PSYCHOLOGIE HEUTE Frau Quindeau, schaffen wir in den westlichen Kulturen gerade in sexueller Hinsicht die beiden Geschlechter ab?
ILKA QUINDEAU Abgeschafft werden die Geschlechter natürlich nicht, aber die Geschlechterspannung ist in der Sexualität weniger auf Männer und Frauen verteilt, sondern spielt sich vielmehr innerhalb jedes Mannes und jeder Frau ab. Dies liegt daran, dass Männlichkeit und Weiblichkeit sich nicht so diametral gegenüberstehen, wie es oft den Anschein hat. Vielmehr finden sich in jedem…
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sich nicht so diametral gegenüberstehen, wie es oft den Anschein hat. Vielmehr finden sich in jedem Menschen männliche und weibliche Anteile und damit ein ganzes Spektrum an geschlechtlichen Identifizierungen.
PH Heißt das, dass die Polarisierung eines weiblichen und eines männlichen Geschlechts der Vielfalt sexuellen Erlebens heute nicht mehr angemessen ist?
QUINDEAU Genau. Die Lust- und Befriedigungsmodalitäten lassen sich nicht einfach entlang der Geschlechtergrenzen aufteilen. In der Sexualität spielt die Fantasie eine zentrale Rolle, und die Befriedigungsformen sind nicht von der Anatomie der Genitalien vorgegeben. Konkret heißt das, dass Penetration etwa keine reine Männersache ist. Sie ist nicht an den Penis gebunden, sondern andere Körperteile wie etwa Finger und Hände können diese Funktion auch erfüllen. Das ist nun keine umwerfend neue Erkenntnis, sondern wird in den Liebesspielen von Paaren schon immer praktiziert. Aber in der Theorie macht man sich das oft zu wenig klar und konzipiert das Penetrieren als „männlich“ und das Aufnehmen als „weiblich“, anstatt beides zusammen in jeder Person anzusiedeln.
PH Bei aufgeweichten Rollenmustern heißt das auch, dass jene Anteile in uns aufscheinen, die traditionell dem anderen Geschlecht zugeschrieben werden. Männer tun sich beispielsweise schwer damit, eine passive, „weibliche“, nehmende Sexualität zu leben – das Bild vom sexuellen Draufgänger erzeugt gerade für diese Männer viel inneren Druck.
QUINDEAU Ich glaube, dass es schon viel Druck nähme, wenn wir anerkennen würden, dass wir über widersprechende Bedürfnisse und Regungen verfügen. Häufig versuchen wir jedoch den Widerspruch aufzulösen und Eindeutigkeit herzustellen, indem wir die eine der beiden Seiten dem jeweils anderen Geschlecht zuschreiben. Doch gibt es bei beiden Geschlechtern den Anteil, der nach Unabhängigkeit und Macht strebt. Und es gibt jenen Anteil, der nach Unterwerfung verlangt. Auch heterosexuelle Männer haben ein Bedürfnis, penetriert zu werden, gestehen sich das aber oft nicht ein, weil sie es für schwul halten.
PH Und für eine Frau ist es schwer, einem Mann zu signalisieren, dass sie die aktivere sein möchte, dass sie sexuell etwas will. „Ich bin geil“ oder „Heute möchte ich dich gerne richtig ficken“ kommt wohl nur wenigen Frauen über die Lippen.
QUINDEAU Das hat natürlich viel mit Rollenerwartungen zu tun. Aber es stimmt, Frauen trauen sich das oft nicht. Ich kenne das aus vielen Therapien. Auch Frauen, die nicht den traditionellen Geschlechterrollen entsprechen und etwa beruflich sehr erfolgreich sind und in vielen Bereichen selbstsicher, haben manchmal große Schwierigkeiten, ihrem Partner gegenüber ihre Bedürfnisse zu formulieren.
PH Die Offenheit der Geschlechterrollen macht also manchmal auch Angst, zum Beispiel dabei, wie wir uns dem anderen Geschlecht sexuell nähern sollen.
QUINDEAU Die traditionellen Geschlechterrollen geben natürlich viel Sicherheit und Orientierung. Ich glaube, dass gerade im sexuellen Bereich die alten Muster noch sehr stark dominieren. Wir greifen auf sie zurück, weil wir den Wunsch haben, eine „richtige“ Frau oder ein „richtiger“ Mann zu sein. Gerade in diesem Punkt haben wir große Angst zu versagen und verhalten uns rollenkonformer als auf anderen Gebieten. Damit schränken wir jedoch die Möglichkeiten des sexuellen Erlebens empfindlich ein.
PH Sie ermuntern Männer und Frauen eher zum Experimentieren jenseits der Rollenklischees?
QUINDEAU Es geht erst mal darum, die verschiedenen Seiten überhaupt in sich wahrzunehmen und zu enge Erwartungen dem anderen und sich selbst gegenüber zurückzunehmen. Bildlich gesprochen ließe sich empfehlen, sich zurückzulehnen, abzuwarten und auszuprobieren. Durch die Geschlechternormen geraten wir schnell in eine Überforderung. Und Überforderungsgefühle schränken uns ein. Eine befriedigende Sexualität für beide braucht Zeit. Und wer sich Zeit nimmt, kann das, was da kommen mag, sich erst einmal entwickeln lassen. So geht es in Therapien etwa darum, die verpönten Anteile denkbar und aussprechbar zu machen. Bei Männern kann beispielsweise die entwertende und zugleich leidvolle Vorstellung bearbeitet werden, als Schwächling oder „Schwuler“ zu gelten, wenn er eher die passive Seite in der Sexualität sucht. Das haben immer noch viele Männer im Kopf.
PH Sie plädieren ebenfalls dafür – und da stehen Sie konträr fast zur gesamten psychoanalytischen Tradition –, therapeutisch bei Männern nicht etwa unter allen Umständen die aktiven, „aggressiven“ Anteile zu bekräftigen, sondern die passiven akzeptier- und damit lebbar zu machen.
QUINDEAU Ja, bis heute geht man davon aus, dass Erektionsstörungen, die vor hundert Jahren noch einer der wesentlichsten Gründe waren, warum Männer eine Psychoanalyse machten, bedingt sind durch einen Mangel an Phallizität und Aggression. Ich glaube nicht, dass das der Fall ist. Heute sind diese Störungen kaum noch ein Grund für die Aufnahme einer Psychotherapie, da die betroffenen Männer eher Viagra nehmen, aber das löst natürlich das Problem nicht. Doch gibt es immer wieder Analysen, in denen diese Problematik erst mal beiläufig auftaucht. Und dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass es eben nicht die phallischen, aggressiven Anteile sind, die diesen Männern fehlen, sondern gerade umgekehrt machten ihnen die passiven, rezeptiven Strebungen zu viel Angst. Häufig ist diese Angst den Männern allerdings nicht bewusst. Sie kann traumatisch bedingt sein oder auch mit frühen Beziehungserfahrungen zusammenhängen. Besonders problematisch ist jedoch, dass diese Abwehr von Rezeptivität und Passivität genau den Geschlechternormen und dem männlichen Selbstverständnis entspricht. Dies macht die Bearbeitung und Veränderung so schwierig. Pointiert könnte man sagen, dass die Sexualität von heterosexuellen Männern durch die Geschlechternormen gleichsam halbiert ist. Denn all unsere sexuellen Wünsche treten in einer aktiven und einer passiven Variante auf. Während es den Frauen in den letzten Jahrzehnten gelungen ist, auch ihre aktiven Bedürfnisse im Bett zu behaupten, steht es bei Männern größtenteils noch aus, ihren passiven Anteilen Raum zu geben.
PH Wünschen sich Frauen denn passive Männer?
QUINDEAU Das wäre ein ziemliches Missverständnis: Wenn man seinen passiven Wünschen Raum gibt, bedeutet dies keineswegs, sich passiv verhalten zu müssen. Es geht vielmehr darum, das ganze Spektrum der eigenen sexuellen Wünsche zuzulassen und sich nicht auf diejenigen zu beschränken, die mit den Geschlechternormen übereinstimmen. Viele Männer glauben, dass ihr sexuelles Erleben allein vom äußeren Teil des Penis abhängt, und machen sich zu wenig klar, dass er sich in den inneren Bauchraum hinein fortsetzt und mit inneren Muskeln wie dem Beckenboden und Organen wie der Prostata verbunden ist. Auch beim Genitale des Mannes verbinden sich also äußere und innere Strukturen. So gehen wie bei der Frau besonders intensive sexuelle Gefühle auch vom Perineum, der Dammregion – in diesem Fall zwischen Anus und Hoden – aus. Häufig werden diese intensiven Gefühle allerdings als bedrohlich erlebt, das erregende Körperinnere wird abgespalten und auf die Frau projiziert. Es klingt vielleicht paradox, aber durch die Fixierung auf den Penis schränken viele Männer ihre sexuelle Erlebnisfähigkeit ein.
PH Diese Einschränkungen zeigen sich im Erleben. Das Verhalten scheint dagegen doch zunehmend bunter zu werden. Das heißt: Es wird immer „privater“, wie wir Sexualität leben. Die Paare legen das allein fest.
QUINDEAU Nachdem der Einfluss von traditionell normsetzenden Instanzen wie der Religion in modernen Gesellschaften geschwunden ist und sie die Sexualität nicht mehr für jeden Einzelnen festlegen, kann nun jedes Paar selbst entscheiden, was sexuell passieren soll. Das ist auf der einen Seite ein großer Freiheitsgewinn, auf der anderen Seite stellt es aber auch eine hohe Anforderung dar, weil alles ausgehandelt werden muss. Dieser permanente Druck, verhandeln zu müssen und Entscheidungen zu treffen, besteht mittlerweile in fast allen Lebensbereichen und kann auch zum Problem werden. Die Überforderung, die daraus entsteht, wird inzwischen nicht zuletzt für die weltweite Zunahme von Depressionen verantwortlich gemacht.
PH Massenmedial ist in den letzten Jahren zu beobachten, dass Pornografie für Frauen bis hin zur sadistischen Ausrichtung „salonfähig“ ist – ein reiner Medieneffekt? Oder welche Bedürfnisse von Frauen stehen dahinter?
QUINDEAU Nachdem der Erotikbestseller Shades of Grey nun auch verfilmt wird, kann man wohl von einem großen Interesse ausgehen. Es lässt sich daran sehen, dass sich Frauen über diesen Anteil der eigenen Sexualität bewusst werden und sich damit jetzt auch in die Öffentlichkeit trauen. Sadomasochistische Fantasien gab es immer schon, neu ist lediglich ihre massenmediale Inszenierung.
Schaut man allerdings genauer hin, muss man feststellen, dass viele dieser Bücher oder Filme völlig konservativ sind. Das traditionelle Geschlechterverhältnis steht nicht infrage, sondern wird eher noch verfestigt. Das kommt alles sehr liberal daher, aber Macht und Unterwerfung sind wie immer zwischen Männern und Frauen verteilt. Es kommt nicht einmal zu einer spielerischen Umkehrung.
PH Mit dem Internet wird die Bedeutung medialer Vermittlung von Sexualität noch präsenter. Bilder von Geschlechtsverkehr sind allzeit verfügbar – schon im Kinderzimmer.
QUINDEAU Damit das nicht passiert, ist es dringend notwendig, die Kinder mit dem Computer nicht allein zu lassen. Man sollte als Eltern sofort mit ihnen reden, wenn Kinder auf solche Seiten stoßen. Allerdings ohne Panik zu verbreiten, denn Kinder verstehen solche Bilder – abhängig vom jeweiligen Entwicklungsstand ihrer infantilen Sexualität – anders als die Erwachsenen mit ihrer genitalen Sexualität. Diese Differenz muss man sich bewusstmachen. Kennzeichnend für die kindliche Sexualität ist auch die sexuelle Neugier, die man bisher von Doktorspielen kannte. Ein Teil dieser Neugier wird heute sicher auch im Netz befriedigt. Das lässt sich ab einem bestimmten Alter wohl kaum verhindern, und vermutlich wäre eine solche Kontrolle auch eher schädlich für die kindliche Entwicklung. Die Frage, die sich allerdings dabei stellt, ist: Was bedeutet es für Kinder, wenn sie schon vor der Adoleszenz solche Seherfahrungen machen? Was bedeutet dies für ihre späteren sexuellen Erfahrungen?
Ich glaube, dass die meisten Jugendlichen sehr schnell merken, dass ihre eigenen Erfahrungen wenig mit dem im Netz Dargestellten gemeinsam haben. Diese Jugendlichen wissen sehr genau, dass das, was sie mit den ersten Sexualpartnern tun, anders ablaufen wird als in den Filmen. Jede Generation lernt, differenziert mit dem Medienangebot ihrer Zeit umzugehen, auch kritisch. Dass da etwas stilisiert wird, ist den jungen Menschen durchaus bewusst. Kaum jemand glaubt, etwas Gesehenes eins zu eins umsetzen zu müssen.
PH Das ist eine optimistische Sichtweise.
QUINDEAU Vielleicht. Es gibt sicher einen, wenn auch sehr kleinen Anteil an gefährdeten Jugendlichen, für die Pornografie oder Gewaltdarstellungen sehr problematisch sind. In der Rezeptionsforschung herrscht keine Einigkeit. Während in den letzten Jahrzehnten die Ansicht vorherrschte, dass es keinen Zusammenhang zwischen der medialen Rezeption und der real verübten Gewalt gibt, wird gegenwärtig wieder das Gegenteil behauptet. Methodisch scheinen mir solche Wirkungsforschungen nicht wirklich überzeugend. Doch wird das Aggressionspotenzial mancher Jugendlicher nicht erst von Filmen erzeugt, sondern von den oft traumatischen gewalttätigen Erfahrungen, denen sie im realen Leben in ihren Familien oder durch Krieg und Verfolgung ausgesetzt waren. Das Problem ist also komplexer und lässt sich nicht auf die Gewaltpornografie im Netz reduzieren.
PH Wir können ja inzwischen eine Art vorgezogener Pubertät beobachten. Es gibt eine kleine Gruppe Jugendlicher, die schon mit zwölf, dreizehn Jahren die ersten sexuellen Erfahrungen machen, bis hin zum Koitus. Bis vor wenigen Jahrzehnten war das beinahe völlig undenkbar.
QUINDEAU Wir haben es heute mit sehr verschiedenen Gruppen von Jugendlichen zu tun. Es gibt auf der einen Seite jene, die Sie nennen, und es gibt auf der anderen Seite aber auch vermehrt Jugendliche, die mit ihren ersten sexuellen Erfahrungen noch warten wollen. Das heißt, manche Kinder und Jugendliche treten heute viel eher, einige aber auch deutlich später in eine aktive partnerbezogene Sexualität ein als noch vor einigen Jahren. Ich könnte mir vorstellen, dass beide Formen mit der hohen Sexualisierung unserer Gesellschaft zu tun haben. Sie weckt einerseits die Neugier, fördert andererseits aber auch Angst oder das Gefühl von Überforderung. Gerade die frühen Erfahrungen zeigen, dass eine rechtzeitige Aufklärung durch Eltern und Schule nötig ist. Kinder und Jugendliche dürfen damit nicht allein gelassen werden.
PH Was sagen Sie zur Einbeziehung von Jugendlichen oder sogar Kindern in die Sexualität Erwachsener? Gerade die Psychoanalyse schreibt, etwa ausgehend von der Säuglingsforschung, Kindern schon früh einen aktiven Part bei der Gestaltung intimer Beziehungen zu Erwachsenen zu, insbesondere natürlich den Eltern gegenüber.
QUINDEAU Während der sogenannte homologe Ansatz in den Sexualwissenschaften davon ausgeht, dass kindliche Sexualität nicht grundsätzlich anders abläuft als die von Erwachsenen, begründet die Psychoanalyse einen heterologen Ansatz und betont, dass die Bedeutungen der sexuellen Handlungen für Kinder und Erwachsene gravierende Unterschiede aufweisen. Was Sexualität meint und ausmacht, ist jeweils abhängig vom Entwicklungsstand. Und da Kinder auf den Schutz der Erwachsenen angewiesen sind, verbietet es sich ganz von selbst, dass Erwachsene mit Kindern Sex haben. Es gibt keinerlei Zweifel daran, dass sexuelle Übergriffe die kindliche Entwicklung tiefgreifend schädigen. Die Grenzen zwischen den Generationen müssen stets gewahrt werden.
Ilka Quindeau ist Psychoanalytikerin in eigener Praxis und Professorin für Klinische Psychologie und Psychoanalyse an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Aktuelle Veröffentlichungen: Sexualität. Psychosozial, Gießen 2014. – Männlichkeiten. Wie weibliche und männliche Psychoanalytiker Jungen und Männer behandeln (zusammen mit Frank Dammasch). Klett- Cotta, Stuttgart (erscheint im Mai 2014).