Wie wir einen Sinn im Leben finden und erfahren

Wir alle suchen Sinn im Leben – und finden nicht immer Antworten. Drei Bücher erläutern, wie wir ihr trotz der Flüchtigkeit finden können.

In Deutschland sind gegenwärtig mehr als 10000 Sachbücher über den Sinn des Lebens erhältlich. Darunter die passende Lektüre zu finden kann rasch zur Herausforderung werden. Sinnsuchenden – und sinnskeptischen – Menschen seien drei Bücher empfohlen, die eine tiefgründige philosophisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Lebenszweck und praktische Vorschläge für einen sinnhaften Alltag bieten.

Am Anfang des Lesevergnügens steht Wozu das alles? von Christian Uhle. Der Autor greift das menschliche Bedürfnis nach der Sinnhaftigkeit des Lebens auf und geht mit seiner Leserschaft auf eine philosophische Reise. Auf dieser begegnen wir Aristoteles, René Descartes, Erich Fromm und anderen wohlbekannten Denkern und Denkerinnen.

Aber Uhle verhindert, dass sein Buch eine allzu vertraute und zu oft gelesene philosophische Odyssee durch die Vergangenheit wird, indem er sich auch heutigen Philosophinnen und Philosophen widmet. So geht er beispielsweise auf Rahel Jaeggis Arbeit zur Entfremdung und auf Terry Eagletons Konsumkritik ein.

Uhle gelingt ein tiefgreifendes philosophisches Porträt des heutigen Menschen und all dessen, was einem sinnerfüllten Leben im Wege steht – etwa die Vereinsamung.

Wieso wir uns manchmal leer fühlen

Aber der Autor will noch mehr: „Ich möchte eine inhaltlich überzeugende Theorie des sinnvollen Lebens entfalten“, schreibt er. Seine Theorie ist pluralistisch – für Uhle gibt es nicht den einen Lebenszweck, sondern einen Reichtum an sinnstiftenden Aktivitäten und Werten. Der Autor zählt auf: „Sinn durch wertvolle Ziele, Sinn durch Hoffnung, Sinn durch spielerische Hingabe, Sinn durch leibliche Verbundenheit“. Uhle geht auch auf andere Quellen des Lebenszwecks ein; die meisten von ihnen schöpfen sich aus starken, gesunden Beziehungen zu den Mitmenschen.

Obwohl der Autor bisweilen unnötig weit ausholt und sein Buch von strategischem Kürzen profitiert hätte, ist es eine wertvolle Lektüre. Denn Uhle führt uns unter anderem vor Augen, wieso wir uns bisweilen leer fühlen und etwas vermissen, ohne recht zu wissen, was es ist. Sein Buch hilft, dem eigenen Lebenszweck nachzuspüren – und der sinnskeptischen Leserschaft, die eigenen Prioritäten und Werte in Worte zu fassen.

An dieser Stelle bietet 4000 Wochen des britischen Journalisten und Schriftstellers Oliver Burkeman einen nützlichen Ansatzpunkt. Rund 4000 Wochen dauert das menschliche Leben, genauer: das Leben einer 80-Jährigen. Ging es in Uhles Buch darum, trotz der Flüchtigkeit des Daseins einen Sinn zu finden, beschäftigt sich Burkemans Buch damit, diesen zu leben. Unsere Zeit sollte dabei nicht effizient, sondern reflektiert strukturiert sein.

Prokrastinieren gegen die Macht der To-do-Listen

Der Autor entlarvt uns als Sklaven und Sklavinnen unserer To-do-Listen: Wir gehen den meisten Dingen nicht deshalb nach, weil sie für uns bedeutend und sinnstiftend sind – sondern weil wir sie für obligatorisch halten. Schließlich haben sie es in unseren Kalender geschafft. Burkeman ruft dazu auf, Zeitpläne und Aufgabenlisten nicht blind abzuarbeiten. Stattdessen lädt er die Leserinnen und Leser ein, innezuhalten – und gar zu prokrastinieren.

„Der gute Prokrastinierer akzeptiert die Tatsache, dass er nicht alles erledigen kann, und entscheidet dann so klug wie möglich, auf welche Aufgaben er sich konzentriert und welche er vernachlässigt“, so der Autor. Das bedeutet auch, dem unangenehmen Gefühl zu widerstehen, man sei unproduktiv – und auf den kurzen Rausch zu verzichten, den uns eine abgearbeitete To-do-Liste bereitet.

Denn diese kurze Begeisterung kann laut Burkeman weder den Seelenfrieden in unserem Alltag noch einen tieferen Sinn ersetzen. Er schlägt zehn Schritte für einen bewussteren Umgang mit der Zeit vor. So lautet etwa Nummer drei: „Entscheiden Sie im Voraus, wo Sie scheitern werden.“ Die strategische Minderleistung in einigen Bereichen werde, so Burkeman, nicht nur die Zeit, sondern auch die Energie freisetzen, die wir für all das verwenden können, was uns wirklich am Herzen liegt.

Das japanische Konzept „Nagomi“ steht für die Suche nach Harmonie

Allerdings ist die Entscheidung für ein bewusstes teilweises Scheitern – auf welchem Gebiet auch immer – zunächst ein nervenaufreibendes Unterfangen angesichts unserer auf Leistung getrimmten Gesellschaft. Hier kann das Buch Nagomi des japanischen Neurowissenschaftlers Ken Mogi weiterhelfen. „Nagomi“ ist ein japanisches Konzept, das sämtliche Lebensbereiche um­fasst – vom Kochen bis zur Politik. Dabei geht es vornehmlich darum, im Alltag stets Gleichgewicht und Harmonie zu suchen – von ausgewogener Ernährung über Dialogfähigkeit zur Achtung der Bedürfnisse anderer Menschen wie der eigenen.

Mogis leichte Lektüre fördert die innere Ruhe – und kann damit jenen guttun, die Burkemans Schritte umsetzen möchten, um sich im Alltag die Zeit und den Raum für sinnstiftende Aktivitäten zu schaffen. Und seiner sinn­skeptischen Leserschaft kann Nagomi eine Alternative bieten: statt eines tieferen Lebenssinns einen ausgeglicheneren und gesünderen Alltag.

Christian Uhle: Wozu das alles? Eine philosophische Reise zum Sinn des Lebens. S. Fischer 2022, 496 S., € 26,–

Oliver Burkeman: 4000 Wochen. Das Leben ist zu kurz für Zeitmanagement. Aus dem Englischen von Heide Lutosch und Henning Dedekind. Piper 2022, 304 S., € 22,–

Ken Mogi: Nagomi. Der japanische Weg zu Harmonie und Lebensfreude. Aus dem Amerikanischen von Petra Huber und Sara Riffel. DuMont 2022, 176 S., € 20,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2023: Woher weiß ich, wer du bist?
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