Frau Stahl, woran erkenne ich, ob mein Partner, meine Partnerin unter Bindungsangst leidet?
Wir können zwischen aktiven und passiven Bindungsängsten unterscheiden. Aktiv Bindungsängstliche stellen Distanz zum Partner her, indem sie wenig Zeit haben, sexuell lustlos sind, persönliche Gespräche vermeiden, Verabredungen blockieren und so weiter. Der passiv Bindungsängstliche will den aktiv Flüchtenden unbedingt einfangen. Er ist häufig verzweifelt, weil der aktiv Bindungsängstliche sich nicht wirklich auf die P…
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unbedingt einfangen. Er ist häufig verzweifelt, weil der aktiv Bindungsängstliche sich nicht wirklich auf die Partnerschaft einlässt. Er ist wie besessen von dem Wunsch, den Näheflüchter fest an sich zu binden.
Die Rollen, welcher Partner flüchtet und welcher hinterherrennt, können jedoch innerhalb einer Partnerschaft oder zwischen den Partnerschaften wechseln. So hört man oft von bindungsängstlichen Frauen und Männern, dass sie besonders an Partnern interessiert sind, die nicht leicht zu haben sind, während sie jene, die etwas von ihnen wollen, eher etwas langweilig finden. Im Klartext heißt das, dass Bindungsängstliche immer dann am leidenschaftlichsten verliebt sind, wenn ihnen ein Partner nicht ganz sicher ist. Ist er hingegen um sie bemüht, flüchten sie.
Welche Folgen hat es für Frauen und Männer, die in einer Partnerschaft mit einem aktiv Bindungsängstlichen leben?
Die passiv bindungsängstlichen Partner, häufiger übrigens Frauen als Männer, fühlen sich ohnmächtig und abhängig. Weil sie das Verhalten des anderen – mal will er sie haben und dann auch wieder nicht – nicht verstehen, erleben sie starken emotionalen Kontrollverlust: Der passive Partner kann jammern, klammern, drohen oder toben – der aktiv Bindungsängstliche ändert sein Verhalten nicht. Im Gegenteil: Je mehr der Partner hinter ihm herläuft, desto stärker fühlt er sich unter Druck gesetzt. Dieser Druck erstickt seine Liebesgefühle für den Partner, und irgendwann macht er Schluss.
Obwohl sie leiden, fällt es betroffenen Partnern oft schwer, sich aus solchen Beziehungen zu lösen. Was sind die Gründe?
Die Partner fühlen sich extrem verliebt und sind geradezu süchtig nach dem Bindungsängstlichen. Gerade, weil dieser sich immer wieder entzieht, löst dies eine enorme Sogwirkung aus. Die Angst, den Bindungsängstlichen zu verlieren, wird von den passiven Partnern mit der großen Liebe verwechselt. Tatsächlich sind es das ständige Achterbahnfahren und der hohe Adrenalinpegel, der die Partner so leidenschaftlich macht.
Hinter ihren scheinbar so großen Gefühlen verbirgt sich aber ein ganz anderes Problem, das die passiven Partner selbst zumeist nicht durchschauen: Die Zurückweisungen des Bindungsängstlichen fügen ihrem Selbstwertgefühl tiefe Wunden zu. Ihr größter Wunsch ist, dass der aktiv Flüchtende, der ihnen die Wunden zugefügt hat, in Personalunion auch der Arzt sein soll, der sie ihnen verbindet. Das heißt, er soll sich endlich zu seinen großen Gefühlen und seiner großen Liebe zu ihnen bekennen, dann wäre alles wieder gut. Und mit dieser Lösungsfantasie hängen die passiv Bindungsängstlichen hilflos an der Angel.
Im Grunde genommen geht es nicht wirklich um den fliehenden Partner, sondern um das eigene angeschlagene Selbstwertgefühl. Aber die scheinbar so großen Liebesgefühle und die unkrautartige Hoffnung, es möge doch noch alles gut werden, verstellen den verzweifelten Partnern den Blick auf diese Erkenntnis.
Viele bezeichnen den Bindungsängstlichen als ihren „Traummann“ oder ihre „Traumfrau“. Wie ist das bei all dem Leid, das Bindungsängstliche verursachen, zu erklären?
Die liebeskranken Partner neigen dazu, ihr Zielobjekt total zu verklären. Natürlich haben die aktiv flüchtenden Partner auch gute und begehrenswerte Eigenschaften, bindungsängstliche Männer und Frauen sind oft ganz „coole Typen“. Aber ihre Bindungsangst verleitet sie immer wieder zu schier unerträglichen Distanzmanövern. Um sich ihre anklammernden Partner vom Leib zu halten, können sie zu recht drastischen Maßnahmen greifen. Sie entziehen sich, eiern herum, sind unzuverlässig, lassen den Partner auflaufen, gehen fremd, brechen Streit vom Zaun, beleidigen den Partner und so weiter.
Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele Unverschämtheiten sich die verzweifelten Partner bieten lassen und immer noch meinen, der Bindungsängstliche sei „die letzte Cola in der Wüste“. Der Grund ist, dass die verzweifelten Partner im Innersten überzeugt sind, es sei ihre Schuld, dass der andere sich nicht bindet. Wären sie nur schöner, klüger und besser, dann würde der Bindungsängstliche sich zu ihnen und der Beziehung bekennen.
Der aktiv Bindungsängstliche ist der Stärkere, er steht in den Augen der Partner über ihnen, quasi auf dem Podest. Würde er ihnen hingegen zu Füßen liegen, dann veränderte sich die Perspektive drastisch: Nun könnten sie etwas auf ihn herunterschauen und fänden ihn vielleicht gar nicht mehr so interessant.
Sie schreiben, dass die scheinbaren Opfer von aktiven Bindungsphobikern oftmals aufgrund eigener Bindungsangst in der Beziehung bleiben. Wie ist das zu verstehen?
Im Kern dreht sich Bindungsangst um die Frage: Kann ich unter der Bedingung, dass ich authentisch bin, geliebt werden? Bindungsängstliche haben in engen Beziehungen schnell das Gefühl, dass sie sich quasi verbiegen, dass sie nicht ganz sie selbst sind. Sie formulieren auch häufig, dass sie sich in einer Beziehung selbst verlieren.
So richtig frei und authentisch fühlen sie sich nur, wenn der Partner nicht in der Nähe ist. Dies ist so, weil sie nur unter der Bedingung, ganz sie selbst zu sein, Angst haben, zurückgewiesen zu werden. Solange der Partner sich jedoch noch nicht richtig auf die Beziehung zu ihnen eingelassen hat, verspüren sie diese Angst und diesen Anpassungsdruck nicht. Dann sind sie nur damit beschäftigt, den anderen einzufangen. Deswegen verhindert die Jagd auf einen aktiv Bindungsängstlichen das Zustandekommen echter Nähe. Es schützt die Betroffenen davor, sich in einer nahen und verbindlichen Beziehung ausgeliefert und verletzlich zu fühlen.
Wie kann ich feststellen, ob ich selbst Angst vor Nähe habe?
Es ist ja nicht in allen Fällen so, dass die Partner von aktiv Bindungsängstlichen selbst unter Bindungsangst leiden. Manche sind durchaus beziehungsfähig, geraten aber auch in den Sog des emotionalen Kontrollverlusts. Schließlich ist kein Mensch ganz frei von Selbstwertzweifeln. Wenn ich also herausfinden möchte, ob ich selbst unter passiver Bindungsangst leide oder nur an den falschen Partner geraten bin, dann sollte ich meine bisherigen Beziehungen genauer unter die Lupe nehmen.
Ich sollte analysieren, ob nicht auch schon in früheren Beziehungen immer ein gewisser Höhenunterschied zwischen mir und meinem Partner bestand: Lief ich dem anderen hinterher oder hielt ich eher Distanz? Oder kann ich eine längere Beziehung vorweisen, in der ich und mein Partner auf Augenhöhe waren, wo ein offener Austausch bestand und auch die Sexualität im Fluss war? Wenn Letzteres der Fall ist, stehen die Chancen gut, dass man nicht unter Bindungsangst leidet.
Wenn ich versuche, unbedingt mehr Sicherheit von meinem bindungsängstlichen Partner zu bekommen, schlage ich ihn erst recht in die Flucht. Richtig?
Ja, genau –der Bindungsängstliche will ja gerade nicht eingefangen werden, das ist ja sein Problem. Je mehr der Partner also an ihm herumschraubt, um ihn beziehungsfähig zu tunen, desto stärker fühlt sich der Bindungsängstliche manipuliert und unter Druck gesetzt. Hinzu kommt, dass sich die anklammernden Partner durch ihr Verhalten nicht gerade attraktiver machen.
Ein Leitsymptom von Bindungsangst ist ja, dass beim aktiv Flüchtenden die Liebe für den Partner stark nachlässt – in meinem Buch Vom Jein zum Ja! schreibe ich vom „plötzlichen Gefühlstod“. Während der Partner also an seiner leidenschaftlichen Liebe fast erstickt, zweifelt der Bindungsängstliche daran, ob er den Partner noch liebt. Und je mehr ihm der andere zu Füßen liegt und klammert, desto entspannter kann er sich zurücklehnen und sich überlegen, ob er den Partner überhaupt haben will. Macht der Partner sich hingegen rar oder gar Schluss, dann verspüren viele Bindungsängstliche plötzlich wieder intensive Gefühle für ihn.
Aber auch wenn sie selbst Schluss machen, stellt sich nach einer kurzen Zeit der Erleichterung das liebende Gefühl für den Partner häufig wieder ein. Sobald nämlich Schluss ist, fällt der Druck ab, und es gibt keinen Feind mehr, nun kann der Gegenspieler der Bindungsangst, – der Wunsch nach Nähe – wieder die Oberhand gewinnen.
Ist es überhaupt möglich, mit einem Menschen, der Angst vor Nähe hat, auf Dauer eine stabile Beziehung zu führen?
Sofern er seine Bindungsangst nicht in den Griff bekommt, wird die Beziehung mit ihm entweder früher oder später scheitern, oder sie entwickelt sich zu einer endlosen Achterbahnfahrt. Es gibt ja Paare, die nie voneinander loskommen und sich in Hass und Leidenschaft verstricken. Allerdings gibt es noch einen anderen Typus bindungsängstlicher Menschen, häufig Männer, mit denen die Beziehung in einem relativ ruhigen Fahrwasser verläuft.
Ich bezeichne diesen Typus gern als „Maurer“. Er hält Distanz, indem er sich in die Arbeit flüchtet, sich emotional wenig öffnet, wenig kompromissbereit ist und mehr oder minder stur sein eigenes Ding macht. Dieser Typ ist nicht selten in Ehen oder Dauerbeziehungen anzutreffen. Man könnte ihn auch als „passiv-aggressiven Stoffel“ bezeichnen, an dem sich die Partnerin die Zähne ausbeißen kann. Es gibt aber auch Frauen mit diesem Verhaltensmuster.
Was raten Sie Menschen, die in einer Partnerschaft mit einem Bindungsängstlichen festsitzen?
Festsitzen bedeutet: Der aktiv bindungsängstliche Partner ist nicht bereit, an seinem Problem zu arbeiten – entweder weil er kein Problem bei sich wahrnimmt oder weil er sich nicht verändern will. Wenn man dennoch bei ihm bleiben will, dann ist es unbedingt notwendig, wieder die Kontrolle über das eigene Leben zu erlangen. Hierfür kann es sehr hilfreich sein, sich die eigenen Anteile am Geschehen bewusstzumachen und an seinem Selbstwertgefühl zu arbeiten. Hierbei kann Ratgeberliteratur sehr hilfreich sein.
Somit bekommt die Energie eine neue Richtung: Anstatt dem Bindungsängstlichen hinterherzulaufen, konzentriert man sich auf seine persönliche Weiterentwicklung. Zudem rate ich den Partnern, sich auf Aktivitäten zu besinnen, die sie unabhängig vom Bindungsängstlichen glücklich machen. Es ist eine gute Idee, ein neues Hobby anzufangen oder ein altes zu vertiefen, eine berufliche Weiterbildung anzugehenoder sich vermehrt mit Freunden zu treffen. Die Betroffenen müssen lernen, sich selbst zu erfüllen und mehr ihre eigenen Wege zu gehen. Dies macht sie nicht nur psychisch stabiler, sondern auch attraktiver.
In welchen Fällen ist Trennung die einzig sinnvolle Lösung?
Wenn der aktiv Bindungsängstliche nicht bereit oder nicht in der Lage ist, sein Verhalten zu verändern, und man die Beziehungsqualität nicht hinnehmen kann. Für die leidenden Partner fühlt sich eine antizipierte Trennung häufig wie Sterben an. Aber ich kann Ihnen versichern: Es gibt ein Leben nach der Beziehung! Und sofern man an sich gearbeitet und sich ein wenig weiterentwickelt hat, wird das Leben nach der Beziehung auch schöner, als es vorher war.
Stefanie Stahl studierte Psychologie an der Universität Trier. Sie ist Bestsellerautorin (Jein! Bindungsängste erkennen und bewältigen, Ellert & Richter 2013; Vom Jein zum Ja! Bindungsangst verstehen und lösen, Ellert & Richter 2014) und arbeitet als Psychotherapeutin in eigener Praxis in Trier.