabei eine wichtige Rolle spielt. Demnach neigen wir an Tagen, die wir als stressig empfunden haben, umso mehr dazu, abends etwas nur für uns tun zu wollen.

„Das Gefühl, am Tag viele Dinge ‚gemusst‘ zu haben, führt dazu, dass wir abends versuchen, etwas nachzuholen, auch auf Kosten unserer Schlafenszeit“, sagt sie. Klar, Schlaf wäre der ideale Erholungsmoment, aber den erleben wir ja nicht bewusst, sondern spüren seine gute Wirkung erst am nächsten Tag. „Serien, die wir gucken, nehmen wir hingegen bewusst wahr und deren belohnende Wirkung.“ Also entscheiden wir uns für eine Folge nach der anderen, lange über den müden Punkt hinaus.

Der langgestreckte Feierabend kann aber einen Teufelskreis in Gang setzen. „Die Müdigkeit am nächsten Tag reduziert die Fähigkeit, Gefühle zu regulieren, so dass jegliche Stressoren am Tag als belastender empfunden werden. Die Folge: Am Abend wird noch eher aufgeschoben, weil die Selbststeuerung geschwächt ist“, sagt Juliane Kunert, die an der Prokrastinationsambulanz der Universität Münster Betroffene berät und therapiert.

Eine Schleife, die auch Simon Przewalski kennt: „Das Verrückte ist ja, dass ich eine Stunde Schlaf verloren habe. Das ist auch anstrengend für den Körper. Ich bin am nächsten Tag total müde und denke mir, wie dumm das am Vorabend war. Aber am nächsten Abend ist es wieder das Gleiche.“

Chronisches Aufschieben oder unliebsame Abendroutine?

Leiden also Menschen, die abends nicht ins Bett finden, möglicherweise von vornherein an zu wenig Selbstkontrolle? Vielleicht. Das legt auch ein anderer Fakt nahe. Personen, die tagsüber zum „regulären“ Prokrastinieren neigen und bekannt dafür sind, öfter mal zu locker zu lassen, verstricken sich abends eher in die Aufschieberei. Simon Przewalski kennt auch das von sich. Aufgaben hat er schon zu Schulzeiten „immer auf den letzten Drücker“ erledigt. „Aber kann das etwas mit dem abendlichen Aufschieben zu tun haben?“, fragt er verwundert.

Der Zusammenhang überrascht tatsächlich, denn zu dem „herkömmlichen Aufschieben“ kommt es ja deshalb, weil jemand eine unliebsame Aufgabe nicht erledigen möchte: Fenster putzen, eine Hausarbeit für das langweilige Geschichtsseminar schreiben oder einen wichtigen, aber verhassten Anruf tätigen. Schlafen hingegen ist für die wenigsten unliebsam, sondern etwas, dem man freudig entgegenschaut.

„Vielleicht ist die Abendroutine ja ein Teil des Problems“, versucht Simon Przewalski einen Erklärungsversuch und zählt auf, was auf ihn wartet, wenn er sich abends nach entspannten Stunden von der Couch ins Bad begibt: Zähne putzen, mit Interdentalbürsten die Zwischenräume reinigen, jeden Sonntag kommen noch zwei Minuten Zähneputzen mit Elmex-Gelee dazu. Dann Nasendusche, vor allem im Winter. Gesicht eincremen, auf Toilette gehen, umziehen, ein Heizkissen für die kalten Füße in die Mikrowelle und dann ins Schlafzimmer. „Meine Frau ist innerhalb von fünf Minuten im Bad fertig und liegt dann lesend im Bett. Ich brauche bis dorthin eine Ewigkeit“, sagt er.

Digitaler Zunder für späte Nachtruhe

Eine Forschergruppe aus den Niederlanden bestätigt Przewalskis These durch zwei kleine Erhebungen. Mit dem Hund rausgehen, Kontaktlinsen entfernen, Zahnseide nutzen, die Tür abschließen: Wer seine abendlichen Routinen nicht mag, neigt zum Schlendrian. Die Befragungen von mehr als 430 Männern und Frauen zwischen 19 und 79 Jahren unterstreichen das: Umso nerviger wir die To-dos am Abend finden, desto mehr schieben wir sie auf. „Aktivitäten, die die Bettgeh­routinen umfassen, könnten deshalb als abstoßend gewertet werden, weil sie obligatorische Handlungen enthalten, also doch wieder Dinge, die getan werden müssen“, ziehen die Forscherinnen und Forscher ihr Fazit.

Doch nicht nur die Routinen an sich, sondern auch was sonst vor dem Zu-Bett-Gehen gemacht wird, scheint entscheidend. Vor allem die digitalen Medien und Kanäle geben der nächtliche Aufschieberei Zunder. Serienfolgen gehen bei Streamingdiensten ineinander über. Instagram, TikTok und YouTube fesseln ihre Nutzerinnen und Nutzer durch perfektionierte Algorithmen und biedern sich mit immer neuen Vorschlägen erfolgreich bei den Schlafscheuen an.

Es wird weitergeguckt, auch wenn die Augenlider schon klappern. Das blaue Licht von Smartphones und Tablets unterdrückt währenddessen die Produktion des schlaffördernden Hormons Melatonin. Das Gehirn denkt also auch zu später Stunde noch, es sei Tag, und hält sich entsprechend wach.

„Ich habe schon überlegt, mein Smartphone abzuschaffen“, sagt Przewalski. Aber auch der Fernseher birgt Gefahren. „Ganz schlimm ist es, wenn meine Frau mal abends nicht da ist“, sagt der Familienvater. „Selbst wenn etwas im Programm nur semiinteressant ist, ist es meist genug, um mich dabei zu halten.“ Das gehe dann in etwa so: O, eine Doku. Angeguckt. O, noch eine. Spannend. Und danach kommt Anne Will. Na, das guck ich dann noch. Aha, und was ist das? Inas Nacht? Hm, ein fremder Sänger zu Gast. Interessant, mal sehen, wie der ist.

Selbsthilfe-Kniffe gegen Prokrastination

„Sein Handy oder den Fernseher am Abend rechtzeitig auszumachen ist schon sinnvoll“, sagt Psychologin Bernecker. Sie empfiehlt, generell die eigene Abendroutine zu beobachten und zu hinterfragen. „Wenn ich weiß, dass Instagram mich hineinzieht, rufe ich es dann abends vor dem Schlafengehen überhaupt noch mal auf? Kann ich bei meinem Streamingdienst ausstellen, dass die Folgen einer Serie direkt aneinander anknüpfen?“ Es gehe darum, die Hürden zu nehmen, um ins Bett zu gehen.

Prokrastinationstherapeutin Kunert empfiehlt neben der Selbstbeobachtung auch herauszufinden: „Was ist die Funktion des Aufschiebens? Warum schiebe ich konkret auf?“ Bei manchen liegt das Problem und damit die Lösung tiefer. Sie tun sich mit der Nachtruhe schwer, weil sie mit dem Kopf auf dem Kissen ins Grübeln kommen. „Was sind das für Themen, die Sie da umtreiben? Diese sollten bearbeitet werden, gegebenenfalls professionell“, rät Kunert. Auch Bernecker mahnt: „In einzelnen Fällen kann hinter dem Aufschieben eine Depression, eine Schlafstörung oder eine Smartphonesucht stecken.“ Da sei es wichtig, eine Expertin oder einen Experte hinzuzuziehen.

In der Regel helfen aber ein paar Selbsthilfe-Kniffe. Kunert würde zum Beispiel in einem zweiten Schritt das abendliche Bedürfnis, sich etwas zu gönnen, durchleuchten. „Vielleicht hilft es, schon im Alltag, also mitten am Tag etwas einzuführen, das entspannt und guttut, damit abends das Bedürfnis danach nicht mehr so groß ist“, sagt die Therapeutin aus Münster. Katharina Bernecker verbucht das unter Selbstmitgefühl (lesen Sie auch dazu „Selbstmitgefühl): „Wie stehe ich zu mir, wie viel möchte ich für mich Sorge tragen?“ 

Eine Studienreihe von Forschenden aus vier Ländern mit knapp 800 Untersuchten legt nahe: Menschen, die sich selbst gegenüber gütig und ohne Urteil sind, konnten den Erhebungen zufolge negative Gefühle am Tag besser regulieren und hatten am Abend seltener Probleme, rechtzeitig das Licht auszumachen. „Wir haben die protestantische Arbeitsethik noch stark verinnerlicht: ‚Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.‘ Aber warum sollten wir uns nicht auch am Tag mal etwas gönnen?“, sagt Bernecker.

Vorsatz fassen und Hürden auflösen

Womöglich sind viele auch schon mit sogenannten Wenn-dann-Regeln gut beraten. Ein New Yorker Forschungsteam hat diese Methode mit 300 jungen Männern und Frauen ausprobiert. Sie lernten in einem Onlineprogramm, ihren Vorsatz klar zu äußern (Ich möchte pünktlich zu Bett gehen!), und sollten sich dann das bestmögliche Ergebnis ausmalen (Ich fühle mich am Morgen besonders ausgeruht!). In einem zweiten Schritt sollten sie die größte innere Hürde benennen, die ihnen dafür aktuell im Weg stand. Bei nicht wenigen war es das ständige Verlangen danach, noch mehr Onlinevideos zu schauen.

Um den mentalen Kontrast zwischen Ziel und Hürde aufzulösen, sollten sie konkrete Wenn-dann-Pläne aufstellen: „Wenn es 23 Uhr ist, dann höre ich auf, mit was immer ich beschäftigt bin, und mache mich bettfertig.“ Tatsächlich war diese simple gedankliche Übung effektiv. Wer darin geschult wurde, ging im Schnitt bis zu 32 Minuten früher zu Bett. Der Effekt hielt mehrere Wochen an. Trotzdem fehlte bis zur Wunschschlafenszeit im Schnitt noch eine weitere Stunde.

Simon Przewalski hat auch schon einiges probiert. Er nimmt sein Handy meist gar nicht erst mit ins Bad. Die Tagesschau-App hatte er eine Zeitlang deinstalliert. Neuerdings hat er sich einen Podcast herausgesucht, der nach 15 Minuten endet – und dann auch seine Abendroutine. „Aber am besten klappt es, wenn ich mich an meine Partnerin halte.“ Wenn sie nach dem Zähneputzen im Bad bleibt, um dort auf ihn zu warten, und beide zur gleichen Zeit ins Bett gehen, dann löschen sie auch gemeinsam das Licht.

Zum Weiterlesen

Katharina Bernecker, Veronika Job: Too exhausted to go to bed: Implicit theories about willpower and stress predict bedtime procrastination. British Journal of Psychology, 111/1, 2020, 126–147. DOI: 10.1111/bjop.12382

Floor Kroese u.a.: Bedtime procrastination: introducing a new area of pro­crastination. Frontiers in Psychology, 5/2014, 611. DOI: 10.3389/fpsyg.2014.00611

Quellen

Katharina Bernecker u.a.: Too exhausted to go to bed: Implicit theories about willpower and stress predict bedtime procrastination. British Journal of Psychology, 111/1, 2019, 126–147. DOI: 10.1111/bjop.12382

Bart Kamphorst u.a.: Too depleted to turn in: The relevance of end-of-the-day resource depletion for reducing bedtime procrastination. Frontiers in Psychology, 9/252, 2018. DOI: 10.3389/fpsyg.2018.00252

Floor Kroese u.a.: Bedtime procrastination: introducing a new area of procrastination. Frontiers in Psychology, 5/611, 2014. DOI: 10.3389/fpsyg.2014.00611

Sanne Nauts u.a.: Aversive bedtime routines as a precursor to bedtime procrastination. The European Health Psychologist, 18/2, 2016, 80-84

Sanne Nauts u.a.: The explanations people give for going to bed late: A Qualitative Study of the Varieties of Bedtime Procrastination. Behavioral Sleep Medicine, 17/6, 2019, 753–762. DOI: 10.1080/15402002.2018.1491850

Fuschia Sirosis u.a.: Self-Compassion and bedtime procrastination: An emotion regulation perspective. Mindfulness, 10, 2019. 434–445. DOI: 10.1007/s12671-018-0983-3

Kutlu Kagan Türkarslan u.a.: Life is short, stay awake: Death anxiety and bedtime procrastination. The Journal of General Psychology, 147/1, 2020, 43–61. DOI:10.1080/00221309.2019.1633994

Timothy Valshtein u.a.: Using mental contrasting with implementation intentions to reduce bedtime procrastination: two randomised trials. Psychological Health, 35/3, 2020; 275–301. DOI: 10.1080/08870446.2019.1652753

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2023: Selbstmitgefühl